Sonntag, 22. Dezember 2019

Helga Flatland: Eine moderne Familie

Quelle: Pixabay/eommina
Norwegen war in diesem Jahr das Partnerland der Frankfurter Buchmesse. Wie zu erwarten ist der Buchmarkt daher mit vielen Veröffentlichungen norwegischer Autoren geflutet worden. Viele haben gejubelt. Ich nicht. Denn ich werde mit der norwegischen Literatur einfach nicht warm. Und ich versuche es seit Jahren. So auch in diesem mal wieder. Nach mehreren Enttäuschungen bzw. mittelmäßigen Leseerlebnissen, bin ich nun endlich auf den einen Roman gestoßen, der mich mit allem versöhnt, was ich bisher aus Norwegen gelesen habe. Mein persönlicher Gral unter den modernen norwegischen Romanen ist für mich "Eine moderne Familie" von Helga Flatland.

Dieser Roman ist weder reißerisch noch spektakulär, weder spannend, noch beschäftigt er sich mit abstrusen Problemen der Protagonisten, die fernab jeglicher Realität sind (die Probleme, nicht die Protagonisten).
Nein, er ist wohltuend unspektakulär. Ein Roman, der aus dem Leben gegriffen ist. Denn hier geht es um - wie der Buchtitel schon sagt - eine modernen Familie.

Wobei ... einen spektakulären Aspekt gibt es: gleich am Anfang eröffnen die, seit über 40 Jahren verheirateten Eltern ihren erwachsenen Kindern bei einem gemeinsamen Urlaub anlässlich des 70. Geburtstags des Vaters, dass sie sich trennen werden.
"'Es ist eine wohlüberlegte Entscheidung. Wir haben beide ein Gefühl von Leere, daß wir aus einander und aus dieser Ehe alles herausgeholt haben, was möglich war. ... Wir sehen im anderen keine Zukunft mehr.'"

Quelle: Weidle
Der Roman beginnt also mit einem Paukenschlag. Nun sollte man meinen, dass mit dem, was folgt, genüsslich auf die Ehe der beiden Eltern eingegangen wird bzw. auf die Entwicklung der Beziehung des Ehepaares. Schließlich will man doch wissen, was die Beiden dazu getrieben hat, ihre 40-jährige Ehe ad acta zu legen. Jeder andere Familienroman hätte sich mit der Beantwortung dieser Frage befasst. Amerikanische Autoren sind z. B. ganz groß in der Abhandlung dieser Thematik. Aber die Norwegerin Helga Flatland konzentriert sich in dem, was nach dem Paukenschlag kommt, auf die anderen Familienmitglieder: Zwei Töchter, Liv und Ellen sowie Håkon, der Sohn. Hier geht es also um die "Scheidungskinder" - auch wenn diese schon erwachsen sind und eigene Familie bzw. Partner haben.
Diese drei Charaktere gehen unterschiedlich mit der Ankündigung ihrer Eltern um.
Liv, die Älteste, selbst Mutter von 2 Kindern, glücklich verheiratet, kommt am wenigsten damit zurecht. Sie empfindet die Trennung ihrer Eltern als persönlichen Angriff auf ihr eigenes Lebensmodell, welches sie dem ihrer Eltern nachempfunden hat: Die Familie steht im Mittelpunkt des Lebens und gibt gleichzeitig den Rahmen vor, innerhalb dessen man sein Leben gestaltet.
"'Wir hören nicht auf, ohne es zu Ende zu bringen, wie viele Male habt ihr nicht Varianten dieses Ausspruchs von sowohl Mama als auch Papa gehört? Aber selbst geben sie einfach auf, auf der Zielgeraden - schmeißen alles über Bord, wofür sie gestanden haben, was sie gepredigt und hervorgebracht haben. Doch, das ist falsch, und es ist ein Verrat an uns, die wir sie ernst genommen haben, die zugehört und tatsächlich versucht haben, nach den Werten, die sie uns ständig einbleuten, zu leben.'"
Ellen hingegen reagiert mit Unverständnis und Zorn. Doch eigentlich ist sie zornig auf sich selbst, da sie als Frau versagt (ihre Gedanken). Denn Ellen versucht mit ihrem Lebensgefährten Nachwuchs zu bekommen. Scheinbar strebt sie ebenfalls das Lebensmodell ihrer Eltern an. Sie scheint aus ihrer Erziehung mitgenommen zu haben, dass zum Leben Kinder dazugehören bzw. Kinder erst eine Beziehung komplett machen. Dass ihre Beziehung zu ihrem Partner kinderlos bleibt, empfindet sie als persönliches Versagen. Dieser Gedanke zerrüttet sie. Obwohl Ellen eine moderne und selbstbewusste Frau ist, nimmt sie es als selbstverständlich, dass frau sich hautsächlich über die Mutterrolle definiert.
Dann haben wir noch den "Kleinen", Håkon, der eine monogame Partnerschaft ablehnt und sich dem traditionellen Familienbild gegenüber verweigert. Er will sich nicht binden, denn eine Bindung versteht er als Fremdbestimmung, die seinen Freigeist einschränkt. Er ist quasi der Hippie-Typ, der freie Liebe und Selbstverwirklichung predigt.

