Sonntag, 31. März 2019

Daniela Krien: Die Liebe im Ernstfall

Quelle: Pixabay/geralt
Die perfekte Frau (aus der Sicht des Mannes): gutaussehend, sexy, eine Granate im Bett. Sie kann kochen und bügeln, sich um Haus und Garten kümmern. Sie ist für die Erziehung der Kinder zuständig, natürlich muss sie ihnen eine gute Mutter sein (was immer das heißen mag). Ein Dummchen geht gar nicht, schließlich will mann sich gepflegt mit ihr unterhalten können. Intelligent muss sie also sein, aber nicht intelligenter als der Mann. Sie sollte beruflich erfolgreich sein und ihr eigenes Geld verdienen, je mehr desto besser. Aber für den Fall, dass sie mehr verdient und beruflich erfolgreicher ist als der Mann, wäre es schön, wenn sie dies nicht an die große Glocke hängt und ihn dies spüren lässt.
Und dann sollte sie - aus ihrer eigenen Sicht - ihre Wünsche und Leidenschaften ausleben und sich selbst verwirklichen können sowie achtsam mit sich selbst sein.
Ernsthaft, die perfekte Frau gibt es nicht. Unmöglich! Aber wir Frauen neigen dazu, viele Jahre unseres Lebens damit zu verbringen, ein hohes Maß an Perfektion erreichen zu wollen.

In Daniela Kriens Roman "Die Liebe im Ernstfall" "versuchen fünf Frauen das Unmögliche. Und es braucht einige Zeit der inneren Kämpfe, seelischen Wunden und Enttäuschungen, bis sie akzeptieren, dass frau nicht alle Wege gehen kann und sich irgendwann für eine Richtung entscheiden muss.
Quelle: Diogenes
"Kein Mensch war, wie man ihn haben wollte.
Paula hoffte, dass die Zeit die Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit schließen würde." 
Die fünf Frauen, um die es in diesem realistischen und ungeschönten Frauenroman geht, heißen Paula, Judith, Brida, Malika und Jorinde. Der Gedanke liegt nahe, dass diese Frauen miteinander befreundet sind. In Frauenromanen ist das so. Doch schlägt man das Buch auf, stellt man schnell fest, dass dem nicht so ist. Daniela Krien hat jeder dieser Frauen einen eigenen Abschnitt gewidmet, Und innerhalb dieser Abschnitte lernen wir Frauen kennen, die unterschiedlicher nicht sein können. Einige sind miteinander befreundet, andere kennen sich nur flüchtig. Die eine hat der anderen den Mann ausgespannt. Zwei von ihnen sind Schwestern. Doch egal wie unterschiedlich sie sind. Sie haben eines gemeinsam. Sie fühlen sich hin- und her gerissen bei dem Versuch, die Anforderungen ihrer Partner und Familien mit ihren eigenen Wünschen, was ihr Leben betrifft, in Einklang zu bringen - sofern sie überhaupt wissen, welches ihre eigenen Wünsche sind.
Jeder Abschnitt in diesem Buch ist eine Geschichte für sich, die losgelöst von den anderen Frauengeschichten in diesem Buch erzählt werden könnte. Doch Daniela Krien hat sie zu einem großartigen Ganzen verwoben. Die Lebenswege der Frauen kreuzen sich an manchen Stellen. Das kann ein flüchtiger Moment im Vorbeigehen sein, aber auch eine langjährige Freundschaft. Also gibt es immer einen Anknüpfungspunkt zwischen den Frauen, und wenn er auch noch so klein ist.
"Sie wird ihn erinnern an das Opfer zu Beginn ihrer Beziehung und an ihr Opfer heute. Die Zweite, die von ihm Verschwiegene zu sein, hat sie seinetwegen ertragen und erträgt es erneut. Doch ihr rechtmäßiger Platz ist an seiner Seite.
Sie wird ihn erinnern an die guten Zeiten und sich entschuldigen für die schlechten.
Versprechen wird sie nichts. Zu oft schon hat sie Versprechen gebrochen. Doch das Nicht-Versprechen wird ihm zeigen, wie ernst es ihr ist. Das Nichtgesagte wird alles sagen."

