Donnerstag, 30. November 2017

Frank Viva: Ganz weit weg

Alljährlich kürt die Stiftung Buchkunst die das schönste Buch. Wer allerdings glaubt, dass das schönste Buch immer durch besondere Illustrationen besticht, ist schief gewickelt. Denn die Bewertungskriterien, welche die Stiftung Buchkunst zugrunde legt, sind komplexer. Letztendlich zählt das "Gesamtpaket" eines Buches, also Gestaltung, Konzeption und Verarbeitung.

In diesem Jahr gehörte zu den 25 schönsten deutschen Büchern ein Kinderbuch des  Diogenes Verlages: "Ganz weit weg" von Frank Viva. Das Buch wird für Kinder im Alter von 4 bis 6 Jahren empfohlen. Es ist ein Bilderbuch, in dem es um einen Alien (oder einen Krake?) geht, der vom tiefsten Meeresgrund der Erde bis ins Weltall zu seinem Heimatplaneten aufsteigt ... und wieder zurück. Der Clou an dem Buch ist, dass man die Geschichte aus zwei Richtungen erleben kann: vom Meer ins Weltall und umgekehrt. "Wo ist denn da die Sinngebung?", wird der pädagogisch denkende Erwachsene fragen. Gibt es keine Lehre in dem Buch, irgendetwas, das man dem Kind mit auf seinen Lebensweg geben kann, und welches ihm das Heranwachsen erleichtert?
Nein, gibt es nicht. Stattdessen findet man in dem Buch viel Spaß und Freude. Da das Leben schon ernst genug ist, und Kinder dies noch früh genug feststellen werden, ist der Spaß, der in diesem bezaubernden Bilderbuch vermittelt wird, aber Grund genug, sich mit diesem Buch zu befassen.

Wie immer, wenn ich einen Artikel über ein Kinderbuch schreibe, habe ich mir einen Spezialisten dazugeholt: meinen Junior, mittlerweile 12 Jahre alt, daher vielleicht nicht ganz die Zielgruppe für dieses Buch. Aber immer noch kindlich genug, dass er großen Spaß  daran hatte.

Zunächst beschäftigte uns die Frage, welches Wesen der Hauptprotagonist dieses Buches ist.

Junior: Für mich ist es ein Alien.
Renie: Für mich sieht es aus wie ein Krake.
Junior: Ist doch Quatsch. Sieh doch mal, es hat eine Antenne auf dem Kopf. Daher ist es ganz klar ein Alien. Sollen wir ihm einen Namen geben? Ich bin für Bobby.
(Im Nachhinein habe ich der Buchbeschreibung des Verlages entnommen, dass es sich bei dem Wesen um einen Alien-Fisch handelt - was auch immer das sein mag)

Das Buch beginnt für uns mit Bobby auf dem Meeresgrund. Von Seite zu Seite schwebt Bobby nach oben. Er kommt an diversen Unterwasserkreaturen vorbei, taucht auf, steigt immer höher, begegnet diversen Flugobjekten, rauscht am Mond vorbei bis hin zu seinem Heimatplaneten, wo ihn Vater und Mutter begrüßen. Oder verabschieden? Denn das ist das Besondere an diesem Buch. Je nachdem für welchen Anfang man sich entscheidet, geht es für Bobby nach oben ins Weltall oder nach unten in die Meerestiefen - quasi Bobby in der Endlosschleife.

Junior: Es sieht so aus, als ob Bobby an einem Seil entlang schwebt.
Renie: Stimmt. Jede Seite wird von einer gelben Linie mal mehr und mal weniger kurvig durchzogen. Je länger ich die Bilder betrachte, umso mehr Einzelheiten fallen mir auf.
Junior: Geht mir genauso. Sieh mal, Bobby fliegt am Mond vorbei. Er sieht traurig aus (Bobby natürlich, nicht der Mond). Wahrscheinlich ist er einsam auf dem langen Weg durch's Weltall. Schade, dass es den Mann im Mond nicht gibt. Bei dem könnte er anhalten und eine Pause machen.

Renie: Ist dir aufgefallen, dass die Seiten alle ähnlich aufgebaut sind? Der Hintergrund ist entweder blau oder schwarz. Insgesamt hat der Bilderbuchautor nur 4 Farben verwendet: blau, schwarz, gelb, rot. Alle Seiten werden von dieser gelben Linie durchzogen. Die Zeichnungen wirken schnörkellos, da sie sich nur auf das Wesentliche konzentrieren.
Junior: Verstehe ich nicht.
Renie: Sieh dir doch beispielsweise die Gesichter an: Punkte für die Augen, ein Strich für den Mund, mal mit, mal ohne Nase. Oder die Bereiche, durch die Bobby kommt. Er fliegt über einem Ort. Was fällt dir daran auf?
Junior: Hier gibt es kaum Autos oder Menschen. In einem Ort ist normalerweise mehr los.
Renie: Genau. Und doch wirken die Zeichnungen sehr lebhaft und lustig, was an den kräftigen und leuchtenden Farben liegt, die der Autor verwendet hat. Trotzdem er die Gesichter mit nur wenigen Strichen gezeichnet hat, kann man erkennen, in welcher Stimmung die Figuren sind. Also, ob sie traurig sind, sich freuen, ängstlich sind usw.
Junior: Ich wünschte, ich könnte auch so toll malen. Mit so wenigen Strichen so viel ausdrücken zu können, ist schon eine Kunst.