Der Roman behandelt die Jahre nach der unglaublichen Veröffentlichung der Eltern und konzentriert sich dabei auf die Kinder, die sich langsam mit der Trennung ihrer Eltern arrangieren. 
Die Erzählperspektiven wechseln innerhalb der drei Kinder. Dadurch gewinnen wir einen Eindruck, wie unterschiedlich man "Familie" betrachten kann.
Die drei Charaktere versuchen, ihren eigenen Begriff von Familie zu leben: Liv, die als Muttertier nach Perfektion strebt; Ellen, die unbedingt Muttertier sein möchte; Håkon, der sich selbst als Familie genug ist. Ob alles so läuft, wie sie es sich vorstellen? Wohl kaum.

Was mich an dem Buch gefesselt hat, waren die unterschiedlichen Perspektiven, aus denen man eine Familie betrachten kann. Hier wird das Thema "Familie" von allen Seiten beleuchtet. Soziologisch gesehen ist Familie nicht mehr als eine Lebensgemeinschaft, die auf verwandschaftlichen Verhältnissen beruht. Doch die Realität ist komplexer. Und die drei Trennungskinder dieser Familie zeigen, wie kompliziert "Familie" sein kann, und wie unterschiedlich "Familie" wahrgenommen wird.  

Helga Flatland spricht mir, einem Familienmenschen, damit aus der Seele und macht diesen Roman zu einem sehr persönlichen Roman. Ich bin begeistert!

© Renie


Sonntag, 8. Dezember 2019

Shobha Rao: Mädchen brennen heller

Quelle: Pixabay/dileepp89
Wer sich mit meinen Rezensionen beschäftigt, weiß, dass ich Bücher liebe, die mich in eine fremde Kultur entführen. Eine dieser Kulturen, die für mich jedoch bis jetzt völlig rätselhaft ist und vermutlich auch bleiben wird, ist die indische Kultur. Das liegt mit Sicherheit nicht an der Qualität der Bücher, die ich über Indien gelesen habe. Ganz im Gegenteil: ich habe schon viele indische Leseschätze entdeckt. Aber das Leben und der Alltag in Indien, der mir hier präsentiert wird, zeigt selten Gemeinsamkeiten mit dem europäischen Leben, also dem Leben wie ich es lebe. Ich schwanke häufig zwischen Faszination über Exotik und gleichzeitig Irritation über Schilderungen, die ich als indische Realität wahrnehme. Einer dieser Romane ist "Mädchen brennen heller" der indischen Autorin Shobha Rao. Man verstehe mich nicht falsch. Dieser Roman ist grandios geschrieben. Ich habe ihn verschlungen. Doch er verdeutlicht mir einmal mehr, dass ich wohl behütet inmitten einer Wohlstandskultur aufgewachsen bin, was man von den Protagonistinnen dieses Romans nicht behaupten kann.
In diesem Debütroman der jungen Autorin, die im Alter von 7 Jahren mit ihren Eltern von Indien nach Amerika ausgewandert ist, geht es um die Geschichte zweier Mädchen, deren Freundschaft den Rahmen für die eigentliche Handlung bildet.
Quelle: Elster und Salis
"Was für Idiotinnen wir doch alle sind. Wir Mädchen. Angst vor den verkehrten Sachen, zur verkehrten Zeit. Angst vor einem verbrannten Gesicht, wenn doch draußen, dort draußen, Feuer auf dich warten, die du dir gar nicht vorstellen kannst. Männer, die ein Zündholz an deine benzingetränkten Kleider halten. Flammen, Flammen rings um dich, die deine eben erst entstandenen Brüste auffressen, deinen eben erst blutenden Körper. Und Flammenmeere, weit wie die Welt. Die darauf warten, dich zu vernichten, dich zu Asche zu machen - und selbst der Wind, sogar der Wind, meine Kleine, schaut dir beim Brennen zu, will es, weht über dich hinweg und durch dich hindurch. Verstreut dich, weil du ein Mädchen bist und weil du Asche bist." 
"Mädchen brennen heller" ist ein moderner Roman. Er spielt in unserer Zeit. Kaum zu glauben. Denn eigentlich hätte diese Geschichte auch vor eingen Hundert Jahren passieren können.