Der Sprachstil von Daniela Krien ist ein Genuss. Sie beweist sehr viel Einfühlungsvermögen bei der Schilderung der Gefühlsleben ihrer Protagonistinnen.
Durch kurze und knackige Sätze liest sich das Buch dabei wie nichts. Erstaunlich ist, dass die Autorin in diese kurzen Sätze soviel Inhalt packen kann. Sie ist dabei selten konkret. Stattdessen verwendet sie Umschreibungen, die mich verzaubert haben. Daher habe ich mir gern Zeit mit diesem Buch gelassen und einfach nur jeden Satz genossen, auch gerne mehrfach.
Durch die unterschiedlichen Erzählperspektiven gewinnt man einen tiefen Einblick in das Innere der Frauen. Und schnell stellt man fest, dass die Protagonistinnen Träume und Wünsche haben, die einem selbst nicht fremd sind. Dadurch ist man diesen Frauen sehr nahe und spürt bei einigen sogar eine Seelenverwandschaft.

Ein ehrliches und sehr persönliches Buch über die Frau mit all ihren Facetten, geschrieben in einer Sprache, die unter die Haut geht.

Leseempfehlung! (Was denn sonst?)

© Renie

Donnerstag, 21. März 2019

Ryū Murakami: In Liebe, dein Vaterland - Teil I: Die Invasion

Quelle: Pixabay/OpenClipart-Vectors
So viel ist sicher, aus einem Stoff, wie ihn der Roman "In Liebe, dein Vaterland" des Japaners Ryū Murakami beschreibt, werden in Hollywood die reißerischsten Action-Filme gedreht:
Eine nordkoreanische Soldatentruppe bringt das Baseball-Stadion der japanischen Stadt Fukuoka in seine Gewalt und nimmt somit mal eben 30.000 Geiseln. Bei den Hollywoods würde irgendwann eine heldenhafte Truppe, angeführt von einem kernigen Supermann, dem Ganzen ein Ende bereiten und die Geiseln befreien, natürlich nicht ohne spektakuläre Knalleffekte. Auf jeden Fall würden am Ende die Guten siegen. Denn die Guten siegen immer.
In "In Liebe, dein Vaterland (Teil I)" ist jedoch nicht ganz einfach zu entscheiden, wer hier die Guten sind. Daher lässt sich auch nicht vorhersagen, welchen Ausgang die Geiselnahme und die daraus resultierenden Folgen nehmen werden. Am Ende dieses Buches, welches das erste von zwei Teilen ist, sowieso nicht. Wir müssen schon bis zum Ende des zweiten Buchs (Der Untergang) warten, um zu wissen, wie die ganze Chose ausgehen wird.
Quelle: Septime

"Der Plan war unschlagbar und Pak Yong-su konnte seine Aufregung kaum zügeln. Die Landsleute im Süden würden verschont bleiben, und die Heimat auch. Der Krieg würde auf überseeischem Territorium stattfinden. Blut würde fließen und Städte würden zerstört, doch nur in jenem Land, das einst das Vaterland beherrscht, zahllose Menschen zwangsumgesiedelt und damit die Ursache für die Teilung geschaffen hatte. Im verhassten Japan."
Die Geiselnahme gehört im Übrigen zu einem Plan, der am Ende vorsieht, den Süden Japans in eine Provinz Nordkoreas zu verwandeln. Es bleibt also nicht bei der Handvoll Nordkoreaner, die sich in Fukuoka breit machen. Sie machen nur den Anfang. Kurz nach dem Überfall auf das Baseball-Stadion treffen auch schon die nächsten nordkoreanischen Spezialeinheiten ein und besetzen das Zentrum der Stadt. In verblüffender Geschwindigkeit richten sich die Truppen hier ein, stellen ihre Forderungen und diktieren den Verantwortlichen der Stadt, wie die Übernahme verlaufen soll. Die Politiker sind überfordert, ganz Japan ist überfordert. Denn dieses Land hat seit geraumer Zeit andere Probleme, insbesondere seitdem der ehemalige Freund USA sich von Japan abgewandt hat und mit China und Nordkorea sympathisiert. Japan steht am wirtschaftlichen Abgrund, was sich in extremem Ausmaß bei der Bevölkerung bemerkbar macht. Hinzu kommt, dass Japan mit der militärischen Präzisionsarbeit der Nordkoreaner überfordert ist. Japan ist nicht gewohnt, mit Militärschlägen konfrontiert zu werden. Die Zeiten, in denen das japanische Militär gefordert war, liegen schon Ewigkeiten zurück.
"Der Wunsch aufzugeben breitete sich wie ein Gestank nach faulen Eiern am Runden Tisch aus. Aufgeben bedeutete, sich einer überlegenen Macht zu unterwerfen und jeden Gedanken an Widerstand fallen zu lassen. An die Macht kam man durch Gewalt, und durch Gewalt hielt man sie aufrecht. Menschen, die lange im Frieden gelebt hatten und nicht an Gewalt gewöhnt waren, empfanden sie als unmenschlich und konnten sich nicht einmal vorstellen, wie es war, Gewalt ausgesetzt zu sein. Und wer keine Vorstellung von Gewalt hatte, konnte sie auch nicht anwenden."
Japans Politiker-Elite reagiert mit Hilflosigkeit auf die Bedrohung. Und was ein guter (japanischer) Politiker ist, der weist erstmal jegliche Verantwortung von sich und sucht sich mindestens einen Schuldigen, der bei etwaigen Fehlentscheidungen geopfert wird. Das Wohl der Bürger von Fukuoka steht hintenan. Zunächst gilt es, die eigene Haut und Polit-Karriere zu retten.