(Auszug aus dem Buch)
Renie: Wusstest du, dass dieses Buch zu den schönsten deutschen Büchern in diesem Jahr gehört?
Junior: Echt? Aber das ist doch ein Kinderbuch.
Renie: Das ist doch egal. Buch ist Buch. Kannst du dir vorstellen, warum es zu den schönsten Büchern gehört?
Junior: Weil man es aus 2 Richtungen ansehen kann?
Renie: Meinst du? Aber es gibt doch viele Bücher, die so gemacht sind, dass du sie sowohl vom Anfang als auch vom Ende beginnen kannst.
Junior: Ja, aber dieses kannst du bis zum Ende durchblättern, dann drehst du es um und blätterst wieder zurück. Und jedes Mal wird die Geschichte wieder von Vorne erzählt. Nur dass Bobby mal hoch steigt oder mal herab sinkt. Bei den meisten Büchern, werden zwei Geschichten erzählt, die sich in der Mitte treffen.
Renie: Donnerwetter, das war mir nicht bewusst. Aber stimmt, das macht das Buch so besonders.
Wie ich später feststellen musste, hat Junior mit seiner Vermutung Recht. Die Begründung der Stiftung Buchkunst zur Auswahl dieses Buches geht u. a. tatsächlich in dieselbe Richtung, die Junior angesprochen hat. Die Jury beschreibt dieses Bilderbuch sogar als "Jojo-Buch". (Hier geht es zur kompletten Begründung der Jury der Stiftung Buchkunst)

Renie: Hast du bei diesem Buch etwas gelernt? 
Junior: Nein, das ist doch kein Schulbuch. Außerdem sollen Bücher Spaß machen. Und den hatte ich mit diesem Buch.
Renie: Weise Worte, mein Sohn. So etwas Ähnliches sage ich auch immer über Bücher.

© Renie und Junior





Über den Autor:
Frank Viva ist Kanadier, Illustrator, Designer und Inhaber einer Marken- und Designagentur in Toronto. Er gestaltet Covers für den ›New Yorker‹ und ist Präsident des Advertising and Design Clubs of Canada. Neben seiner Beratertätigkeit für zwei Colleges hat er außerdem eine Leidenschaft für das Kochen, Essen und seine tägliche Radtour ins Büro. Er lebt in Toronto. (Quelle: Diogenes)

Donnerstag, 23. November 2017

Klaus Cäsar Zehrer: Das Genie

Quelle: Pixabay/aitoff
Ich lese gern Romane über Promis, insbesondere, wenn die Promis so wenig prominent sind wie William James Sidis, der Anfang des 20. Jahrhunderts gelebt hat. Sidis ist nicht freiwillig zum Promi geworden. Stattdessen ist er von seinen Eltern und der Öffentlichkeit dazu gemacht worden. Er war das Studienobjekt seines Vaters Boris, der an seinem Sohn seine ganz spezielle Erziehungsmethode erprobt hat. Boris ging davon aus, dass man aus jedem Menschen ein Genie machen kann, fängt man nur früh genug damit an. Bei William hat sich diese Theorie bewahrheitet. Denn bereits im Alter von 18 Monaten konnte der kleine Billy lesen, und bis zu seinem 8. Lebensjahr hatte er bereits 4 Bücher geschrieben. Ich rede nicht von Kinderbüchern sondern von wissenschaftlichen Abhandlungen. Sein IQ wurde auf 250 geschätzt - gemessen wurde er nie. Wozu auch. Williams Leistungen sprachen für sich. Er beherrschte 40 Sprachen, war von klein auf in nahezu allen wissenschaftlichen Disziplinen zuhause. Selbstredend, dass er Schule und Elite-Uni im Schnelldurchlauf absolviert hat.
"Der Mensch besitzt kein höheres Recht und keine höhere Pflicht, als sich zur Perfektion heranzubilden." (S. 154)
Die Geschichte um William J. Sidis beginnt mit dem Tag, an dem Vater Boris das erste Mal amerikanischen Boden betritt und in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten einwandert. Der gebürtige Russe schafft es tatsächlich, seinen persönlichen amerikanischen Traum zu leben. Sein Lebensinhalt besteht darin, Wissen in sich aufzusaugen, was er auch unentwegt macht. Er vermittelt dieses Wissen auch an andere. Unter diesen Bedingungen lernt er seine spätere Ehefrau kennen. Irgendwann ist das Ehepaar zu Dritt. William wird geboren. Von jetzt an steht William im Mittelpunkt des Romans. Der Leser begleitet dabei den kompletten Lebensweg von William. Leider stirbt William J. Sidis bereits mit 46 Jahren an einer Gehirnblutung.
Quelle: Diogenes