Eines der Mädchen in diesem Roman ist Purnima, genannt Puri. Sie lebt als Älteste von 5 Geschwistern mit ihrer Familie in einem kleinen indischen Dorf. Die Familie ist arm, der Vater bestreitet den Unterhalt der Familie als Weber. Die Mutter ist vor einiger Zeit verstorben. Daher nimmt Puri die Funktion der Köchin, Putzfrau und Erzieherin der Kleinen im Haushalt ihres Vaters ein. Puri ist mit ihren 16 Jahren schon längst im heiratsfähigen Alter. Daher bietet ein Heiratsvermittler sie auf dem freien Heiratsmarkt zum Verkauf an. Nur dass derjenige, der sie nimmt, nicht für sie bezahlen muss. Nein, der potenzielle Ehemann kriegt nicht nur ein, hoffentlich in jeder Hinsicht williges Frauchen, das für sein Wohlbefinden und das seiner Familie sorgt. Er bekommt auch noch Geld dafür, dass er dem Vater der Braut, die Tochter abnimmt. Denn Frauen sind in diesen Gesellschaftsschichten Indiens eine Belastung. Sie sind wertlos, ein nutzloser Esser zuviel. Ein Vater ist froh, wenn er seine Tochter los ist, was er sich daher etwas kosten lassen muss. Als Ehemann wird mann dafür entschädigt, dass mann dem Schwiegervater die Belastung abnimmt. Und als Frau kommt frau vom Regen in die Traufe. War sie in Vaters Haushalt als Putzfrau und Köchin für Vaters Wohlbefinden zuständig - Misshandlungen inklusive - ist sie jetzt für das Wohlbefinden des Ehemanns und dessen Familie zuständig - ebenfalls Misshandlungen inklusive. Wenn der Vater dann noch seinen Zahlungsverpflichtungen gegenüber seinem Schwiegersohn nicht nachkommt, läuft es richtig mies für die Frau.
So geschehen bei Puri.
"Da lachte ihr Vater kurz auf. 'So ist das doch mit Mädchen, oder?', sagte er. 'Wann immer sie am Rand von irgendwas stehen, kannst du einfach nicht anders. Du denkst: Ein Stoß. Mehr bräuchte es nicht. Nur ein kleiner Stoß.'"
Doch für Puri lief nicht immer alles schlecht. In der Zeit vor ihrer Eheschließung lernt sie Savita kennen, die kurzzeitig für Puris Vater am Webstuhl arbeitet. Puri und Savita sind ungefähr im gleichen Alter. In kürzester Zeit entwickelt sich zwischen den beiden Mädchen eine zarte Freundschaft. Sie träumen gemeinsam von einem besseren Leben. Denn auch Savita kommt aus einer armen Familie, noch ärmer als die von Puri. Savita ist ganz anders als Puri. Sie ist selbstbewusster, wirkt unabhängiger, ist ein fröhlicher Mensch. Ein Stück weit gelingt es ihr, Puri mit ihrer Lebensfreude anzustecken. Doch der gemeinsame Weg der beiden Mädchen trennt sich nach kurzer Zeit. Sie verlieren sich aus den Augen. Beide werden vom Schicksal gebeutelt. An der Dominanz der Männer in ihrem Leben wird sich nichts ändern. Und wenn man als Leser glaubt, dass die beiden Mädchen bisher in ihrem Leben genug mitgemacht haben, wird man eines Besseren belehrt. Denn schlimmer geht in Indien scheinbar immer.
Die beiden Mädchen schildern ihren Weg unabhängig voneinander. Die Autorin Shobha  Rao widmet große Abschnitte dieses Romans dem jeweiligen Mädchen, in dem es sie erzählen lässt, was das Leben und insbesondere die Männer mit ihr machen. Der Alltag der Mädchen ist von Hilflosigkeit, Angst und Verzweiflung geprägt. In dieser patriarchalischen Gesellschaft ist ihr Leben keinen Pfifferling wert, und das bekommen sie in jeglicher Form zu spüren. Trotz aller Verzweiflung und Mutlosigkeit gibt es jedoch immer wieder den kleinen Funken Hoffnung, der durch die Erinnerung an die Momente der Freundschaft der beiden Mädchen aufblitzt. Man sollte meinen, dass diese Hoffnungsfunken die Mädchen am Leben halten, auch wenn sie keinerlei Kontakt mehr zueinander haben und auch nicht wissen, was aus der anderen geworden ist.
Puri ist diejenige, die die Kraft aufbringt, sich auf die Suche nach ihrer Freundin zu begeben. Eine Aufgabe, die unlösbar erscheint.

