Sonntag, 20. August 2023

R. C. Sherriff: Zwei Wochen am Meer

Quelle: Unionsverlag
Unaufgeregt, unspektakulär, einfach nur schön! Vor etwa 100 Jahren hat der britische Autor R. C. Sherriff einen zeitlosen Wohlfühlroman geschrieben, der mit seinem Titel kurz und knackig beschreibt, worum es darin geht - um „Zwei Wochen am Meer“.

Eben diese zwei Wochen verbringt die Familie Stevens im englischen Seebad Bognor Regis, übrigens schon seit 20 Jahren, und immer im September, immer in der Pension „Sea View“ und immer in denselben Zimmern. Dieser Urlaub stellt für die Stevens, die aus Dulwich, einem Londoner Vorort, kommen, das Highlight eines jeden Jahres dar. Vater Edward ist Büroangestellter in einer Londoner Firma, Mutter Flossie kümmert sich um den Haushalt und die Kinder, Mary und Dick, die beiden älteren Kinder sind bereits berufstätig und tragen zum bescheidenen Wohlstand der Familie bei, Nesthäkchen Ernie geht noch zur Schule. Einmal im Jahr gönnt sich die Familie diesen Urlaub, der eine Auszeit von den großen und kleinen Sorgen des Alltags bedeutet. Die Zeit in Bongor ist von Routinen geprägt. Spaziergänge, Strandbesuche, Baden im Meer, Konzertbesuche … same procedure as every year. Den größten Teil ihrer Zeit verbringt die Familie gemeinsam, mit wenigen Ausnahmen. Selbst die Wanderung, die Familienoberhaupt Edward jedes Jahr in Bongor allein unternimmt, gehört zu der Urlaubsroutine dazu.

Es mag sich heutzutage befremdlich anhören, dass dieser Urlaub kaum Spielraum zulässt, um den individuellen Bedürfnissen und Vorlieben der einzelnen Familienmitglieder gerecht zu werden. Doch die Stevens freuen sich darauf und genießen die Zeit, gehen sie doch als Familie gestärkt aus diesen zwei Wochen hervor. Denn der Zusammenhalt der Familie bildet für sie eine Bastion, die Schutz und Geborgenheit gegen den Alltag bietet. 

In dem Roman „Zwei Wochen am Meer“ passiert also nicht viel an Handlung. Dennoch ist dieser Roman auf eine wohltuende Weise fesselnd und berührend, da Autor Sherriff aus diesem Familienverbund einzelne Charaktere herauspickt und sich auf deren Sorgen und Gedanken konzentriert.

Einen starken Auftritt hat Familienoberhaupt Edward. Der Roman setzt am Vorabend des Anreisetages ein. Wir begleiten die Familie in ihren letzten Vorbereitungen in ihrem Häuschen im heimischen Dulwich. Familienoberhaupt Edward präsentiert sich als pedantischer Patriarch, der bei der Planung des Urlaubs nichts dem Zufall überlassen wird, genau wie in jedem Jahr zuvor. Diese Pedanterie lässt ihn tyrannisch wirken, doch tatsächlich treibt ihn die Verantwortung für das Wohl seiner Familie an. Die kommenden zwei Wochen sollen wie immer perfekt werden, nichts darf die Urlaubsfreuden seiner Familie stören. Der Druck, der auf ihm lastet und den er sich selbst macht, ist groß. Die kommenden zwei Wochen rücken Edward für den Leser in ein schmeichelhafteres Licht. Wir haben es mit einem liebenden Familienvater zu tun, dem es gut geht, wenn es seinen Lieben gut geht. R.C. Sherriff geht auf die Lebensgeschichte von Edward ein: ein Mann aus einfachen Verhältnissen, der es bis zum Büroangestellten geschafft hat, aber beruflich nicht weiterkommt. Er wäre gern ein anderer – wohlhabender, angesehener in der Gesellschaft. Aber er würde nie seine moralischen Werte aufgeben. Anstand, Loyalität, Bescheidenheit und Rücksichtnahme sind ihm wichtiger als jeder Reichtum. Und diese Einstellung versucht er auch seinen Kindern mit auf den Lebensweg zu geben.