Auf Seite 527 dieses Buches gibt es eine sehr passende Beschreibung zu Williams Entwicklung, die sich auf den Aufbau des Romanes anwenden lässt, und die ich an dieser Stelle gern übernehme:
Das Kind William Sidis - "das Erziehungsexperiment, das Wunderkind, der Alleskönner, das Mathematikgenie"
In diesem Teil des Romanes muss man sich immer wieder in Erinnerung rufen, wie jung William in dieser Phase war: Er wurde vom ersten Tag seiner Geburt an mit Wissen bombardiert. Mit nur 18 Monaten war er in der Lage, flüssig zu lesen. Gelesen wurden keine trivialen Kinderbücher, sondern Erwachsenenliteratur und wissenschaftliche Bücher.
Mit 3 Jahren hatte er einen Wortschatz entwickelt, der weit über die Ausdrucksfähigkeit manches Erwachsenen hinausging. Man stelle sich vor: ein 3-Jähriger, der sich an den Diskussionen Erwachsener beteiligt.
Als 6-Jähriger war er verpflichtet, die Schule zu besuchen, auch wenn sein Wissensstand weit über den seiner Altersgenossen und der Lehrer hinausging.
Mit 11 Jahren wurde er schließlich in Harvard aufgenommen, wo er seinem unendlichen Wissensdrang nachgeben und sich in unterschiedlichen Disziplinen austoben konnte.
"Später dann: Sidis, der Sonderling, der Frauenfeind, der Bolschewist, der Aufrührer"
Mit 17 Jahren übernimmt William einen Lehrtätigkeit in einer privaten Bildungseinrichtung in Houston. Es war nicht so, dass es sich hierbei um einen Traumjob handelte. Vielmehr wurde er von seiner Mutter genötigt, seinen Lebensunterhalt endlich selbst zu finanzieren. Für einen jungen Mann mit seinem Genius sollte dies eigentlich ein Klacks sein. Doch William ist zum Sonderling erzogen worden. Er war nicht in der Lage, sich den Gepflogenheiten und Normen der Gesellschaft anzupassen. 
"Aber der junge Sidis war nun einmal ein Genie, und für die galten andere Regeln. Diogenes, Leonardo, Newton, Rousseau - bestand die Geistesgeschichte nicht aus einer langen Kette von Sonderlingen, die mit ihrem Benehmen ihre jeweiligen Zeitgenossen vor den Kopf stoßen mussten, weil sie nun einmal nicht in deren kleine Welt passten?"
Seine Andersartigkeit wird von Kollegen geduldet, jedoch nicht von seinen Studenten. Da er ungefähr im gleichen Alter wie seine Studenten ist, hat er Mühe sich den Respekt zu verschaffen, der für eine Lehrtätigkeit notwendig ist. Kurzum, das Projekt "Wissensvermittlung" scheitert, wie so viele andere Dinge in Sidis' Leben.
Mit Frauen kann er übrigens nichts anfangen. Sie sind ihm suspekt und sorgen nur dafür, dass Mann den Fokus auf seine Bildung verliert. Daher hat er ein gestörtes Verhältnis zum weiblichen Geschlecht.
"Und zuletzt: Sidis, der Verkrachte, der Erloschene, der Hilfsarbeiter, der Elternhasser."
Sidis fühlt sich mit der Zeit verraten und verkauft. Zwischenzeitlich nimmt er eine Forschungstätigkeit an, schmeißt den Job jedoch hin, nachdem er feststellt, dass seine geistige Arbeit für militärische Zwecke eingesetzt werden soll. Denn Sidis ist Pazifist. Er verabscheut jede Form von Gewalt und möchte sich auch nicht für den Krieg instrumentalisieren lassen. Das Interesse der Presse an seiner Person lässt nicht nach. Er verabscheut, in der Öffentlichkeit stehen zu müssen. Ganz im Gegensatz zu seiner Mutter, für die es eine Selbstverständlichkeit ist, dass ein Mann mit seinen Fähigkeiten, der Öffentlichkeit "gehört". William bricht mit seinem Elternhaus und zieht sich zurück. Seinen Lebensunterhalt verdient er durch einfache Hilfsarbeiten. Nur Hauptsache nicht denken müssen und vermeiden, dass sein Gedankengut von irgendeinem anderen missbraucht wird.
"'Ich möchte das perfekte Leben führen. Dazu muss man sich zurückziehen und möglichst wenig mit anderen zu tun haben.'" (S. 387)
Klaus Cäsar Zehrer hat mit "Das Genie" einen Roman gezaubert, der die Fakten um William James Sidis' Leben geschickt mit Fiktion und Fantasie verknüpft. Es ist nicht nur diese außergewöhnliche Lebensgeschichte, die den Leser fesselt. Auch der Sprachstil des Autors trägt einiges dazu bei, dass man den Roman nicht aus der Hand legen möchte. Zehrer ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Sein Sprachstil zeichnet sich durch eine enorme Leichtigkeit aus, die einfach nur Spaß macht. Er stellt Sidis zwar als sehr speziellen Zeitgenossen dar, der aufgrund seiner kauzigen Eigenheiten unverstanden wird. Gerade diese eigene Art von Sidis sorgt jedoch für viele komische Momente. Aber Zehrer macht sich nie über ihn lustig. Stattdessen bringt er den Leser dazu, Empathie und Mitgefühl für Sidis zu entwickeln.

Fazit
Nicht das Genie Sidis wird in den Vordergrund gestellt sondern der Mensch Sidis. Wie gern hätte er einfach ein Leben nach seiner Façon gelebt. Doch man ließ ihn nicht. Zehrer konzentriert sich in seinem Roman auf die sensible Seite dieses eigenartigen Menschen, der ein Opfer seiner Erziehung war. Denn Sidis wurde nicht nur zum Genie erzogen sondern auch zu einem kauzigen Aussenseiter, der nicht in der Lage war, den Normen der Gesellschaft zu entsprechen. Das ist tragisch, geht nahe und macht nachdenklich. Leseempfehlung!