Die Hoffnungsschimmer, in Form der Freundschaft der beiden Mädchen machen dieses Buch zu etwas ganz Besonderem. Denn in dieser Geschichte wird dem Leser stellenweise harter Tobak geboten. Es werden Grausamkeiten geschildert, die fernab jeglicher Vorstellungskraft liegen. Und so, wie die beiden Mädchen diese Situationen, dank der Erinnerung an ihre Freundschaft, überstehen, nimmt man als Leser diese kleinen Momente der Hoffnung dankbar an. Denn sie werden mit einer Poesie geschildert, die sich wie Balsam auf die Leserseele legt.

Der Sprachstil von Shobha Rao ist über weite Strecken sehr gefällig und flüssig. Nichts, was den Leser großartig fordert. Wozu auch? Der Inhalt ist fordernd genug. Aber dennoch gibt es diese kleinen Momente im Text, die magisch sind. Hier ist ein Beispiel:
"Die Frau lächelte zurück. Und da - als die Frau lächelte, ihr winzigen Zähne zeigte, gar nicht groß, aber blendend, Perlen, die strahlendsten Perlen, als wären die Austern, denen sie entstammten, verliebt gewesen ..."
Bei aller Begeisterung für diesen Roman, gibt es doch den einen kleinen Wermuthstropfen: Man weiß leider von Anfang an, wie sich die Geschichte um die beiden Mädchen entwickeln und auf welches Ende dieser Roman hinauslaufen wird. Ich schreibe dies der Unerfahrenheit von Shobha Rao als Romanautorin zu. Der Verlauf der Handlung spricht dafür, dass das Grobgerüst der Geschichte bereits im Vorfeld stand und die Autorin dieses Gerüst anschießend mit Inhalt gefüllt hat. Das ist an sich nicht ungewöhnlich. Nur als Leser will ich überrascht werden, zumindest sollte die handwerkliche Tätigkeit des Schreibens nicht zu offensichtlich sein. Das ist hier leider der Fall.
Aber Schwamm drüber! Da dieser unglaubliche Roman mich gefesselt und beschäftigt hat, und ich jede Zeile verschlungen habe, bekommt er dennoch von mir eine Höchstwertung.

Leseempfehlung!

© Renie