Die Besetzung der Stadt erfolgt anfangs relativ unspektakulär. Die Besatzer erweisen sich als sehr höflich und versuchen, die Unannehmlichkeiten für die Bevölkerung so gering wie möglich zu halten. Ein feiner Zug von ihnen, der von den Einwohnern wohlwollend registriert wird. Doch sollte man die Nordkoreaner nicht unterschätzen. Sie sind nämlich nicht zimperlich bei der Wahl ihrer Mittel, sobald sie auf den kleinsten Widerstand stoßen. 

Die Geschichte wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Murakami konzentriert sich dabei auf mehrere Gruppen, die an dem Szenario beteiligt sind. Diese Gruppen können nordkoreanische Militärgruppen, japanische Politiker, Journalisten etc. sein. Irritierend ist dabei eine Gruppe von kriminellen jungen Japanern, teilweise mit terroristischem Hintergrund. Diese Gruppe spielt zu Beginn des Roman eine Rolle, taucht aber später nicht mehr auf. Diese Japaner scheinen die Underdogs in der Geschichte zu sein. Eine Gruppe von kriminellen Außenseitern, die in der japanischen Gesellschaft keinen Fuß fassen konnten, aber das Zeug dazu haben, hinterher als Helden an dem Geschehen in Fukuoka mitzuwirken. So liefe das zumindest in Hollywood. Und man hofft, dass sich diese Entwicklung auch bei Murakami findet. Doch, ob es dazukommt, wird sich erst im zweiten Teil dieser Geschichte zeigen. Denn wie gesagt, diese Gruppe findet im Verlauf des ersten Teils nicht mehr statt, aber dennoch spürt man, dass sie eine besondere Bedeutung haben werden.

Der erste Teil endet mit dem Belagerungszustand in Fukuoka und dem Moment, wo die netten Besatzer zu Herrschern werden und nicht mehr so freundlich sind, wie sie ursprünglich waren.

Dieser Roman wird als Dystopie, Satire und Politthriller bezeichnet. Das kann ich nur unterschreiben, denn dieser Roman ist so vielschichtig, dass man ihn auf keinen Fall einem einzigen Genre zuordnen kann. Diesen Roman zu lesen verursacht Spannung, ungläubiges Kopfschütteln, aber auch Unwohlsein bei dem Gedanken wie schmal die Gratwanderung zwischen Fiktion und Realität ist. Auf jeden Fall ist er ein grandioser Roman mit einem ungeheuren Spannungsaufbau, der mich neugierig auf den 2. Teil macht.

Leseempfehlung!

© Renie




Mittwoch, 20. März 2019

Steffen Herbold, Martin Burkhardt (Ill.): Die stramme Helene

Quelle: kunstanstifter
Ich komme aus einer Gegend, in welcher das Wörtchen "stramm" auch "betrunken" bedeuten kann. Also,  jemand, der stramm ist, ist extrem beschickert. Daher musste ich doch sehr schmunzeln, als ich den Titel dieses Buches las: "Die stramme Helene". Dieser Titel in Verbindung mit dem Buchcover hat mir noch mehr Vergnügen bereitet: Denn hier steht die alte Helene in Kittel und Pantoffeln in ihrer Küche. Ich kann mich gut an diese Art von Kittel und Pantoffeln erinnern, habe ich sie doch in meiner Kindheit oft an meiner Großmutter gesehen. Kein Wunder also, dass ich mit großem Vergnügen in dieses Buch eingestiegen bin. Aber schon während der ersten Sätze stelle ich fest, dass Schluss mit Lustig ist. Denn von jetzt an wird es traurig.
Eigentlich hätte man bei näherem Hinsehen feststellen können, dass Helene, die in ihrer Küche steht, weniger stramm als niedergeschlagen und nachdenklich wirkt. Und was sie so beschäftigt, erfahren wir jetzt.