© Renie





Über den Autor:
Klaus Cäsar Zehrer, geboren 1969 in Schwabach, ist promovierter Kulturwissenschaftler und lebt als freier Autor, Herausgeber und Übersetzer in Berlin. Er veröffentlichte u.a. zusammen mit Robert Gernhardt die Anthologie ›Hell und Schnell‹, das Standardwerk der deutschsprachigen komischen Lyrik. ›Das Genie‹ ist sein erster Roman. (Quelle: Diogenes)

Freitag, 17. November 2017

Hannah Coler: Cambridge 5

Quelle: Pixabay / Free-Photos
Wenn ich an die altehrwürdige britische Universität Cambridge denke, fallen mir spontan folgende Begriffe ein: Elite, Nobelpreis, Ehrfurcht, Romantik und Tradition. Wer in diesem Tempel des Wissens studiert, hat es geschafft und braucht sich über seine zukünftige Karriere keine großen Gedanken machen. Unzählige Berühmtheiten haben hier studiert. Keine Universität dieser Welt hat mehr Nobelpreisträger hervorgebracht.
Die deutsche Autorin Hannah Coler zeigt dem Leser in ihrem Roman "Cambridge 5" einen andere Sichtweise. Sie widmet sich einem Thema, das an dieser Elite-Universität schon immer aktuell war: Cambridge, ein Tummelplatz für die Geheimdienste dieser Welt.
"In dieser Stadt konnte man nie sicher sein, was die alten Leute früher so getrieben hatten." (S. 133)
Schon in den 30er Jahren gab es hier eine Spionagezelle namens Cambridge 5. Sie bestand aus einer Gruppe englischer Studenten, rekrutiert vom russischen Geheimdienst. Während ihres Studiums widmeten sie sich ihrer Spionagetätigkeit und haben lange Jahre fröhlich und unentdeckt brisante Geheimnisse aus Politik und Wirtschaft an Russland weitergegeben.
In ihrem gleichnamigen Roman behandelt Hannah Coler die Schaffenszeit der Cambridge 5 sowie den Universitätsalltag unter dem Einfluss von Spionage und Geheimniskrämerei bis hin zur heutigen Zeit. Sehr geschickt vermischt sie dabei Wirklichkeit mit Fiktion und lässt somit ein spannendes und faszinierendes Bild eines Universitätsleben entstehen, das herzlich wenig mit dem Mythos zu tun hat, den der Leser mit Cambridge verbindet.
Quelle: Random House/Limes

Auf den ersten Seiten dieses Romanes werden 3 Personengruppen aufgelistet, die zu unterschiedlichen Jahrzehnten in Cambridge studiert und gelehrt haben.

1934 bis 1963
Cambridge 5 - eine Gruppe aus 5 Studenten, die für die Sowjetunion spioniert haben und erst 30 Jahre nach ihrem Studium aufgeflogen sind. Das berühmteste Mitglied war der sagenumwobene Spion und Doppelagent Kim Philby.

1970er Jahre
5 Männer und Frauen, die in den 70ern in Cambridge studiert haben. Jahre später haben sie wichtige Positionen in Lehre, Forschung und Verwaltung an der Universität eingenommen.

2014/2015
Jasper, David, Wera - Studenten der heutigen Zeit
"' Wissen Sie, wie das ist, wenn Sie glauben, Sie kennen Ihre eigene Geschichte, Sie kennen sie gut, und Sie fühlen sich sicher in ihr. Und plötzlich wird Ihnen klar, dass Sie nur eine Ebene kennen. Dass sich auf ganz anderen Ebenen die wirklich entscheidenden Dinge abgespielt haben.'" (S. 360)
Wer jetzt davon ausgeht, dass er 3 Handlungsstränge präsentiert bekommt, die parallel zueinander laufen, hat nur bedingt recht. Tatsächlich konzentriert sich die Handlung auf die heutige Zeit um die 3 Studenten Jasper, David und Wera sowie ihrem Doktorvater Hunt, der in den 70er Jahren während der Unruhen, die es auch in Cambridge gab, eine wichtige Rolle gespielt hat. Darüberhinaus trifft man auf weitere Mitstreiter von Hunt aus den 70er Jahren, die heute in diversen verantwortungsvollen Positionen in Cambridge tätig sind. Die Autorin stellt dadurch eine Verbindung zwischen den beiden Zeiträumen her. 

In den 70er Jahren war es nicht ungewöhnlich, dass Studenten links angehaucht waren und für ihre politischen Überzeugungen gekämpft haben. In Deutschland gab es die Studentenunruhen, aus denen viele RAF Mitglieder hervorgegangen sind. In Cambridge gab es ebenfalls Unruhen, zwar nicht in diesem Ausmaß, doch immerhin haben die Unruhen als Garden House Revolte (Februar 1970) Einzug in die Geschichtsbücher gehalten. Inwieweit die Mitglieder der 70er Jahre-Gruppe an den Revolten beteiligt waren und welchen Einfluss sich daraus auf ihr heutiges Leben ergibt, zeigt sich durch Rückblenden auf die damalige Zeit.

