Dienstag, 29. August 2017

Karan Mahajan: In Gesellschaft kleiner Bomben

Quelle: Pixabay / geralt
Das Buch "In Gesellschaft kleiner Bomben" des indisch-stämmigen Autors Karan Mahajan scheint wie eine Bombe eingeschlagen zu haben. Erschienen ist es im letzten Jahr und hat seitdem die Kritiker weggeblasen: 
  • Gewinner des Young Lions Fiction Award 2017 (USA)
  • Gewinner des Rosenthal Family Foundation Award der AAoAL 2017 (USA)
  • Gewinner des Bard Fiction Prize 2017 (USA)
  • Gewinner des Anisfield-Wolf Book Award for Fiction 2017 (USA)
  • Gewinner des Muse India Young Writer Award 2016 (Indien)
  • Auf der Shortlist für den National Book Award 2016 (USA)
  • Auf der Shortlist für den Tata Literature Live »Book of the Year« Prize 2016 (Indien)
  • Auf der Longlist für den FT/Oppenheimer Emerging Voices Award 2017 (USA)
  • Eines der 10 besten Bücher 2016 (New York Times)
  • Auf den Jahresbestenlisten von ...."
  • etc., etc., etc.        (Quelle: culturbooks)

Der Titel "In Gesellschaft kleiner Bomben" ist zunächst einmal irritierend, hat er doch etwas Verharmlosendes an sich. Dabei kann von Verharmlosung in diesem eindringlichen Roman nicht die Rede sein. Denn, ob kleine Bombe oder große Bombe ... das Ergebnis ist das Gleiche: Tod, Trauer, Schmerz, Wut, Veränderung.
"'... Ich denke, die kleinen Bomben, von denen wir ständig hören, die auf unbekannten Märkten explodieren, fünf oder sechs Menschen töten, sind schlimmer. Durch sie konzentriert sich der Schmerz auf das Leben einiger weniger. Es ist besser, großzügig zu töten, als dabei zu geizen.'"
Der Roman beginnt mit der Explosion einer Bombe auf einem Markt irgendwo in Indien. Zu den Opfern zählen zwei Kinder, die Söhne der Familie Khurana. Der Leser wird dieses Attentat nicht nur einmal sondern mehrfach erleben: aus Sicht der beiden Brüder, aus Sicht des überlebenden muslimischen Freundes der Brüder, aus Sicht des zuhause wartenden Vaters und aus Sicht des terroristischen Bombenlegers. Mit jeder neuen Sichtweise wird das Entsetzen über diesen Anschlag und seine schrecklichen Konsequenzen für den Leser intensiver.
Nachdem die Bombe gezündet ist, widmet sich die Handlung den Jahren nach dem Attentat, in denen Bomben zum indischen Alltag scheinbar dazugehören. Karan Mahajan liefert dabei Antworten zu den unterschiedlichsten Fragen: 
Wie gehen die Eltern Khurana mit dem Verlust ihrer Kinder um? 
Schweißen Schmerz und Trauer das Elternpaar zusammen, oder entfernen sie sich voneinander? 
Was ist mit dem muslimischen Jungen, der überlebt hat und dessen Eltern? 
Überwiegt die Erleichterung oder das schlechte Gewissen, dass sie mit einem blauen Auge davongekommen sind? 
Wie geht die muslimische Familie damit um, derjenigen Religion anzugehören, die das Attentat zu verantworten hat?
Wie kommt man mit der Angst zurecht, dass man wiederholt in solch ein schreckliches Ereignis verwickelt wird - was in Indien durchaus im Bereich des Möglichen liegt?
Warum hat ein Terrorist, der etliche Menschen auf dem Gewissen hat, keinerlei Schuldgefühle? 
Und warum kann er seine Karriere als Bombenleger nicht an den Nagel hängen, selbst wenn er erkennt, dass seine kleinen Bomben nicht viel bewirken in seinem Kampf gegen die Ungerechtigkeit?
Fragen über Fragen, mit denen sich Karan Mahajan in seinem Roman befasst und die dem Leser einige Denkanstöße versetzen.
"Später berichteten sämtliche Zeugen, einen alles überstrahlenden Stern gesehen zu haben. Dann folgte eine lange Stille, bevor die Schreie losgingen, als hätten sich die Leute, sogar als sie Schmerzen hatten, erst gegenseitig beobachtet, um herauszufinden, was zu tun sein."
Quelle: Culturbooks
Der Roman ist ein Sammelsurium an Handlungsebenen und Erzählperspektiven. Im Verlauf der Geschichte tauchen immer weitere Charaktere auf, die in irgendeiner Form von dem Attentat betroffen sind - direkt oder indirekt bzw. als Täter oder Opfer. Zeitweise verliert man die einzelnen Charaktere aus den Augen, sie geraten tatsächlich in Vergessenheit. Doch im weiteren Verlauf des Romanes tauchen sie irgendwann wieder auf. Oft nehmen sie dann eine Rolle ein, die fast schon unglaublich ist, z. B. werden Opfer zu Tätern. Der Autor versäumt auch nicht, ein Szenario zu kreieren, das verdeutlicht, wie einfach es doch ist, aus einem durchschnittlichen Leben heraus eine terroristische Karriere einzuschlagen. Im Grunde genommen könnte in jedem von uns terroristisches Potenzial stecken.