Helene gehört zu einer Generation von Frauen, die bei den Männern nicht viel zu melden hatten. Ihr Lebenszweck bestand darin, für das Wohl des Mannes zu sorgen. Manche Männer gaben sich damit zufrieden. Andere setzten noch einen drauf, indem sie ihre Frauen auch gern als Ventil für ihre angestaute Wut - weswegen auch immer - benutzten. Da gab es auch schon mal Schläge für sie. Irgendwohin musste Mann ja mit seiner Wut - weswegen auch immer.
"Weil der Karl Salat kaufen verboten hat. Auch wenn so ein Salat nur ein paar Pfennige kostet. Verboten ist verboten. Denn der Karl will nur Wurst und Brot, was anderes will er nicht, und sie hat zu gehorchen. Sonst gibt es paar auf die Schnauze."

aus "Die stramme Helene"
Helene hat ihren Karl während des Krieges kennengelernt. Er war auf einmal da. War es Liebe, die sie zu ihm hinzog? Wohl eher nicht. Aber Frau musste unter die Haube gebracht werden, eine andere Zukunft außer die einer Ehefrau gab es damals nicht für sie. Da sie bereits schon im hohen Alter von 40 Jahren war, war der Ehezug für sie fast schon abgefahren. Aus der Not heraus nimmt Frau dann auch mal einen bekannten Schläger zum Ehemann. Scheinbar kam Helene vom Regen in die Traufe, denn auch ihrem Vater saß die Schlaghand stets locker.

So vergingen also die Jahre. Helene fügte sich in ihr Schicksal. Karl ließ des Öfteren seine Wut - weswegen  auch immer - an ihr aus. Und Helene entwickelte dabei ihre kleinen Geheimnisse, um die Wut von Karl einigermaßen unter Kontrolle zu halten, was nie einfach war. Werden Männer jetzt ruhiger, wenn sie älter werden? Fehlanzeige. Und eines Tages kommt ihr Karl wieder von der Arbeit nach Hause, der Abendbrottisch ist gedeckt. Doch der Abend wird diesmal ganz anders enden, als die unzähligen Abende zuvor.

Und von diesem ganz besonderen Tag im Leben von Helene und ihrem Karl berichtet dieses feine Büchlein. Einem Tag, an dem Helene auf ihr Leben zurückblickt. Einem Tag, in dem sich Helenes kleine Geheimnisse zeigen, um Karl im Zaum zu halten. Und plötzlich wird aus dieser unscheinbaren und verletzlichen Frau eine ganz starke Person, die nur auf den einen Moment gewartet hat und ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt. Grandios!

aus "Die stramme Helene"
Im ersten Moment erscheint die Grundstimmung dieser Erzählung sehr trübsinnig und hoffnungslos. Helene scheint zu resignieren und hat sich mit ihrem traurigen  Leben abgefunden. Diese Stimmung wird durch die Farbgebung der Illustrationen von Marin Burkhardt (gedeckte Farben) betont. Nur manchmal taucht ein fröhlicher Farbtupfer auf, z. B. in Form einer Grünpflanze mit dem sinnigen Namen Trostlosie (eigentlich ist es eine Sansevierie) oder eines Kopfsalates. Diese Farbtupfer vermitteln Hoffnung und der Leser ahnt, dass dieses traurige Leben, welches Helene führt, noch nicht alles gewesen sein kann. Insofern überrascht es nicht, wenn die Erzählung auf ein hoffnungsvolles Ende hinausläuft.
Eine sehr schöne Erzählung, die aufgrund des Schicksals von Helene, das nicht ungewöhnlich für die Frauen ihrer Generation war, sehr berührt. Durch die gestochen scharfen Illustrationen bleibt nicht viel Platz für die eigene Vorstellungskraft. Sie beschreiben diesen ganz besonderen Tag von Helene und Karl im Detail. Man lässt sich aber gern auf diese Bilder ein, spiegeln sie doch eindrucksvoll den Zeitgeist der 60er Jahre im Arbeitermilieu wieder, in dem es vermutlich ganz viele Helenes gab.