Bleibt noch der Mythos um die Gruppe "Cambridge 5". Hannah Coler greift zu einem originellen stilistischen Werkzeug, um dem Leser das Wissen über Kim Philby und seine "Cambridge 5" näher zu bringen. Sie lässt Wera (2014/2015) eine Dissertation über diese Gruppe schreiben. Wera geht dabei sehr detailliert auf die Hintergründe dieser Gruppe ein, die sie in mehreren Kapiteln formuliert. Die Autorin Hannah Coler lässt diese Kapitel in unregelmäßigen Abständen in den Text einfließen. Der Leser liest also Weras Dissertation, blickt ihr manchmal quasi über die Schulter, während sie schreibt. Darüberhinaus betrachtet der Leser die Inhalte durch die Augen ihres Doktorvaters Hunt, während er die einzelnen Kapitel begutachtet.
Glücklicherweise ist Weras Schreibstil sehr lebhaft und kein bisschen wissenschaftlich-trocken wie man es von einer wissenschaftlichen Arbeit erwarten würde. Sie schafft es, Spannung aufzubauen, so dass man die Seiten ihrer Dissertation um die Cambridge 5 förmlich verschlingt. 
"Da war dieser junge Kim, der alles hatte, was man in den 1920er-Jahren in Großbritannien brauchte, um eine große Karriere zu machen: Er kam aus einer guten, wenn auch nicht wohlhabenden Familie, er hatte einen berühmten Vater, er war hochintelligent, und er war auf einer elitären Privatschule von seinen Lehrern gefördert worden. Er sah gut aus und hatte keine Probleme mit Frauen. Er durfte schon mit siebzehn Jahren eine der besten Universitäten besuchen und dort ein relativ eigenständiges Leben führen. Er hatte alle Chancen - und er verriet die Gesellschaft, die ihm diese Chancen bot." (S. 52)
Der "rote Spionagefaden" durchzieht die Handlung, angefangen bei den Cambridge 5 bis hin zur heutigen Zeit. Bei den Unruhen in 1970 hatten die Geheimdienste ihre Hände im Spiel und heutzutage wirken sie ebenfalls in Cambridge. Tatsächlich ist aber nicht ersichtlich, wer von den Protagonisten dieses Romans, in welchem Umfang bei den Spionagetätigkeiten involviert ist und war. Das macht diesen Roman so spannend, weil man vieles erahnt, aber erst zum Schluss Gewissheit bekommt.

Hat sich die damalige Spionagetätigkeit der Cambridge 5 auf politische Themen konzentriert, kommt heutzutage noch ein weiteres Betätigungsfeld der Agentenbranche hinzu: Spionage in Wissenschaft und Forschung. Man darf nicht vergessen, dass Cambridge heutzutage als britisches Silicon Valley gehandelt wird und somit zu einem Tummelplatz für Wirtschaft und Militär geworden ist. Viele Forschungen unterliegen der Geheimhaltung. Die Geldgeber werden diskret behandelt. Insofern ist es kein Wunder, wenn der eine oder andere Geheimdienst einen Blick riskieren möchte, was die Konkurrenz so treibt. Schließlich weiß man nie, welche Forschungsergebnisse für die eigenen Zwecke eingesetzt werden können. 

Fazit:
Hannah Coler hat selbst in Cambridge studiert und unterrichtet. Mittlerweile ist sie eine gefragte historische Expertin, die gern von BBC und ZDF gebucht wird. Sie gewährt in ihrem Roman einen Einblick in den Universitätsalltag, der von Intrigen, Vetternwirtschaft und Beziehungsmanagement bestimmt ist. Durch das Spionage-Thema lässt sie den Mythos um die Denkfabrik Cambridge in den Hintergrund treten. Völlig faszinierend ist dabei die reale Geschichte um die Spionagegruppe Cambridge 5, die den Kern dieses spannenden Romanes bildet. Ist Hannah Colers Roman ein Thriller? Was die Spannung angeht - auf jeden Fall. Doch mich haben eindeutig die historischen und aktuellen Fakten gefesselt, die Hannah Coler auf sehr lebhafte Weise vermittelt. Ein tolles Erstlingswerk der Autorin, das Lust auf mehr von ihr macht.

© Renie



Über die Autorin:
Hannah Coler ist das Pseudonym der deutschen Historikerin Dr. Karina Urbach. Sie studierte Geschichte in Cambridge und lehrte an deutschen und britischen Universitäten. Urbach war an zahlreichen Dokumentationen des ZDFs und der BBC beteiligt. Seit 2015 lebt sie mit ihrer Familie in der Nähe von New York. Cambridge 5 – Zeit der Verräter ist ihr erster Roman. (Quelle: Random House/Limes)


Neugierig geworden? Hier geht's zur Leseprobe .....

Freitag, 10. November 2017

Grégoire Hervier: Vintage

Quelle: Pixabay/StockSnap
Im Mittelpunkt des ungewöhnlichen Romanes "Vintage" von Grégoire Hervier stehen ein Franzose, ein Zombie sowie die Jagd nach einer Gitarre - nicht irgendeiner Gitarre, sondern einer Gibson Moderne.
Was es mit der Gibson Moderne auf sich hat, ist dem Großteil der Menschheit wahrscheinlich unbekannt. Ich musste auch erst diesen Roman lesen, um eine Vorstellung über den Mythos zu erhalten, der mit dieser Gitarre verbunden ist.