"In Gesellschaft kleiner Bombe" ist eine Studie über die indische Gesellschaft. Dass sich diese Gesellschaft nach einem Kastensystem strukturiert, sollte allgemein bekannt sein. Erschreckend ist jedoch, dass ein System, das auf eine viertausendjährige Geschichte zurückblickt und nur geringe Reformen erfahren hat, immer noch in den Köpfen der meisten Inder fest verankert ist. In dem Indien von Karan Mahajan spielt die Herkunft eines Menschen eine wichtige Rolle und entscheidet über sein Ansehen in der Gesellschaft. Ungerechtigkeit und Vorurteile bestimmen das Miteinander der indischen Bevölkerung. In diesem Roman versuchen viele der Charaktere "mehr Schein als Sein" vorzugeben, in der Hoffnung, von einer niederen Herkunft abzulenken. Wenn man dann noch Moslem in einer hinduistischen Gesellschaft ist, wird man bestenfalls noch geduldet, aber niemals anerkannt. Seit den 70er Jahren kommt es zwischen Hindus und Moslems immer wieder zu Ausschreitungen, die leider ihren Höhepunkt im Kaschmirkonflikt 1989 gefunden haben und immer noch anhalten - mal mehr, mal weniger heftig. Mittlerweile sind über 29000 Zivilisten in diesem Konflikt getötet worden. Der Konflikt zwischen Moslems und Hindus ist ein Politikum, das insbesondere in Zeiten eines indischen Wahlkampfes gern instrumentalisiert wird.
"... - ja, er hasste den Regierungschef, weil er das Schlimmste der Hindus repräsentierte, den Glauben an ihre eigene Unverwundbarkeit, der immer dann aufkam, wenn es ihnen gut ging, wenn sie schnelles Geld machten, ein Glaube, dass man mit allem durchkam, solange man Geld hatte."
Während ich dies schreibe, wird mir wieder einmal bewusst, wie vielschichtig dieser Roman doch ist. Je intensiver man sich mit der Geschichte beschäftigt, umso mehr Gedanken zu den unterschiedlichsten Themen kristallisieren sich heraus. Die bisher von mir angesprochenen Aspekte sind tatsächlich nur ein Teil dessen, was dieser Roman zu bieten hat.

Nicht vergessen möchte ich den Sprachstil von Karan Mahajan. Der Autor ist ein Freund schwelgerischer Vergleiche. Dadurch schafft er Bilder, die das Kopfkino des Lesers auf Hochtouren laufen lässt. Die Bilder, die sich dabei auftun, können sehr verstörend und intensiv sein, denn Karan Mahajan beschönigt nichts. Ganz im Gegenteil. Seine bildhaften Vergleiche und Metaphern tragen dazu bei, dass man ein ohnehin schon bedrückendes Szenario als noch hässlicher empfinden kann.
"Menschen drückten und drängten, während die Züge durch ihre Strecken aus Scheiße und Pisse rasten, Plastik und Gummi hinter sich eigentümlich verbrannten und damit die Luft würzten. Der Bahnhof war so aufgebläht mit Menschen, dass der Verlust einiger kaum tragisch oder gar wichtig wäre."
Fazit:
Wenn es nach der New York Times geht, gehört dieser Roman zu den 10 Besten in 2016. Ich glaube nicht, dass ich in meinem Urteil soweit gehen würde. Eines ist jedoch klar. Dieser Roman wird mich noch lange Zeit beschäftigen. Es ist kein Lesestoff, den man einfach beenden wird und zum nächsten Buch übergehen wird. Dafür liefert Karan Mahajan zu viele Denkanstöße, die es zu verarbeiten gilt. Ein Roman, den ich deshalb sehr gern weiterempfehle!

© Renie



Über den Autor:
Karan Mahajan wurde 1984 geboren, wuchs in Neu-Delhi auf und lebt in Austin, Texas. Er steht auf Grantas Liste der »Best Young American Novelists« 2017. Sein erster Roman, »Family Planning« (»Das Universum der Familie Ahuja«), war für den Dylan Thomas Prize nominiert und erschien in neun Ländern. Er schrieb Beiträge für zahlreiche internationale Publikationen wie The New York Times, The Believer, The New Yorker und The Wall Street Journal. Mahajan studierte an der Stanford University und dem Michener Center for Writers.

»In Gesellschaft kleiner Bomben« stand u.a. auf der Shortlist für den National Book Award 2016 und erhielt den Bard Fiction Prize 2017, den Young Lions Fiction Award 2017, den Rosenthal Family Foundation Award der American Academy for Arts and Letters 2017, den Muse India Young Writer Award 2016 und den Anisfield-Wolf Book Award for Fiction 2017 (Quelle: Culturbooks)

Montag, 21. August 2017

Franziska Walther: Hoch hinaus

Quelle: Kirchner PR / kunstanstifter
Kinderbuchzeit auf meinem Blog! Diesmal geht es um das Bilderbuch "Hoch hinaus" von Franziska Walther, die mir mit ihren wundervollen Illustrationen aus "Werther Reloaded", das ich vor einiger Zeit gelesen und besprochen habe, sehr gut in Erinnerung geblieben ist. Ein Blick auf das jetzige Buch "Hoch hinaus" genügt - das ist unverkennbar der Zeichenstift von Franziska Walther.

Wie immer, wenn ich ein Kinderbuch bespreche, hole ich mir Unterstützung bei einem Spezialisten. Da sich mein Sohn mit seinen 12 Jahren nicht von diesem Buch angesprochen fühlte, habe ich mir ein Kind bei einer Freundin "ausgeliehen": Luca, 5 Jahre.

In dem Buch geht es um den abenteuerlustigen und von Fernweh geplagten Elch Erasmus und seinem Traum vom Fliegen.
Bis auf eine Seite Text besteht das Buch ausschließlich aus Illustrationen. Der Text ist als Vorwort zu verstehen und erklärt, wie es zu der Geschichte um den Elch Erasmus gekommen ist. 

