Dienstag, 7. Dezember 2021

Eduardo Lago: Brooklyn soll mein Name sein

"Brooklyn soll mein Name sein" des spanischen Autors Eduardo Lago ist ein Buch, das sich schwer beschreiben lässt. An der Qualität dieses Romans liegt dies definitiv nicht. Ganz im Gegenteil!!! Denn "Brooklyn soll mein Name sein" ist ein literarischer Hochkaräter. Eduardo Lago erhielt für seinen Debütroman im Jahr 2006 in seiner Heimat den Premio Nadal des Novela, dem ältesten und renommierten Literaturpreis Spaniens, der bisher fast ausschließlich an bedeutende Persönlichkeiten der spanischen Literatur des 20. Jahrhunderts verliehen wurde. (Dies nur zum „Warmwerden“ für den nachfolgenden Versuch, dieses Buch zu beschreiben und um dem Leser ein Gefühl dafür zu geben, welche literarische Besonderheit im Alfred Kröner Verlag erschienen ist, der diesen Roman vor Kurzem und erstmalig im deutschsprachigen Raum veröffentlicht hat.)

Titel und Titelbild dieses Romans deuten darauf hin: Schauplatz der Handlung ist Brooklyn, ein Stadtbezirk von New York, der heutzutage u. a. für seine multikulturelle Bevölkerungsmischung bekannt ist.
Doch Brooklyn ist nur einer der Schauplätze dieses Romans, genauso wie es unterschiedliche Handlungsstränge, Zeitebenen, Erzählperspektiven und – man glaubt es kaum – Ich-Erzähler und Protagonisten gibt.
Einer dieser Protagonisten und derjenige Charakter, um den sich die Handlung hauptsächlich dreht, ist Gal Ackerman, ein Schriftsteller, der vor Kurzem gestorben sein muss, das erfährt zumindest der Leser gleich zu Beginn des Romans.
"Gestern Vormittag haben wir Gal beerdigt."
Buchseite und Rezensionen zu 'Brooklyn soll mein Name sein: Roman' von Eduardo Lago
Quelle: Alfred Kröner Verlag
Wir schreiben gegenwärtig das Jahr 1991. Derjenige, der diesen Satz äußert ist Néstor Oliver Chapman, einer der Ich-Erzähler und Freund von Gal Ackermann, der mit dessen Tod die Aufgabe hat, Gals Nachlass zu sichten und zu verwalten. Diese Information hört sich einfach an, ist von mir jedoch hart erarbeitet worden. Hilfestellung hat dabei ein Personenregister am Ende des Romans geleistet, genauso wie es eine chronologische Übersicht der Ereignisse gibt und ein Glossar. Ohne diese Hilfestellungen wäre man aufgeschmissen, denn in diesem Roman begegnen uns eine Flut an realen und fiktiven Haupt- und Nebenfiguren, Zeitebenen sowie historische und fiktive Ereignisse. Man sollte meinen, dass der Autor Eduardo Lago mit dieser bunten Mischung in seinem Roman ein Pendant zu Brooklyn, dem bevölkerungsreichsten Stadtteil New Yorks, schaffen wollte.