Die Moderne des amerikanischen Gitarrenherstellers Gibson gehört zu einer Gitarren-Reihe in (damals) futuristischem Design, entworfen im Jahre 1957. Insgesamt waren drei unterschiedliche Modelle geplant. Zwei davon sind in Produktion gegangen, bei der Dritten - der Modernen - ist man sich nicht sicher, ob außer dem Prototypen noch weitere gebaut wurden. Man munkelt, dass höchstens 20 Stück hergestellt worden sind - wenn überhaupt, denn ihr Verbleib, genauso wie der des Prototypen ist nicht nachvollziehbar. Gitarrenliebhaber und Sammler erstarren vor Ehrfurcht, wenn der Name "die Moderne" genannt wird. Man kann sich vorstellen, dass diese Gitarre heutzutage einen unermesslichen Wert hätte.
Der Roman "Vintage" des Franzosen Grégoire Hervier behandelt genau diesen Mythos und entführt den Leser dabei in eine fast schon exotische Welt: Die der Musikbranche, der Gitarrensammler, die des Rock'n'Roll und des Blues.
Quelle: Diogenes
"'Dieser Klang! In den Tiefen voll und präzise, in den mittleren Lagen eine Spur hohl und in den Höhen schneidend, aber nicht zu grell. Das ist doch eine Moderne, oder?'" (S. 89)
Die Geschichte beginnt mit einem besonderen Auftrag: Thomas Dupré, erfolgloser Musiker, leidenschaftlicher Gitarrist, nebenbei journalistisch tätig und momentan Aushilfe in einem Pariser Gitarrenladen, der auf Vintage-Gitarren spezialisiert ist, reist nach Schottland, um hier einen reichen Lord und Gitarrensammler zu treffen. Der Lord hat in seinem bisherigen Leben alles kennengelernt, was die britische Musikszene des 20. Jahrhunderts an Rang und Namen zu bieten hat. Seit Jahren sammelt er Gitarren. Sein Kontakt zur Musikszene hat ihm das eine oder andere seltene Sammlerstück beschert. Sogar eine Gibson Moderne konnte er sein Eigen nennen. Doch die ist verschwunden. Leider hat der Lord keinen Beweis für ihre Existenz, da er seinen kostbarsten Besitz bisher geheim im stillen Kämmerlein genossen hat. Auch die Versicherung will für den Verlust nicht gerade stehen. Ohne Existenzbeweis - kein Geld.
So erhält Thomas den Auftrag, nach diesem Beweis zu suchen. Die Suche führt ihn dabei quer über den Erdball. Seine erste Spur bringt ihn nach Australien, weiter geht's nach Amerika. Dabei beschäftigt er sich mit der Geschichte der Gibson Moderne, trifft viele Zeugen aus der Zeit, in der diese Gitarre gebaut worden ist und sucht verbissen nach jeder noch so kleinen Spur, die auf die zweifelhafte Existenz dieser Legende hinweist. 
"Der Wert eines Gegenstands, erst recht der eines Sammelobjekts, hängt immer vom Betrachter ab." (S. 151)
Spätestens mit dem Auftauchen der ersten Leiche wird dem Leser klar, dass dieser Roman mehr zu bieten hat als eine Geschichte über ein legendäres Musikinstrument. Denn "Vintage" ist auch ein sehr atmosphärischer Kriminalroman. Gerade die Schauplätze in diesem Roman tragen dazu bei, dass der Leser die Handlung als mystisch und geheimnisvoll empfindet: ein altes Schloss am schottischen Loch Ness; gruftartige Räume, in denen die Sammler ihre wertvollen Gitarren, abgeschottet von der Außenwelt, aufbewahren; New Orleans, wo der Voodoozauber an jeder Straßenecke mit seinen Hühnerfedern winkt oder Sweet Home Alabama.
"Ich war auf der Suche nach der wertvollsten Gitarre aller Zeiten, einem fluchbeladenen Instrument, das hervorbrachte, was so manchen als Musik des Teufels galt ... Sein Schatten schwebte über all der Musik, die ich liebte und spielte, von Robert Johnson bis zu Jimmy Page, von den Stones zu den Beatles, aber auch über der von Li Grand Zombi, das wusste ich jetzt." (S. 306)
Demgegenüber steht der sehr lebhafte Sprachstil des Autors, der einen wohltuenden Kontrast zu dieser düsteren Stimmung bietet. Man liest gern und interessiert, was der Autor zu erzählen hat. Hervier schafft es irgendwie, auch fachspezifische Passagen - er führt uns u. a. in die Welt der Musikproduktion - so herüberzubringen, dass man sich selbst als Laie auf diesem Gebiet nicht abgehängt fühlt. Stattdessen vermittelt diese Sprache ein hohes Maß an Authentizität und Leidenschaft für die Musik. Und von dieser Leidenschaft lässt man sich gern anstecken.