Luca kennt diesen Text nicht, da ich ihn nicht beeinflussen wollte und er sich voll und ganz auf die Bilder konzentrieren kann.


aus "Hoch hinaus" von Franziska Walther (Quelle: kunstanstifter)


Renie: Was meinst du, was das für ein Tier ist?
Luca lacht, als er dieses Bild sieht: 
Luca: Ein Reh!
(Ok, dicht dran)
Renie: Das Reh heißt Erasmus. Magst du das Reh?
Luca: Ja, es ist lustig mit seiner dicken Nase.

Auf der nächsten Seite im Buch sieht man die Augen von Erasmus in der Nahansicht. In seinen Augen spiegeln sich 2 Vögel, die er am Himmel sieht.

aus "Hoch hinaus" von Franziska Walther (Quelle: kunstanstifter)
Renie: Was siehst du in Erasmus' Augen?
Luca: Rasmus hat Angst.
Renie: Sieh noch mal genauer hin.
Luca: Der hat ja Tüten voller Gold in seinen Augen.
(Darauf war ich nicht vorbereitet)
Renie: Sehen so Tüten voller Gold aus?
Luca: Stimmt, Gold sieht anders aus. Was ist es dann?
Renie: Es sind Vögel. Erasmus beobachtet sehnsüchtig die Vögel, die am Himmel fliegen. Wahrscheinlich wünscht er sich gerade, selbst fliegen zu können.
Luca: Die Vögel sehen aber komisch aus.
(Glücklicherweise sitzen wir gerade in einem Strandkorb am Meer. Nachdem Luca die vorbeifliegenden Möwen genauer betrachtet, ist er einverstanden: Das sind eindeutig Vögel in dem Buch!)

Renie: Erasmus folgt den Vögeln. Der Weg ist weit. Es geht bergauf und bergab, es wird dunkel, in der Ferne sieht er eine Stadt. An einem See spiegelt sich der dicke, gelbe Mond im Wasser.
Luca: Der Mond ist nicht dick, er ist nur groß.
Renie: Erasmus schwimmt durch den See.
Luca: Können Rehe in echt schwimmen?
Renie: Ich glaube schon.
Luca: Pferde können schwimmen.
Renie: Dann können Rehe das bestimmt auch.

Irgendwann kommt Erasmus in die Stadt.
Luca: Das war aber ein weiter Weg. Und der Rasmus hat den langen Weg durchgehalten.
Renie: Ohne müde zu werden und ohne zu schlafen.
Luca: Tiere schlafen nicht. Pferde schlafen auch nicht. Das habe ich mal in einem Film gesehen.

Luca betrachtet die Bilder der Stadt, mit seinen Bewohneren und Erasmus mittendrin.
Luca: Sieh mal, da haben ganz viele Leute Panik. Es gibt aber auch Leute, die nett zu Rasmus sind. Da schenkt ihm jemand einen Apfel. Jetzt geht der Rasmus in ein Kaufhaus. Er möchte sich etwas zum Anziehen kaufen.
Renie: Erasmus schlendert durchs Kaufhaus, treppauf und treppab. Am Ende landet er auf dem Dach, wo er in der Ferne wieder die Vögel sieht. Die Tür fällt zu und sperrt Erasmus auf dem Dach aus. Er weiß zunächst nicht, wie er aus der blöden Situation herauskommen soll. Mittlerweile wird es dunkel und Erasmus schläft ein.
Siehst du, Luca, Erasmus schläft. Von wegen "Tiere schlafen nicht";-)
Luca: Der schläft nicht. Er hat nur die Augen zu.
Renie: Erasmus träumt vom Fliegen: wie ein Vogel, mit einem Fesselballon, mit Luftballons.
Da kommt ihm eine Idee. (zeichnerisch dargestellt durch eine Glühbirne, die über ihm schwebt.)
Luca: Warum ist da eine Lampe über seinem Kopf?
Renie: Weil Erasmus ein Licht aufgeht. Das sagt man so und bedeutet, dass jemand eine Idee zu der Lösung eines Problems hat.
Luca: Cool!

Und dann kommt der Teil des Bilderbuches, bei dem sich Luca schlapp gelacht hat: 
Erasmus bläst sich auf. Er wird immer kugeliger. Sein Gesichtsausdruck wird immer angestrengter.
Luca: Rasmus sieht aus, als ob er auf dem Klo sitzt und Groß macht.
Renie: Irgendwann platzt das Fell von Erasmus an zwei Stellen auf und heraus treten vier "Luftblasen", die aus ihm ein Reh mit Flügeln machen. Und Erasmus nimmt Anlauf und fliegt mit den Vögeln davon.
- Ende -
Luca: Schade

Renie: Ist das nicht großartig, dass Erasmus seinen Traum vom Fliegen wahr gemacht hat? Die Vögel haben ihn ja brennend interessiert. Er ist den Vögeln bis in die Stadt gefolgt und hat sich gewünscht, wie die Vögel fliegen zu können. Das ist ihm dann gelungen.
Luca: Ich wünschte, ich wäre ein Meerjungmann. Dann könnte ich unter Wasser atmen.


Renie: Was hat dir an dem Buch am besten gefallen?
Luca: Na, dass der Rasmus fliegen kann.