© Renie




Mittwoch, 13. März 2019

Han Kang: Deine kalten Hände

Quelle: Pixabay/Eukalyptus

"Ich verstehe dich nicht. Aber ich mag dich trotzdem." 
Das würde ich dem Roman "Deine kalten Hände" der Koreanerin Han Kang sagen, wäre dieses Buch ein Mensch - also im übertragenen Sinne. Denn dieser Roman steckt voller Symbolik und fordert dem Leser einiges an Abstraktionsfähigkeit ab. Ich habe mich bemüht, ich habe den Roman sehr gern gelesen, aber die Symbolik und der emotionslose Protagonist haben mich am Ende doch an meine Grenzen gebracht. Dennoch habe ich den Sprachstil der koreanischen Autorin sehr genossen, so dass es mir ein Leichtes war, diesen Roman zügig und gern zu lesen. Verrückt!

Bei „Deine Kalten Hände“ handelt es sich um eine Geschichte in einer Geschichte. Die Autorin wählt einen autobiografischen Einstieg. Der Bildhauer Jang, ein flüchtiger Bekannter von ihr, ist verschwunden. Dies erfährt sie von seiner Schwester, die sich mit seinen Aufzeichnungen, in denen die Autorin namentlich erwähnt wird, an sie wendet. Die Schwester hat die Hoffnung, dass Han Kang ihr bei der Aufklärung des Geheimnisses um das Verschwinden ihres Bruders helfen kann. 
Quelle: Aufbau
Die Autorin liest also Jangs Aufzeichnungen und mit ihr der Leser. Ob Jang am Ende wieder aus der Versenkung auftauchen wird, ist für die Geschichte unerheblich. Wichtig ist, als welcher Mensch sich der Bildhauer anhand der Notizen dem Leser präsentiert (bzw. nicht präsentiert).
"Ich hatte die unklare Ahnung, dass diese Ruhe in seinen Augen kein friedliches Inneres widerspiegelte, sondern sich wie ein dünnes Häutchen über etwas Unheimlichem spannte."
Die Aufzeichnungen beschreiben zunächst Jangs Kindheit. Er wächst in einer wohlhabenden Familie auf. Bezeichnend ist die Lieblosigkeit, der er ausgesetzt ist. Insbesondere seine Mutter ist eine Meisterin darin, nach Außen das Bild der liebevollen Mutter zu präsentieren, ihrem Sohn gegenüber jedoch Gefühlskälte an den Tag zu legen.
Mit den Jahren entdeckt Jang sein künstlerisches Talent. Er hat Erfolg als Bildhauer. Seine Kunst ist sehr speziell. Er fertigt Gipsabdrücke von menschlichen Körperteilen an, bis hin zu Masken von Gesichtern. Über seine Kunst versucht er, seine Kindheit zu verarbeiten und das, was sie aus ihm gemacht hat: Einem Menschen, der beobachtet. Der seinen Mitmenschen mit Freundlichkeit begegnet, aber nie etwas von sich Preis gibt. Seine Modelle sind durch die Bank weg Frauen. Insbesondere die Geheimnisvollen haben es ihm angetan. Das Aussehen spielt keine Rolle. Er versucht, hinter die Geheimnisse dieser Frauen zu kommen. Die Skulpturen, die er dabei von ihnen anfertigt, haben symbolischen Charakter.
"Wenn ich spürte, dass jemand etwas verbarg, entstanden bei mir Sympathie und eine Art Faszination für die betreffende Person, und zwar umso stärker, je weniger fassbar das Geheimnis war." 
Und gerade diese Symbolik, die einen großen Raum in dieser Geschichte einnimmt, macht diesen Roman zu einem sehr unbequemen. Einerseits ist es großartig, wenn man beim Lesen gefordert wird, also nicht nur vom Autor mit einer Geschichte berieselt wird, sondern auch reflektieren muss. Aber andererseits kann Symbolik auch frustrieren, insbesondere, wenn man sie nicht versteht, so sehr man sich auch anstrengt.  Die Autorin gewährt dem Leser unendlich viel Raum für Spekulationen, was des Guten zuviel war. Da ich den Anspruch hatte, hinter die Symbolik des Romans zu steigen, war ich nie mit meinen Erklärungsansätzen zufrieden.