Um den Mythos der Modernen komplett zu machen, bedarf es auch eines Musikers, der diese Gitarre gespielt hat, und um den es natürlich auch in diesem Roman geht. Die Nachforschungen von Thomas konzentrieren sich mit der Zeit nicht nur auf die Gitarre sondern auf diesen speziellen Musiker, der auf dieser Gitarre gezaubert hat. Er schuf einen sehr bizarren Musikstil, der seiner Zeit voraus war. Ob es diesen Musiker tatsächlich gegeben hat, ist dabei irrelevant. Wichtig sind einzig allein die mitreißende Leidenschaft und Besessenheit, mit der er seine Musik gemacht hat, und die in jeder Zeile zu spüren sind.
"Der Künstler war bis zum Äußersten gegangen, um seiner gequälten Seele Ausdruck zu verleihen. Und möglich geworden war das erschütternde Ergebnis erst durch jenes einzigartige Instrument, das ebenfalls seiner Zeit voraus gewesen war und das ich vollkommen vergessen hatte, so wie mich der Song in seinen Bann geschlagen hatte: die Moderne." (S. 194)
Fazit:
Es ist ein großer Unterschied, ob jemand Musik nur zur Unterhaltung hört, oder ob jemand Musik lebt. Damit meine ich Menschen, die mit der Musikbranche zu tun haben, Musikinstrumente sammeln oder alles, was mit Musik zu tun hat, in sich aufsaugen. Diese Menschen werden sich allein aufgrund ihrer Leidenschaft zu diesem Roman hingezogen fühlen. Natürlich habe ich mich gefragt, ob dieser Roman auch bei Leuten wie mir - also jemandem mit Null Musiksachverstand - funktioniert. Und das tut er sogar erstaunlich gut. Denn er fasziniert durch den Mythos, fesselt durch die Kriminalgeschichte und begeistert durch den sehr lebhaften Sprachstil des Autors. Man merkt diesem Roman in jeder Zeile an, dass sein Autor ein großer Fan der Rockmusik ist. Das steckt an.
Leseempfehlung!

© Renie




Über den Autor:
Grégoire Hervier, geboren 1977 in Villeneuve-Saint-Georges, hat eine Schwäche für Rockmusik, Science-Fiction-Filme und Karate. ›Vintage‹, in dem wahre Fakten in eine raffinierte Erzählung hineinverwoben sind, ist sein dritter Roman. (Quelle: Diogenes)

Donnerstag, 2. November 2017

Sten Nadolny: Das Glück des Zauberers

Quelle: Pixabay/TheDigitalArtist
"... Lampen, Ringe, Hüte, Tische, die Essen herbeizauberten, Geister in Flaschen, Zauberstäbe, alles nur ein netter Unfug. Und den Fliegenden Teppich gibt es auch nur, wenn Du Dich in die Lüfte hebst und einen Teppich mitnimmst. Die meisten Menschen glauben auch heute noch irgendwie an eine Magie der Dinge (das lässt sie stets mehr Zeug kaufen, als sie brauchen). Es gibt aber auf der ganzen Welt nur einen einzigen von sich aus zauberischen Gegenstand: die Bettdecke. Sie kann Menschen gegen ihren mehrfach erklärten Willen festhalten, auch wenn der Wecker längst geklingelt hat." (S. 57)
Der Verfasser dieser weisen Worte ist Pahroc, 106 Jahre alt und Zauberer - nicht von Beruf sondern ein "echter" Zauberer. Also jemand mit einer magischen Veranlagung.
Seit Harry Potter wissen wir, dass Zauberer unter uns Muggeln leben. Tun wir einfach so, als ob es stimmt. In Sten Nadolnys Roman "Das Glück des Zauberers" geht es um einen solchen Menschen mit magischen Fähigkeiten.