Renie: Und was hat dir nicht so gut gefallen?
Luca: Dass die Tür auf dem Dach zugefallen ist, und dass die Polizei nicht gekommen ist. Die müssen doch kommen und den Rasmus retten.
Renie: Die wären bestimmt noch gekommen. Aber Erasmus hat sich ja am Ende selbst geholfen.

Renie: Wie haben dir die Bilder und Farben in dem Buch gefallen?
Luca: Gut. Es gibt viele Farben. Aber zwei Farben mochte ich nicht so sehr. Da ist viel mit Rosa und Lila gemalt. Das sind Mädchenfarben.
(Irgendwie habe ich mit dieser Antwort gerechnet ;-))

Mein Eindruck von den Illustrationen:
Auf mich wirkten die Zeichnungen sehr fröhlich. Insbesondere Erasmus ist ein lustiger Kerl, der einem beim Betrachten ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Seine Mimik ist sehr beeindruckend und aussagekräftig. Man muss ihn einfach gern haben. Auffällig ist, dass die Zeichnungen sehr reduziert wirken. Sie konzentrieren sich auf die wesentlichen Elemente, die notwendig sind, um den Handlungsablauf zu verstehen. Aber diese wenigen Dinge sind sehr farbenfroh dargestellt. Es stimmt schon, lila und rosa sind dominierende Farben in diesem Buch. Diese Farbgebung scheint typisch für Franziska Walther zu sein. Auch in "Werther reloaded" ist dieses Farbschema zu finden. Mich haben die Lila- und Rosatöne nicht gestört. Aber ich bin ja auch ein Mädchen.

Fazit:
Ein liebevoll gestaltetes Bilderbuch mit einem Helden, den man - egal ob Erwachsener oder Kind - ins Herz schließt. Kinder werden ermuntert, an ihren Träumen festzuhalten. Denn der liebenswerte Elch Erasmus beweist, dass Träume wahr werden können. Und wer weiß, vielleicht treffe ich Luca eines Tages als Meerjungmann wieder.

© Renie



Im Anschluss an unser Gespräch wollte Luca unbedingt einen Flughafen malen. Denn irgendwo muss Rasmus schließlich landen können!





Über die Autorin und Illustratorin:
Franziska Walther, geboren 1980, ist eine Diplom-Designerin, Illustratorin und Architektin mit Sitz in Hamburg und Weimar. Unter dem Namen SEHEN IST GOLD® illustriert und gestaltet Franziska Bücher, Magazine, Broschüren und Buchumschläge für Verlage und Agenturen. Eine Leidenschaft für Bücher, Bild und Schrift sowie deren Symbiose zeichnet ihre Arbeit aus.
Franziska erhielt für ihre Arbeiten im Bereich Illustration und Buchgestaltung zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen, unter anderem den Joseph-Binder-Award 2012 in Gold für das Buch »Peter Schlemihls wundersame Geschichte« und den German Design Award 2017 in der Kategorie Books and Calendars für »Werther reloaded«. (Quelle: kunstanstifter)

Mittwoch, 16. August 2017

Ilona Jerger: Und Marx stand still in Darwins Garten

Quelle: Pixabay/Natfot
Charles Darwin (1809 - 1882) und Karl Marx (1818 - 1883) haben sich nie persönlich kennengelernt. Eigentlich merkwürdig. Denn sie wohnten während ihrer letzten Lebensjahre lediglich um die 32 km voneinander entfernt. Ok, das ist keine Entfernung für einen Spaziergang, aber mit einer Pferdekutsche durchaus machbar, um einem Kollegen seine Aufwartung zu machen. Haben sie aber nicht. Oder etwa doch? Der Titel des Romans "Und Marx stand still in Darwins Garten" ist daher eine charmante Idee zu einem Treffen, das in Wirklichkeit nie stattgefunden hat, aber hätte stattfinden können. Die Autorin Ilona Jerger lässt die beiden Persönlichkeiten zusammenkommen. Entstanden ist ein Roman, der amüsant, philosophisch und berührend ist. Ein Roman, ganz nach meinem Geschmack!