Dennoch hat dieser Roman eine unglaubliche Faszination auf mich ausgeübt. Wie der Titel "Deine kalten Hände" schon andeutet, geht es in dieser Geschichte frostig zu. Frostig, nicht im Sinne von Niedrigtemperaturen sondern im Sinne von Gefühlskälte. Jang scheint nicht in der Lage zu sein, Emotionen zu zeigen. Er beginnt zwar mit dem einen oder anderen seiner Modelle eine Beziehung. Dennoch scheint seine Hingabe zu der jeweiligen Frau eher in seinem Interesse an deren Geheimnis begründet zu sein. Er gibt nichts von sich Preis, lässt die Frauen nicht an sich heran, und den Leser erst recht nicht. Er ist ein netter Kerl. Aber das, was er von sich zeigt ist nur Fassade. Diese Distanz durchzieht den Roman von Anfang bis zum Ende. Das macht ihn zu einer sehr unbequemen Lektüre. Schließlich will man den Protagonisten verstehen. Man muss ihn nicht mögen. Aber zumindest möchte man in der Lage sein, ihn zu charakterisieren. Das funktioniert hier nicht. U. bleibt ein Fremder.
"Das Leben ist eine Hülle, die sich über einem Abgrund wölbt, und wir leben darauf wie maskierte Akrobaten. Mal hassen wir, mal lieben wir, und manchmal brüllen wir vor Wut. Über unseren Kunststücken vergessen wir, dass wir vergänglich sind und sterben müssen."
Im krassen Gegensatz zu dieser unbequemen Geschichte, steht die Sprache, in der sie erzählt wird. Han Kang ist eine große Poetin. Die Sprache, die sie verwendet ist wunderschön und geht mitten ins Herz. Man könnte fast sagen, dass das, was der Geschichte und dem Protagonisten an Emotionen fehlt, sich tausendfach in dem unglaublichen Sprachstil wiederfindet.

Daher komme ich zu folgender Erkenntnis:
Scheinbar muss man nicht alles verstehen, was man liest, solange es gut geschrieben ist. Und "Deine kalten Hände" ist mehr als gut geschrieben.

© Renie


Sonntag, 10. März 2019

Markus Zusak: Nichts weniger als ein Wunder

Quelle: Pixabay/Bernhard_Staerck
Nichts weniger als ein Wunder habe ich erwartet, als ich gleichnamigen Roman von Markus Zusak das erste Mal aufschlug. Denn mit seinem Roman "Die Bücherdiebin" hat er vor etlichen Jahren einen Erfolg rausgehauen, der kaum zu toppen ist. Wenn ein Autor es also schafft, hier noch einen drauf zu setzen, grenzt dies an ein Wunder.
Und der neue Roman steckt voller Wunder. Ich war verwundert. Vieles in diesem Roman ist wunderlich. Doch am Ende fügt sich alles zu einem wundervollen Ganzen.

Ich gebe zu, anfangs hatte ich meine Startschwierigkeiten mit diesem Roman. Der Sprachstil von Markus Zusak ist sehr speziell. Das Textbild erinnert stellenweise an Lyrik, die Sätze wirken fragmentarisch. Hinzu kommt eine Symbolik, die überfordert ... so meint man zumindest. Denn wenn man den Fehler macht, diese Symbolik und Vieldeutigkeit im Detail verstehen zu wollen, beißt man sich die Zähne daran aus. Bei diesem Roman zählt das Gesamtpaket. Viele Dinge erklären sich im Verlauf des Romans, so dass sich rückblickend alle Fragen beantworten lassen. Man muss sich nur darauf einlassen.
Quelle: Randomhouse/Limes
"Wir träumten in unseren Zimmern und schliefen.