Pahroc hat mit seinen 106 Jahren ein langes und bewegtes Leben hinter sich. Er wurde im Jahre 1906 geboren. Doch auch Zauberer leben nicht ewig. Er möchte daher seiner gerade geborenen Enkelin Mathilda etwas hinterlassen, dass sie später an ihren Großvater erinnern wird. Mathilda ist unter all den vielen Enkelkindern, die er hat, diejenige, die für ihn besonders ist. Denn Magie wird nicht vererbt und Mathilda ist die einzige seiner Enkel, die die Fähigkeit zur Zauberei besitzt. Erst später wird sie sich dieser Fähigkeiten bewusst werden. Und es gilt, sie auf diesen Moment vorzubereiten.
Quelle: Piper
"Ich bin bereits von so vielen Enkeln Opa genannt worden, dass ich mich an sie im Einzelnen gar nicht mehr erinnern kann. Aber von Dir hat mich dieses Wort mit Zärtlichkeit erfüllt, sie breitete sich so stark in mir aus, dass ich nicht den Fahrstuhl nahm, sondern die Treppe, und immer zwei Stufen auf einmal - das habe ich seit Jahrzehnten nicht mehr getan! Da kündigt sich ein Zauber an, der ohne mein Zutun eintritt, also ein großer." (S. 75)
Auch echte Magier müssen Zaubertricks lernen. Dabei spielt jedoch das Alter der Magier eine Rolle. Je älter und reifer sie sind, umso komplexer und anspruchsvoller sind die Zaubertricks, die sich erlernen lassen. An dem Trick des "langen Arms" lässt sich erkennen, ob ein Mensch überhaupt die Fähigkeit des Zauberns besitzt. Im Übrigen sehr praktisch, wenn man an Gegenstände gelangen möchte, die außerhalb der "normalen" Reichweite sind. Komplizierter sind da schon Tricks wie das "Sich-Unsichtbarmachen", "Durch-Wände-gehen" oder "Geld zaubern". Das sind Tricks, die der Zauberer erst mit fortschreitendem Alter erlernen kann.
Jeder Trick hat Vor- und Nachteile und birgt natürlich Risiken in sich, allen voran dasjenige, von Nicht-Zauberern enttarnt zu werden.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Pahroc erleben wird, wie Mathilde älter und erwachsen wird, ist sehr gering. Also schreibt Pahroc seiner Enkelin Briefe - insgesamt 12, die sie erhalten soll, wenn sie 18 ist. Und jeder dieser Briefe behandelt einen Zaubertrick und Pahrocs Erfahrungen bei der Ausübung dieser Tricks. Doch Pahroc ist nicht nur Zauberer sondern auch Mensch - wenn auch mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Seine Enkelin wird sich später wahrscheinlich kaum an ihn erinnern. Daher erzählt er ihr in seinen Briefen die Geschichte seines außergewöhnlichen Lebens im 20. Jahrhundert. Und von diesen Briefen handelt dieser wundervolle Roman.
"Ich erzähle Dir immer mehr von Erlebnissen, die gar nicht direkt mit dem Zaubern zu tun haben, aber so ist das, wenn einem die Erinnerungen kommen. Eigentlich wollte ich nur etwas von meinem Wissen weitergeben, aber ich merke, dass das kaum zu schaffen ist, wenn man nicht auch sein Leben erzählt." (S. 112 f.)
Eingangs stellte ich ein Beziehung zu Harry Potter her. Das geschah nicht von ungefähr. Denn tatsächlich hat mich die Figur Pahroc an den guten alten Albus Dumbledore erinnert. Man stelle sich Dumbledore in unserer Welt vor, und schon haben wir einen Pahroc. Die gleiche Freundlichkeit, die gleiche Weisheit, die gleiche Güte, der gleiche verschmitzte Humor. Dieses Bild bin ich während der kompletten Lektüre nicht losgeworden.

Der Autor Sten Nadolny erweist sich in diesem Roman als ein großartiger Geschichtenerzähler. Das Leben Pahrocs wirkt einerseits unspektakulär, weil es so viele Parallelen zu dem Leben von "normalen" Menschen hat. Das, was er in seinem langen Leben erlebt, unterscheidet ihn nicht so sehr von anderen Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts. Allerdings geht er mit den Ereignissen anders um, denn er setzt seine Zauberkraft ein, um sich und andere unbeschadet durch die Zeitgeschichte zu bugsieren. Dabei erweist er sich als wahrer Menschenfreund. Viele haben ihm während der Kriege ihr Leben zu verdanken, und den meisten wird nicht einmal bewusst sein, dass ihr Leben von einem Zauberer gerettet wurde.
"Ob Helfen zum Sinn des Zauberns gehört, weiß ich bis heute nicht so genau, es gehört aber wohl ein bisschen zum Sinn des Lebens. Jedenfalls ist man selbst mehr im Lot, wenn man auch für andere sorgt. Und es geschieht sogar, dass einer, der den Halt zu verlieren droht, mithilfe des Helfens wieder in Ordnung kommt." (S. 248)
Anhand des Lebens von Pahroc beschreibt Sten Nadolny unsere jüngste Geschichte. Er lässt dabei kein Ereignis aus und zieht einen Bogen vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zur heutigen Zeit.
Dies geschieht in einer sehr lebhaften und humorvollen Art, die das Lesen zu einem großen Vergnügen machen.

Dieser Roman hat auch einen philosophischen Aspekt. Was mich wirklich begeistert hat, sind die Lebensweisheiten dieses ungewöhnlichen Mannes, die hier mit viel Humor und Geistesblitz vermittelt werden. Und bei 106 Lebensjahren kommt einiges an Weisheit zusammen.

Fazit:
Der Roman "Das Glück des Zauberers" vereint Geschichte, Philosophie, Fantasie und Humor. Sten Nadolny erzählt die Lebensgeschichte eines außergewöhnlichen Mannes. Der Gedanke, dass ein Mensch wie Pahroc Zauberkräfte hatte und unter uns gelebt hat, ist einfach zu reizvoll. Der Roman ist ein Hochgenuss.

© Renie



Über den Autor:
Sten Nadolny, geboren 1942 in Zehdenick an der Havel, lebt in Berlin und am Chiemsee. Für sein Werk wurde er unter anderen mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis 1980, dem Hans-Fallada-Preis 1985, dem Premio Vallombrosa 1986, dem Ernst-Hoferichter-Preis 1995 und dem Weilheimer Literaturpreis 2010 ausgezeichnet. Nach seinem literarischen Debüt »Netzkarte« erschien 1983 der Roman »Die Entdeckung der Langsamkeit«, der in alle Weltsprachen übersetzt wurde, und inzwischen zum modernen Klassiker der deutschsprachigen Literatur geworden ist. Danach veröffentlichte Sten Nadolny die Romane »Selim oder Die Gabe der Rede«, »Ein Gott der Frechheit«, »Er oder ich«, den »Ullsteinroman« und zuletzt der gemeinsam mit Jens Sparschuh verfasste Gesprächsband »Putz- und Flickstunde«. Für seinen Familienroman »Weitlings Sommerfrische« bekam er 2012 den Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag. (Quelle: Piper)