Charles Darwin, der brillante Naturwissenschaftler, der in seinem Leben die Welt umsegelt hat, unbekannte Arten entdeckt und erforscht hat, mit seiner Arbeit die Entwicklung der Evolutionstheorie maßgeblich geprägt hat und natürlich etliche Bücher geschrieben hat (u. a. "Die Entstehung der Arten"), ist in seinem letzten Lebensabschnitt angekommen. Jetzt, im Alter von 72 Jahren, lässt seine Gesundheit nicht mehr zu, dass der ewig wissensdurstige Darwin in der Welt umherzieht. So lebt er mit seiner Frau Emma in einem Vorort von London und widmet sich hier seinen Forschungen. Sein bevorzugtes Forschungsobjekt ist derzeit der Regenwurm. Darwin leidet unter Schlaflosigkeit und den Dingen, die einem 72-jährigen Körper zu schaffen machen. Das hält ihn jedoch nicht davon ab, seine Forschungen mit der gleichen Leidenschaft zu betreiben wie in jüngeren Jahren. Mehrmals in der Woche erhält Darwin Besuch von seinem Arzt, Dr. Beckett, der sich um die Gesundheit des weltberühmten Naturwissenschaftlers kümmert.
"Charles tastete nach den Streichhölzchen, zündete die Kerze auf dem Nachttisch an, schaute auf seine Taschenuhr und war wieder einmal untröstlich, dass er damals die goldene Uhr seines verehrten Herrn Papa für einen Billardtisch verhökert hatte. Sofort versuchte er derlei Gedanken über Verhaltensweisen, die in der Vergangenheit lagen und die man naturgemäß nicht mehr ändern konnte, an ihrer Ausbreitung zu hindern. Denn hatten sie einmal die Gelegenheit bekommen, ihre deprimierende Wirkung in allen Gliedern zu entfalten, war es schwer, zu einer schöneren Sichtweise des Lebens zurückzufinden." (S. 11)
Quelle: ullstein
Dr. Beckett zählt eine weitere Berühmtheit zu seinen Patienten: Karl Marx, persona non grata in seinem Heimatland, ist er in Großbritannien im Exil gestrandet, wo er sich der Fortsetzung seines berühmten Werkes "Das Kapital" widmet. In Großbritannien macht man sich lustig über den Antikapitalisten. Seine Theorien sind schwer verständlich. In "Das Kapital", Band 1, hat er sich in seinen leidenschaftlichen Gedanken verzettelt. Kaum einer, der das Buch gelesen und verstanden hat. Auch Darwin und Dr. Beckett konnten bisher mit dem Marxschen Gedankenwirrwarr nicht viel anfangen. Aus einer Laune heraus, wird Marx zum Abendessen im Hause Darwin eingeladen, wo es zu einem sehr interessanten und emotionalen Streitgespräch kommt, an dem Darwins Ehefrau Emma einen großen, fast schon feindlichen, Anteil hat. Marx sieht Gemeinsamkeiten zwischen seiner kommunistischen Lehre und der Evolutionstheorie von Darwin. Ein gemeinsamer Nenner ist für ihn die Ablehnung der Religion und die Verleugnung Gottes. Die religiöse Emma ist eine erbitterte Gegnerin und bietet dem prominenten Wissenschaftler Paroli. Und am Ende des Abends steht Marx "still" und nachdenklich "in Darwins Garten".

Charles Darwins Abkehr von der Religion ist ein wunder Punkt im Zusammenleben mit seiner Frau Emma. Sie ist ein hartnäckiger Gegner im Streit um den wahren Glauben: protestantisch, regelmäßige Kirchgängerin, die gern den Pfarrer der Gemeinde im Hause Darwin ein- und ausgehen lässt. Sie glaubt an ein Leben nach dem Tod. Der Gedanke, dieses Leben ohne ihren geliebten Charles verbringen zu müssen, weil er ein Leben nach dem Tod leugnet, sorgt für einige Diskussionen bei den Darwins.

Unvergleichlich sind die scharfsinnigen Dialoge in diesem Roman. Dabei präsentiert sich Darwin als ein humorvoller älterer Herr, der immer wieder Spaß daran hat, seine Thesen mit Vehemenz zu vertreten. Als Leser verbringt man gern viel Zeit mit Darwin. Durch seine Schlaflosigkeit gibt er sich Gedanken und Erinnerungen hin, die einen Mann zeigen, der ein ungewöhnliches Leben geführt hat und der von einem großen Teil der Welt unverstanden ist. Viele sehen in ihm den Atheisten. Doch beim näheren Hinsehen stellt sich heraus, dass er noch lange nicht der Religion abgeschworen hat, wie ihm viele unterstellen und dafür hassen. In Wirklichkeit ist Charles Darwin ein Ungläubiger, bestenfalls ein Agnostiker. Bloß weil er nicht mehr an Gott glaubt, heißt es noch lange nicht, dass es diesen nicht gibt.
"'... Gesetzt den Fall, es gibt einen Gott, welche Rolle spielt er dann bei der Evolution? Könnte es nicht sein, dass sich Gott statt in Wundern in Naturgesetzen äußert?'" (S. 223)
Viele Szenen in diesem Buch haben mich schmunzeln lassen, wozu der saloppe Sprachstil der Autorin Ilona Jerger einen großen Anteil hat. Fast im Plauderton präsentiert sie dem Leser die letzten Schaffensjahre eines genialen Wissenschaftlers. Sie geht auf seinen Versuch ein, Beruf und Privat in Einklang zu bringen. Seine Experimente haben ihren Weg in das Heim der Familie Darwin gefunden, manchmal sehr zum Leidwesen von Emma, die sich am Ende jedoch aus Liebe zu ihrem Charles mit seinen Regenwürmern, Käfern, Saubohnen etc. arrangiert.
"Selbst Emma, die ein Leben lang Versuche nicht nur in der Küche, sondern auch im Esszimmer hatte erdulden müssen, schloss die Tiere in Herz, was auch daran lag, dass der Regenwurm von Experiment zu Experiment mehr Persönlichkeit preisgegeben und schließlich sogar einen ausgeklügelten Intelligenztest bestanden hatte." (S. 34)
Marx wird bei Ilona Jerger zum Hypochonder, der auf jedes Zipperlein achtet. Die Betreuung durch Dr. Beckett ist Marxs' Freund Friedrich Engels zu verdanken, der den mittellosen Antikapitalisten finanziell unterstützt.

Das Buch endet, wie es enden muss. Alles deutet darauf hin, dass Darwin am Ende sterben wird. Und trotzdem sind die letzten Tage von Darwin sehr ergreifend, zumal Ilona Jerger diesem großartigem Mann mit viel Feingefühl und Respekt begegnet. Die Trauer und der Schmerz der Angehörigen sind am Ende spürbar. Darwin scheint menschlich und in der Wissenschaft eine Lücke zu hinterlassen, die nicht so ohne weiteres zu schließen ist.
Auch Marx wird in diesem Buch am Ende sterben. Doch hier merkt man den Unterschied im Ansehen der beiden Persönlichkeiten. Während Darwin ein Staatsbegräbnis in der Westminster Cathedral zu London erhält und in allen Ehren beigesetzt wird - selbst seine Gegner erweisen ihm die letzte Referenz -, wird Marx wie ein Niemand auf irgendeinem Friedhof in London zu Grabe getragen. Lediglich seine engsten Angehörigen, wenige Anhänger und noch weniger Freunde, stehen an seinem Grab. 