Eine weitere interessante Figur ist Flossie Stevens. Insbesondere zu Beginn des Romans präsentiert sie sich als ängstliches unsicheres Frauchen, das kaum dem Druck, für das Wohl ihrer Familie zu sorgen, gewachsen ist und das seine eigenen Bedürfnisse vollständig hintenanstellt. Sie ist mehr Haushälterin als Ehefrau und Mutter, eine Rolle, in der sie auch der Rest der Familie unbewusst sieht. Man vermisst häufig den Respekt, der ihr zusteht, der ihr jedoch nicht entgegengebracht wird. Auch dafür ist dieser Urlaub gut. Denn im Verlauf des Urlaubs rückt die Familie näher zusammen. Ein Familienmitglied wie Flossie findet plötzlich mehr Beachtung und ihre Lieben gehen bewusster mit ihr um. Plötzlich ist es wieder wichtig, wie es ihr geht, was sie denkt und fühlt. Der Urlaub wird zwar nichts an ihrer Rolle im Alltag ändern, doch man wird das Gefühl nicht los, dass sie sich mit ihrem Leben als Vorstadt-Mutter arrangiert hat. Die Figur Flossie mag nicht dem (Wunsch-)Bild einer modernen Ehefrau und Mutter unserer heutigen Zeit entsprechen. Doch gibt R. C. Sherriff das gängige Frauenbild aus der Entstehungszeit seines Romans wieder.

Auch die erwachsenen Kinder Dick und Mary reisen, belastet mit den Sorgen des Alltags in Bognor an. Dick ähnelt seinem Vater, erhofft sich ein anderes Leben als das, was ihm vorbestimmt ist, angefangen bei der Wahl des Berufes. Auch er geht aus dem Urlaub gestärkt und voller Vorsätze, was seine berufliche Zukunft betrifft, hervor und blickt verhalten optimistisch in die Zukunft.

Mary träumt von dem, was sich junge Frauen der damaligen Zeit erträumten: Sich Verlieben, verloben, verheiraten. In den zwei Wochen kommt sie für einen kurzen Moment in die Nähe der Erfüllung ihrer romantischen Wunschvorstellung, was sich zumindest gut auf ihr Selbstbewusstsein auswirkt. 

R.C. Sherriff beschreibt die Familie Stevens mit einer wohltuenden Empathie, die man als Leser gern annimmt. Man blickt sehr wohlwollend und mitfühlend auf die Figuren dieses Romans und verzeiht ihnen ihre Eigenheiten und kleinen Fehler, da sie zum Menschsein dazugehören.

Der Sprachstil hat einen sehr großen Anteil an dem Wohlfühlfaktor dieses Romans. R.C. Sherriff war zu seinerzeit eher als Drehbuchautor, denn als Romancier bekannt. Diese Fähigkeit, Situationen in Szene zu setzen, merkt man diesem Roman an. Der Autor überlässt nichts der Vorstellungskraft der Leser, sondern beschreibt Handlungen bis ins klitzekleinste Detail und auf eine unglaublich bildhafte Weise. Sherriff hat die Eigenart, Requisiten Leben einzuhauchen, indem er sie personifiziert und sie zum Bestandteil der Handlung werden lässt. Diese Personifizierung macht sich auch in unzähligen Metaphern bemerkbar. Die Szenerie dieses Romans ist unfassbar lebendig und intensiv, so dass man sich selbst hineinversetzt fühlt und die Stimmungen mit allen Sinnen wahrnimmt.

Fazit

Zwei Wochen am Meer – ein Roman in dem nicht viel passiert: ein ganz normaler Urlaub und ein ganz normales Familienleben seiner Zeit. Doch der wunderschöne Sprachstil sowie die empathische Darstellung der Charaktere machen aus „Zwei Wochen am Meer“ eine literarische Perle, die bei mir bleibenden Eindruck hinterlässt. Leseempfehlung!


"Zwei Wochen am Meer" von R. C. Sherriff (Unionsverlag, ET Juni 2023)

Donnerstag, 17. August 2023

Tess Gunty: Der Kaninchenstall

Quelle: Kiepenheuer & Witsch

Die Gestaltung des Buchumschlags hätte mich vorbereiten müssen:
Diese Kombination aus niedlich-harmlosem Titel "Der Kaninchenstall" und psychedelisch-greller und farbenfroher Abbildung einer Wohnhausfront deutet auf einen Roman hin, der einiges an Überraschungen bereithalten könnte. Doch mit dem, was mir dann vor die Lesebrille kam, habe ich nicht gerechnet.