Wir waren Jungen, und wir waren wundersam.
Wir lagen da, lebendig und atmend - 
denn das war die Nacht, in der er uns umbrachte.
Er hatte uns im Schlaf ermordet."
Entgegen meiner bisherigen Vorgehensweise beim Schreiben von Rezensionen, in ein paar Sätzen den Inhalt eines Buches zu skizzieren, beschränke ich mich hier auf ein absolutes Minimum. Dies tue ich nicht, weil es nichts zum Inhalt zu berichten gibt. Nein, ganz im Gegenteil. Zusak hat sehr viel zu erzählen. Aber tatsächlich ist dieser Roman eine Wundertüte und steckt voller Überraschungen. Ich habe diese Überraschungen sehr genossen und möchte keinen Leser um seinen persönlichen Spaß bringen. Daher liefere ich hier nur ein paar Stichworte:
Es geht um die Familie Dunbar in Australien: 5 Söhne (wovon einer der Ich-Erzähler dieses Romans ist), Vater Michael und Mutter Penelope sowie diverse Haustiere mit den schönen Namen der klassisch griechischen Mythologie (einen Goldfisch "Agamemnon" zu nennen, ist schon sehr eigenwillig. Man fragt sich, warum die Viecher der Familie Dunbar so heißen)
Es geht um Michaels und Penelopes Vergangenheit, wie sie sich kennen- und liebengelernt haben.
Es geht um einen Jungen, "der mit einem Lächeln geboren wurde".
Es geht um eine wilde Familienbande und innige Bruderliebe.
Es geht um eine Brücke, irgendwo in der australischen Einsamkeit.
Es geht um Pferderennen.
Es geht um Michelangelo und ums Klavierspielen.
Es geht um Liebe, Wut, Schuld, Scham, Angst, Traurigkeit, Freude und, und, und...
Natürlich geht es noch um viel viel mehr.
"Es war irgenwie poetisch, aber nicht im besten Sinne.

Sie brachte uns Mozart und Beethoven bei.
Und wir ihr das Fluchen."
Man wundert sich, wie solch verquere Ansätze am Ende zu einem Roman werden. Aber Markus Zusak hat das Kunststück geschafft. Wo sich jeder andere verzettelt hätte, schafft Zusak es, die Irrungen, Verschlingungen und Schleifen am Ende zu einem farbenprächtigen und einzigartigen Erzählkunstwerk zu verknüpfen, das man so schnell nicht vergessen wird.
Also merke:
Wer sich von den anfänglichen Startschwierigkeiten dieses Romanes abschrecken lässt, bringt sich um den Spaß an einem opulenten Roman, der zu Herzen geht, fesselt und seinesgleichen sucht.
Natürlich Leseempfehlung!

© Renie

Freitag, 1. März 2019

Henry James: Washington Square

Quelle: Pixabay/avantrend
Ab und an lese ich Klassiker. Oft empfinde ich die Lektüre dieser Klassiker als sehr anstrengend. Andere wiederum sind ein absoluter Lesegenuss. Zu der Genuss-Kategorie gehören für mich ohne Zweifel die Werke von Henry James.
Für mich stehen seine Bücher für eine unterhaltsame Mischung aus Distinguiertheit und Sarkasmus, die ihresgleichen sucht. Dafür liebe ich den alten Henry und greife immer wieder gern zu seinen Romanen.

In "Washington Square", einem seiner bekannteren Werke, führt er uns in die gehobene Gesellschaft von New York, etwa in der Zeit vor dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865). Der verwitwete Dr. Sloper lebt zusammen mit Tochter Catherine und seiner ebenfalls verwitweten Schwester Mrs. Penniman an besagtem Washington Square. Catherine ist schon seit ein paar Jährchen im heiratsfähigen Alter, nur heiratswillig war sie bisher nicht - ganz davon abgesehen, dass es bisher auch an Heiratskandidaten mangelte. Nüchtern betrachtet, ist dies nicht verwunderlich - geht man nach Dr. Sloper. Seiner Ansicht nach besitzt Tochter Catherine keinerlei Fähigkeiten, die sie für das andere Geschlecht reizvoll machen. Sie sieht durchschnittlich aus, besitzt wenig Esprit, mit der Intelligenz ist es auch nicht bestellt - wohlgemerkt, entspricht dies der Ansicht des liebenden Vaters. Dafür ist sie folgsam, leicht zu lenken und ständig darauf aus, ihrem Vater zu gefallen. 
Quelle: Penguin
"'Sie ist etwa so intelligent wie das Bündel Halstücher', sagte der Arzt; wobei er ihre Überlegenheit vor allem darin sah, dass das Bündel Halstücher manchmal verloren ging oder aus der Kutsche fiel, während Catherine immer auf ihrem Posten blieb, auf einem festen, breiten Sitz."
Tante Penniman lebt seit einigen Jahren in dem Sloper  Haushalt. Der Versuch, Catherine die Mutter zu ersetzen übersteigt ihre Kompetenz. Aber immerhin ist sie in Frauenthemen die richtige Ansprechpartnerin für ihre Nichte. Insgeheim ist Tante Penniman eine Romantikerin, nur dass die Zeiten der Romantik für sie schon längst abgelaufen sind. Sie verkörpert den Begriff der "Alten Jungfer". Von Jungfer kann zwar keine Rede mehr sein - schließlich war sie verheiratet. Aber ich will nicht kleinlich sein.