Fazit:
Ein Roman über zwei Männer, die nicht nur durch ihr Lebenswerk zu beeindrucken wussten. Egal, ob sie sich wirklich getroffen haben - man möchte es Ilona Jerger in ihrem charmanten Roman gern glauben. Ein echtes Lesehighlight!

© Renie





Über die Autorin:
Ilona Jerger ist am Bodensee aufgewachsen und studierte Germanistik und Politologie in Freiburg. Von 2001 bis 2011 war sie Chefredakteurin der Zeitschrift „natur“ in München. Seither arbeitet sie als freie Journalistin. Als Sachbuchautorin hat sie bei C.H. Beck und Rowohlt veröffentlicht. Und Marx stand still in Darwins Garten ist ihr erster Roman. (Quelle: ullstein)

Donnerstag, 10. August 2017

Zoran Ferić: In der Einsamkeit nahe dem Meer

Quelle: Pixabay / PuraVida
Der Roman des kroatischen Autors Zoran Ferić "In der Einsamkeit nahe dem Meer" führt uns in die Welt der Möwen. Auch wenn dieses Buch kein Tierroman ist, so behandelt es doch tierische Instinkte. Denn in diesem Roman wird "rumgemacht" - aber nicht nur!

Die "Möwen" - so bezeichnet man einen Schwarm junger Männer auf einer kroatischen Urlaubsinsel, die ihre Sommer damit verbringen, Jagd auf Touristinnen zu machen. Am Ende jedes Sommers wird die Anzahl der Eroberungen miteinander verglichen: Wer durfte bei den meisten Frauen ran? Wie geschickt oder ungeschickt stellten sich die Frauen bei der Befriedigung der sexuellen Gelüste der Möwen an? Mit dem Ende des Sommers verschwinden auch die Touristinnen. Im Sommer wird der Körper befriedigt, im Winter der Geist. Denn egal wie primitiv die jungen Männer dem Leser im Sommer erscheinen, im Winter widmen sie sich ihrer Ausbildung und ihrem Beruf. Viele von ihnen studieren und überwintern daher auf dem Festland. Der nächste Sommer wird sie wieder auf ihre Insel schwärmen lassen, und die Jagd auf die Touristinnen geht wieder von vorne los.

Zugegeben, der Plot hat mich zunächst zweifeln lassen. Denn welche Leserin hat Spaß an einem Szenario, in dem Frauen als Freiwild behandelt und scheinbar auf das Fleischliche reduziert werden. (Ich kenne zumindest keine ;-))

Ich habe mich jedoch gefragt, was Zoran Ferić, derzeit Gymnasiallehrer für Kroatisch und nebenbei mehrfach dekorierter Autor mit Publikationen in mehreren europäischen Ländern, aus diesem Plot macht. Und tatsächlich hat mich Zoran Ferić überrascht.
Denn der Autor hat aus seinem Buch viel mehr gemacht als "einen wilden Roman über die Liebe". Man wird als Leser schnell feststellen, dass hinter der Gruppe der Möwen viel mehr steckt als das Liebesleben instinktgesteuerter junger Männer.
"Er ein großer schöner Mann mit schwarzem Haar, sie klein, dick, gedrungen, mit großen Brüsten. Sie sind völlig verschieden. Sie haben sich in das verliebt, was sie nicht sind. Sie in die Schönheit, er in die Durchschnittlichkeit. Oder sie in das, was er an ihrem Aussehen nicht mag, und er in die eigene Großmütigkeit." (S. 209)
Die einzelnen Kapitel in diesem Buch sind hauptsächlich der Eroberung einer Frau gewidmet. Der Beginn eines Kapitels konzentriert sich zunächst auf den Eroberer. Zoran Ferić gibt den Männern ein Profil, beschreibt ihre Herkunft, ihre Beweggründe, aber auch ihre Eroberungsstrategie. Aus der Sicht des Mannes wird die Frau beschrieben, um die es in dem Kapitel geht. Dadurch zeichnet sich langsam ein Profil der jeweiligen Frau ab. Im weiteren Verlauf des Kapitels erhält diese Frau immer mehr Raum. Und plötzlich hat man den Eindruck, dass diese Frau auf einmal im Mittelpunkt dieses Kapitels steht. Die Frauen, um die es hier geht können nicht unterschiedlicher sein: Junge, Alte, Mädchen, Dame, Touristin, Einheimische, Jungfrau, Witwe ... um nur einige zu nennen. Sie haben die unterschiedlichsten Beweggründe, sich auf das Spiel des Möwen-Mannes einzulassen: sie möchten sich beweisen, dass sie auch im Alter noch attraktiv und liebenswert sind; sie sind auf Abenteuer aus; sie suchen Romantik; sie suchen Trost; sie suchen Sex...
"Er war wie Belmondo, der einen ungeschickten Verführer spielt, wie Alain Delon, der kaum einmal komisch daherkommt, wie Humphrey Bogart in seinen zärtlichen Momenten, den Dolch wie ein Kanarienvogel mit gelbem Flaum umhüllt. Dort, wo sie einen Provinzler sahen, der einen Cowboy imitiert, sah sie einen mutigen jungen Mann, der sich nicht um die Umgebung kümmerte, dort, wo sie Servilität sahen, sah sie wieder Mut, dort wo sie einen Aufdringling sahen, sah sie Aufrichtigkeit, die sich an der Schönheit weidet, und dort wo sie den Versuch sahen, sie zu verführen, sah sie sein Talent, verführt zu werden." (S. 86)
Der Autor Zoran Ferić hat mich mit seiner sehr bildhaften und fantasievollen Sprache überzeugt. Allein schon der Titel "In der Einsamkeit nahe dem Meer" deutet auf Melancholie hin, die sich in hohem Maße in dem Roman wiederfindet. Diese Kombination aus Sommer, Urlaub und Melancholie, versetzt den Leser in eine Stimmung, die dem Gefühl beim Betrachten eines Sonnenuntergang am Meer nächsten kommt. Das ist einfach nur schön!