Tess Gunty erzählt in ihrem Debütroman „Der Kaninchenstall", für den sie prompt im Jahr seines Erscheinens (2022) den National Book Award erhielt, die Geschichte der Bewohner eines Hauses in Vacca Vale, einem fiktiven Ort inmitten der größten und ältesten Industrieregion Amerikas, dem sogenannten Rust Belt.
Dieses Haus ist nicht umsonst als „Der Kaninchenstall" bekannt. Denn die Bewohner leben hier eng an eng in ihren kleinen Appartements wie Kaninchen in ihren Verschlägen. Ab und zu läuft man sich im Kaninchenstall über den Weg. Aber im Großen und Ganzen lebt man isoliert.

Einer dieser Bewohner ist die 19-jährige Blandine, welche die Hauptfigur in diesem Buch ist und eine starke Affinität zu den Mystikerinnen der Geschichte hat. Ihr großes Vorbild ist Hildegard von Bingen. Gleich zu Beginn lesen wir, dass es ein blutiges Ende für Blandine nehmen wird. Was bis dahin in der Vergangenheit und insbesondere in den zwei Tagen vor dem blutigen Ereignis geschehen ist, erfahren wir durch weitere Charaktere, die entweder selbst im Kaninchenstall wohnen oder irgendeine Verbindung zu dessen Bewohnern haben. Zu behaupten, dass es sich bei diesen Charakteren um Menschen mit Ecken und Kanten handelt, wäre eine Untertreibung.

Denn die Figuren in diesem Roman haben psychische Probleme in unterschiedlichen Ausprägungen, die sie zu eigenwilligen Verhaltensweisen bringen, so dass man das Personal dieses Romans nicht anders als schräg bezeichnen kann. Blandine ist nur ein Beispiel für diese illustre Gesellschaft. Weitere Beispiele wären der 53-jährige Sohn einer Amerika weit bekannten und beliebten Schauspielerin, der seinen Mitmenschen auf – vorsichtig formuliert und spoilerfrei - kuriose und spektakuläre Weise begegnet und somit bei ihnen bleibenden Eindruck hinterlässt. Oder eine Mrs. Kowalski, die sich allein schon durch ihre Erwerbstätigkeit dem Leser ins Gedächtnis brennen wird: Sie arbeitet bei RESTINPEACE.com, einer Internet-Plattform für Nachrufe und Beileidsbekundungen. Hier prüft sie „Kommentare zu Nachrufen auf Kraftausdrücke, Urheberrechtsverletzungen und üble Nachrede, die die Toten verunglimpft.“ Man wäre überrascht, „…wie gemein manche Leute zu den Toten sind.“

Die Geschichte um den Kaninchenstall präsentiert sich von Anfang an als eine psychedelische Gemengelage aus schrägen Charakteren und einer verrückten Handlung, die unvorhersehbare Wendungen nimmt. Ähnlich turbulent ist auch der Aufbau dieses Romans sowie die wechselhafte Erzählweise: auktoriale und personale Erzähler, Rückblicke, Social Media Posts, Illustrationen anstelle von Text. Und immer wieder mehr oder minder versteckte Verbindungen zu Themen, welche eine Gesellschaft – in diesem Fall die amerikanische – in der heutigen Zeit auf Trab halten. Doch dieses Chaos ist gewollt, so dass es in diesem Roman definitiv nicht langweilig wird. Zudem beherrscht Tess Gunty dieses Chaos. Denn trotz des Durcheinanders lässt sich der rote Erzählfaden in diesem Roman bis zum Schluss erkennen und wird auch nicht lockergelassen.

Sollte man Tess Gunty eines ankreiden, dann ihre Ambition, Themen, die eine moderne Gesellschaft beschäftigen, nahezu lückenlos in ihrem Roman ansprechen zu wollen. Dies ist eine Eigenart, die sich gern bei zeitgenössischen amerikanischen Autoren finden lässt. Diese Kritikansammlung erinnert an das Abarbeiten einer Liste und erscheint mir zu oberflächlich. Ich würde mir hier eine Konzentration auf einzelne Themen wünschen und damit die Möglichkeit zu einer intensiveren Auseinandersetzung. Da jedoch „Der Kaninchenstall" an Originalität und schriftstellerischer Experimentierfreude nicht zu überbieten ist, lässt sich dieser, „All-you-can-criticize"- Ehrgeiz von Tess Gunty leicht verschmerzen.

Leseempfehlung!