Eine Eigenschaft, die die gute Catherine doch noch zu einer guten Partie machen könnte, ist ihr Vermögen, sowohl dasjenige, welches sie von ihrer Mutter geerbt hat als auch das, welches ihr der Vater vermachen wird. Diese Vorzüge hat auch der junge Mr. Morris Townsend entdeckt und so setzt er alles daran, dem Mädel den Hof zu machen, was es  sich gern gefallen lässt. Und schon wird aus dem folgsamen Töchterlein ein Individuum mit eigenem Willen. Und ihr Willen ist stark, entspricht Morris doch ihrem Traum von einem Mann. Leider entspricht Morris nicht Dr. Slopers Traum von einem Schwiegersohn. Er hat erkannt, dass der Angebetete seiner Tochter ein "Windhund" ist. Mittel- und erfolglos erweckt er zu Recht den Verdacht, dass er es auf Catherines Vermögen abgesehen hat. Catherine muss sich zwischen der Rolle der folgsamen Tochter und der Rolle der Ehefrau entscheiden. Mehr oder weniger gute Entscheidungshilfen erhält sie dabei von Tante Penniman, die endlich mal an einem romantischen Abenteuer mitwirken kann.
Wird es ein Happy End geben?
"Catherine hätte eine Ehefrau von der sanften, altmodischen Art abgegeben - für die Begründungen so etwas wie Gunstbeweise oder glückliche Fügungen sind, die sie ebenso wenig alle Tage erwartete wie einen Strauß Kamelien. Doch in ihrer Verlobungszeit rechnet eine junge Dame, selbst wenn ihre Ansprüche äußerst gering sind, mit mehr Blumensträußen als zu anderen Zeiten; im Augenblick fehlte jeglicher Duft in der Atmosphäre, und das weckte doch Befürchtungen bei dem Mädchen."
Liest man diesen Roman, muss man sich auf eines gefasst machen: Es gibt hier keine Sympathieträger. Dr. Sloper ist eher Wissenschaftler als Vater, der den Eindruck vermittelt, dass er sein einziges Kind als Studienobjekt betrachtet. Man könnte fast schon von Schadenfreude bei ihm reden, wenn sich seine Vorhersagen, was Catherines Verhalten und Reaktionen in dem Vater-Tochter-Heirats-Konflikt angehen, bewahrheiten. Doch dafür ist er ein viel zu rationaler Mensch, dem jegliche Gefühlsregung fremd zu sein scheint. Catherine nervt ein bisschen mit ihrer devoten Art sowohl gegenüber ihrem Vater als auch gegenüber dem Objekt ihrer Begierde (Morris). Erst mit Fortschreiten der Handlung kann sie Boden gutmachen, spätestens dann, wenn sie beginnt, ihren eigenen Kopf durchzusetzen. Und Tante Penniman ist eine alte Matrone, die bisher nicht viel in ihrem Leben erlebt hat und sich auf Kosten anderer vergnügt. Durch ihre intrigante Art versucht sie, an der romantischen Beziehung von Morris und Catherine teilzuhaben. Sie versucht, die beiden jungen Leute in die richtige Richtung zu lenken, damit diese an ihr Ziel gelangen. Das gemeinsame Ziel ist eine Heirat, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Bei Catherine ist es Schwärmerei, bei Morris ist es Geldgier.
Über Morris muss man nichts weiter erwähnen, als dass er ein unaufrichtiger Filou ist, der immer auf Kosten anderer lebt.

Wie ich eingangs bereits erwähnte ist der Sprachstil von Henry James immer ein Argument, um seine Bücher zu lesen. Scharfsinnig und zielsicher setzt er eine Pointe nach der anderen. Selbst in der Übersetzung hört man immer den Gentleman heraus. Seine Wortwahl ist sehr geschliffen und untadelig. Nichtsdestotrotz triefen seine Sätze vor lauter Sarkasmus. Das macht großen Spaß und ist daher immer wieder ein echtes Lesevergnügen.

© Renie