Fazit:
Ein melancholisches Sommerbuch, das sich durch einen sehr stimmungsvollen Sprachstil auszeichnet. Der Triebfaktor und das "Rumgemache" sind zwar manches Mal nervig und des Guten zuviel. Aber am Ende überzeugt die Darstellung der einzelnen Charaktere, insbesondere die der Frauen. Der Autor gibt ihnen ein Profil und lässt sie somit vom anonymen Beutetier zum Menschen mit Seele werden.

© Renie






Über den Autor
Geboren 1961 in Zagreb. Studium an der Philosophischen Fakultät von Zagreb. Derzeit Gymnasiallehrer für Kroatisch. Zahlreiche Publikationen in kroatischen Zeitschriften wie in „Polet “, „Studentski list“, „Pitanja “, „Oko “, „Quorum “, „Plima “, „Evropski glasnik “ und „Torpedo “. Seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt, u. a. ins Englische, Italienische, Polnische, Spanische, Slowenische, Ukrainische, Montenegrinische. (Quelle: Folio Verlag)

Freitag, 4. August 2017

Hari Kunzru: White Tears

Quelle: Pixabay / hans2609
Herbst Blues, Winter Blues, Baby Blues ... Blues Musik ... Melancholie, Stimmungstief. Der Begriff "Blues" und damit auch die Musikrichtung, die ihren Ursprung Anfang des 19. Jahrhunderts im Süden der USA fand, wird häufig mit Traurigkeit in Verbindung gebracht. Jetzt musste ich gerade lernen (Wikipedia sei Dank), dass diese Denkweise ein Klischee der Weißen ist. Denn tatsächlich gibt es viele Blues Stücke, die eher beschwingt und lustig sind. Kaum zu glauben! Denn der Text vieler Lieder behandelt Themen wie "Diskriminierung, Verrat, Verbrechen, Resignation, unerwiderter Liebe, Arbeitslosigkeit, Hunger, finanzieller Not, Heimweh, Einsamkeit und Untreue". Und diese Themen mit Beschwingtheit und Witz zu vermitteln, zeugt schon fast von Galgenhumor. 
Der britische Autor Hari Kunzru orientiert sich in seinem Roman "White Tears" an genau diesem Klischee, was ich ihm nicht krumm nehme. Wie könnte ich auch, da ich selbst mit hartnäckig an diesem Klischee festhalten. Denn Klischee hin oder her, zum Blues gehört auch für mich eine Riesenportion Melancholie. Und das ist genau die Stimmung, die  sich in Hari Kunzrus Roman über einen ganz besonderen Blues Musiker, wiederfindet.

Der Ich-Erzähler Seth sammelt den Lärm und die Geräusche des Alltags in seiner Stadt. Dazu streift er durch die Straßen New Yorks und nimmt auf, was ihm zu Ohren kommt. Später wird er die Aufnahmen in einem Tonstudio, das er zusammen mit seinem besten Freund Carter betreibt, zu Klangexperimenten vermischen. 
Seth und Carter sind ein ungleiches Gespann. Kaum zu glauben, dass sie beste Freunde sind. Aber die Leidenschaft für Musik scheint die beiden zu Seelenverwandten gemacht zu haben. Seth kommt aus einfachen Verhältnissen. Bevor er Carter kennenlernte, wusste er oft nicht, wie er finanziell über die Runden kommen soll. Ganz anders Carter. Er ist der jüngste Sohn einer reichen Familie. Seine Herkunft sichert den Unterhalt des Tonstudios und finanziert das Leben der beiden Freunde. Fast scheint es, als ob Carter seinen Reichtum und seine Herkunft als Belastung empfindet. Denn er versucht, sich mit aller Gewalt von dem Rest seiner Familie zu unterscheiden. Im Tonstudio ist Seth der kreative Kopf, Carter ist der Financier. Die ungleiche Freundschaft scheint zu funktionieren.
Carter entdeckt seine Leidenschaft für schwarze Musik - dem Blues. Wahrscheinlich ist auch das ein Versuch, sich von dem Bild des reichen Söhnchens, der seiner Familie auf der Tasche liegt, zu distanzieren. Er gibt sich mit nicht weniger zufrieden als den ersten Vinyl-Scheiben, auf denen die Anfänge des Blues vertont wurden. Dabei entwickelt er eine Sammelleidenschaft, die fast schon zur Obsession wird.