Ich-Erzähler Néstor Oliver Chapman befasst sich also mit dem Nachlass seines verstorbenen Freundes, den er als einen Menschen kennengelernt hat, der eine Leidenschaft für das Schreiben besaß. Dabei ging es ihm nicht um das Ergebnis, sondern um den Schaffensprozess als solchem. Gal Ackerman war also nicht darauf aus, für andere zu schreiben, sondern in erster Linie schrieb er für sich. Sein Arbeitszimmer über einer Bar in Brooklyn ist über die Jahre zu einem „Manuskript-Friedhof“ geworden, einer wilden und chaotischen Sammlung an Gedanken, Geschichten und Erinnerungen, die nicht nur von Gal stammten, sondern auch von anderen Verfassern. Alles, was Gal jemals an Texten in die Finger bekommen hat, fand Einzug in diesen gigantischen „Blätterwald“.
"Mit beiden Armen hast du in den Papieren gewühlt, unfähig, mit dem Lachen aufzuhören. Dutzende und Aberdutzende von Manuskripten! Hier gibt es alles, Ness: Romane, Märchen, Theaterstücke, Essays, Memoiren, unerträgliche Texte, die überhaupt niemanden interessieren. Unglaublich, nicht wahr, sie haben alle eines gemeinsam: Niemand wird sie jemals lesen, und niemals wird einer von ihnen eine Druckerei von innen sehen. So viele Träume: Ruhm, Geld und Eitelkeit. Das sind die Dinge, von denen all diejenigen träumen, die unbedingt etwas veröffentlichen wollen."
Was macht man nun mit diesen Texten? Wohin mit den Geschichten und Erinnerungen? Diese Fragen hat sich auch Gal Ackerman gestellt und daher zu Lebzeiten den Versuch gestartet, ein Buch zu schreiben – eine Hommage an Brooklyn. Denn in Brooklyn hat er gelebt und geliebt. Er liebte nicht nur die Stadt und seine Menschen, sondern hier lernte er auch seine große Liebe kennen. Brooklyn spielte also eine wichtige Rolle in seinem Leben.
Inmitten der Entstehung dieses Buches stirbt Gal Ackerman und sein Freund fühlt sich verpflichtet, das Buch anhand der Notizen seines Freundes zum Abschluss zu bringen.
Während sich Néstor also durch die Unterlagen seines Freundes arbeitet, bereits fertiggestellte Geschichten aus diesem Buch liest, eigene Geschichten formuliert und diesen Roman fortsetzt, begleiten wir ihn durch die Lebensgeschichte seines Freundes und seiner Stadt.
Wir werden uns dabei häufig in den Gedankengängen von Nestor und Gal verlaufen. Denn es gibt weder eine chronologische Reihenfolge noch eine klare Abgrenzung zwischen Ich-Erzähler Nestor und Ich-Erzähler Gal. Erzählt wird über einen Zeitraum von fast 250 Jahren, denn auch diejenigen Generationen aus Gal Ackermans Familie, die vor ihm gelebt haben, gehören zu seiner Lebensgeschichte dazu. Genauso, wie seine spanischen Wurzeln in diesem Roman eine Rolle spielen sowie die Ära Spaniens zur Zeit des Bürgerkrieges.

Man muss viel Geduld haben mit diesem Roman. Seinen Reiz macht die unstrukturierte Erzählweise aus, die den Leser zwingt, sich die Handlung nach und nach zu erarbeiten. Doch dafür wird er mit intensiven Geschichten über Freundschaften, Liebe und Leidenschaft belohnt. Oft ist es schwierig zu unterscheiden, ob die Geschichten, die Einzug in Gals Buch halten, seiner Fantasie entsprungen sind oder auf tatsächlich Erlebtem basieren. Genauso, wie sich kaum unterscheiden lässt zwischen Gals bzw. Nestors Erzählungen.

Neben den beiden Hauptcharakteren gibt es eine Protagonistin, die eine gleichsam große Rolle spielt: Brooklyn – der Schauplatz dieses Romans.
Der Autor dieses Romans, Eduardo Lago, lebt in New York und hat daher eine besondere Verbindung zu diesem Schauplatz. Diese Verbundenheit ist durch seinen Protagonsiten Gal Ackerman mit jeder Silbe in diesem Roman spürbar. Zu Lebzeiten streifte Gal Ackerman durch Brooklyn, widmete seine Aufmerksamkeit den bekannten und weniger bekannten Orten. Er hatte eine Blick für die Bewohner dieses Stadtteils, unabhängig welcher Herkunft sie waren, wobei er den Hispano-Amerikanern durch seine eigenen Wurzeln sicherlich näher stand als anderen Bevölkerungsgruppen. Die Beschreibungen der Umgebung sind sehr akribisch und detailliert. Wenn Eduardo Lago einmal anfängt, den Schauplatz und damit verbundene Stimmungen zu beschreiben, lässt er nicht locker, bis die kleinste Kleinigkeit der Szenerie dargestellt ist und der Leser in die Atmosphäre dieses Schauplatzes eingetaucht ist. Eduardo Lago macht Brooklyn also spürbar. Und wer bis jetzt noch nicht in Brooklyn war, findet sich durch die Lektüre dieses Romans zumindest gedanklich in dem Brooklyn eines Eduardo Lago wieder.

Fazit:
Ein faszinierender Roman, der die Lebensgeschichte eines charismatischen, leider fiktiven Mannes erzählt und dabei gleichzeitig eine Hommage an Brooklyn darstellt. In Verbindung mit seiner eigenwilligen Konstruktion ist dieser Roman eine Besonderheit, die mit nichts vergleichbar ist, was ich bisher gelesen habe.

© Renie