Währenddessen entdeckt Seth auf einer der Aufnahmen seiner Streifzüge durch New York, den Gesang eines Mannes, der sowohl ihn als auch Carter beeindruckt.
"Believe I buy a graveyard of my own
Believe I buy me a graveyard of my own
Put my enemies all down in the ground"
Sie hören den Text, aber sie können nicht herausfinden, welchen Ursprung dieses Lied hat. Es gibt keine offizielle Veröffentlichung zu diesem Song. Spaßeshalber erschaffen sie den fiktiven Blues Musiker Charlie Shaw, stellen den Song ins Netz und sind gespannt auf die Reaktionen zu diesem Stück.
Die Reaktionen lassen nicht lange auf sich warten, doch sie fallen anders aus als erwartet. Charlie Shaw, der fiktive Blues Musiker, hat wirklich existiert. Und mit diesem unglaublichen Wissen ändert sich das Leben von Seth und Carter auf dramatische Weise. Seth wird sich auf einen Trip quer durch Amerika begeben und wird versuchen, dem unheimlichen Geheimnis um Charlie Shaw auf die Spur zu kommen. Carter wird ihm nicht dabei helfen.

Hari Kunzru hat mit seinem Roman eine unvergleichliche Geschichte geschaffen. Ich möchte mich in meiner Rezension zunächst auf die Dinge konzentrieren, die mich begeistert haben.

Man hört mit den Augen
Der Autor schafft es mit einem sehr atmosphärischen Sprachstil, dass ich "mit den Augen" gehört habe. Geräusche, Töne und natürlich die Musik sind ein wesentlicher Bestandteil seines Buches und geisterten mir bei der Lektüre permanent durch den Kopf, was eine interessante Leseerfahrung war. 
"Meine Sinne sind hellwach. Ich höre überall Obertöne, sie verbinden das Zischen der Toilettenspülung im Zimmer nebenan mit dem unregelmäßigen Schnarren der Klimaanlage und dem Vorbeirauschen eines Trucks auf dem Highway, der die Fliegengitter zum Flattern bringt." (S. 188)
Die Geschichte des Blues
Hari Kunzru führt uns in die Anfänge der Blues Musik. Viele Größen dieses Genres werden genannt, genauso wie Songs aus der damaligen Zeit. Der Autor muss einen enormen Rechercheaufwand betrieben haben, wenn er nicht auch selbst ein großer Fan der Musikrichtung ist.

Sammelleidenschaft Vinyl
In Zeiten von MP3 und Streamingdiensten erscheint die Sammelleidenschaft für Vinyl-Schallplatten, die die Protagonisten in diesem Roman an den Tag legen, fast schon nostalgisch. Die Sammlerszene ist in "White Tears" ein eigenes Völkchen und legt einen enormen Aufwand (nicht nur finanzieller Art) an den Tag, auf der Jagd nach dem "Schatz". Dabei stellen Label, Auflagen, Pressung, Label-Press-Nummer etc. ein wichtiges Selektrionskriterium dar und bestimmen den Wert einer Schallplatte. Es werden Unsummen für die "einzigartige Scheibe" gezahlt, die sich die meisten Sammler eigentlich nicht leisten können.

Stimmung
Melancholie - von der ersten bis zur letzten Seite! Fast könnte man meinen, dass man sich selber in einem Bluesstück befindet. 

Handlungsverlauf
Am Anfang steht die Freundschaft zwischen Seth und Carter im Focus. Die Handlung plätschert vor sich hin. Doch auf einmal entwickelt sich ein Szenario, das Ähnlichkeit mit einem Mistery-Roman hat und zum Ende zu einem Thriller wird. Der fulminante Abschluss der Geschichte eröffnet dabei völlig neue Szenarien, die für mich nicht vorherzusehen waren.
"Ich habe das Gefühl, nicht mehr Herr über mein Leben zu sein. Nichts von dem, was ich tue, kann mich in meinem Innersten berühren. Meine Erinnerungen sind ein Geflecht aus verschwörerischen Verbindungen. Alles ist schon passiert. Ich bin nur ein Mann, der auf einem Stuhl sitzt und eine Aufnahme hört, die vor langer Zeit entstanden ist. Die Nadel bewegt sich in einer vorgegebenen Bahn. Früher oder später wird sie auf die Auslaufrille treffen." (S. 202)
Trotz aller Begeisterung gibt es auch einen Aspekt, der mir einiges abverlangt hat. Die Geschichte findet ab der Hälfte des Romans auf 2 Handlungsebenen statt. In dem Moment, wo der fiktive Charlie Shaw zu einer existierenden Person wird, wechselt die Erzählperspektive zwischen Seth und Charlie, der Anfang des 19 Jahrhunderts gelebt haben soll. Anfangs sind die Übergänge zwischen den beiden Perspektive klar zu erkennen, doch mit der Zeit verwischen die Grenzen, so dass sich Handlungen und Gedanken von Seth und Charlie kaum noch auseinander halten lassen. Das ist verwirrend und hat bei mir häufig ein kleines Lesechaos verursacht, das ich zunächst aufdröseln musste, bevor es in der Lektüre weiterging.

Fazit:
Ein besonderer Roman mit einem ungewöhnlichen Plot, der den Leser "mit den Augen" hören lässt.

© Renie





Über den Autor:
Hari Kunzru, 1969 in London geboren, gehört zu den wichtigsten britischen Autoren seiner Generation. Für seinen Debütroman »The Impressionist« erhielt er 2003 u.a. den Betty Trask Award und den Somerset Maugham Award. Er wurde in die renommierte Granta-Liste aufgenommen und 2005 bei den British Book Awards als Autor des Jahres ausgezeichnet. Er veröffentlichte bislang vier Romane, die in über zwanzig Sprachen übersetzt wurden. Darüber hinaus schreibt er regelmäßig für den »Guardian«, den »Economist« und »Wired«. 2016 war Hari Kunzru Fellow an der American Academy in Berlin, derzeit lebt und arbeitet er in New York. (Quelle: Liebeskind)