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"... Lampen, Ringe, Hüte, Tische, die Essen herbeizauberten, Geister in Flaschen, Zauberstäbe, alles nur ein netter Unfug. Und den Fliegenden Teppich gibt es auch nur, wenn Du Dich in die Lüfte hebst und einen Teppich mitnimmst. Die meisten Menschen glauben auch heute noch irgendwie an eine Magie der Dinge (das lässt sie stets mehr Zeug kaufen, als sie brauchen). Es gibt aber auf der ganzen Welt nur einen einzigen von sich aus zauberischen Gegenstand: die Bettdecke. Sie kann Menschen gegen ihren mehrfach erklärten Willen festhalten, auch wenn der Wecker längst geklingelt hat." (S. 57)
Der Verfasser dieser weisen Worte ist Pahroc, 106 Jahre alt und Zauberer - nicht von Beruf sondern ein "echter" Zauberer. Also jemand mit einer magischen Veranlagung.
Seit Harry Potter wissen wir, dass Zauberer unter uns Muggeln leben. Tun wir einfach so, als ob es stimmt. In Sten Nadolnys Roman "Das Glück des Zauberers" geht es um einen solchen Menschen mit magischen Fähigkeiten.
Pahroc hat mit seinen 106 Jahren ein langes und bewegtes Leben hinter sich. Er wurde im Jahre 1906 geboren. Doch auch Zauberer leben nicht ewig. Er möchte daher seiner gerade geborenen Enkelin Mathilda etwas hinterlassen, dass sie später an ihren Großvater erinnern wird. Mathilda ist unter all den vielen Enkelkindern, die er hat, diejenige, die für ihn besonders ist. Denn Magie wird nicht vererbt und Mathilda ist die einzige seiner Enkel, die die Fähigkeit zur Zauberei besitzt. Erst später wird sie sich dieser Fähigkeiten bewusst werden. Und es gilt, sie auf diesen Moment vorzubereiten.
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"Ich bin bereits von so vielen Enkeln Opa genannt worden, dass ich mich an sie im Einzelnen gar nicht mehr erinnern kann. Aber von Dir hat mich dieses Wort mit Zärtlichkeit erfüllt, sie breitete sich so stark in mir aus, dass ich nicht den Fahrstuhl nahm, sondern die Treppe, und immer zwei Stufen auf einmal - das habe ich seit Jahrzehnten nicht mehr getan! Da kündigt sich ein Zauber an, der ohne mein Zutun eintritt, also ein großer." (S. 75)
Auch echte Magier müssen Zaubertricks lernen. Dabei spielt jedoch das Alter der Magier eine Rolle. Je älter und reifer sie sind, umso komplexer und anspruchsvoller sind die Zaubertricks, die sich erlernen lassen. An dem Trick des "langen Arms" lässt sich erkennen, ob ein Mensch überhaupt die Fähigkeit des Zauberns besitzt. Im Übrigen sehr praktisch, wenn man an Gegenstände gelangen möchte, die außerhalb der "normalen" Reichweite sind. Komplizierter sind da schon Tricks wie das "Sich-Unsichtbarmachen", "Durch-Wände-gehen" oder "Geld zaubern". Das sind Tricks, die der Zauberer erst mit fortschreitendem Alter erlernen kann.
Jeder Trick hat Vor- und Nachteile und birgt natürlich Risiken in sich, allen voran dasjenige, von Nicht-Zauberern enttarnt zu werden.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Pahroc erleben wird, wie Mathilde älter und erwachsen wird, ist sehr gering. Also schreibt Pahroc seiner Enkelin Briefe - insgesamt 12, die sie erhalten soll, wenn sie 18 ist. Und jeder dieser Briefe behandelt einen Zaubertrick und Pahrocs Erfahrungen bei der Ausübung dieser Tricks. Doch Pahroc ist nicht nur Zauberer sondern auch Mensch - wenn auch mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Seine Enkelin wird sich später wahrscheinlich kaum an ihn erinnern. Daher erzählt er ihr in seinen Briefen die Geschichte seines außergewöhnlichen Lebens im 20. Jahrhundert. Und von diesen Briefen handelt dieser wundervolle Roman.
"Ich erzähle Dir immer mehr von Erlebnissen, die gar nicht direkt mit dem Zaubern zu tun haben, aber so ist das, wenn einem die Erinnerungen kommen. Eigentlich wollte ich nur etwas von meinem Wissen weitergeben, aber ich merke, dass das kaum zu schaffen ist, wenn man nicht auch sein Leben erzählt." (S. 112 f.)
Eingangs stellte ich ein Beziehung zu Harry Potter her. Das geschah nicht von ungefähr. Denn tatsächlich hat mich die Figur Pahroc an den guten alten Albus Dumbledore erinnert. Man stelle sich Dumbledore in unserer Welt vor, und schon haben wir einen Pahroc. Die gleiche Freundlichkeit, die gleiche Weisheit, die gleiche Güte, der gleiche verschmitzte Humor. Dieses Bild bin ich während der kompletten Lektüre nicht losgeworden.
Der Autor Sten Nadolny erweist sich in diesem Roman als ein großartiger Geschichtenerzähler. Das Leben Pahrocs wirkt einerseits unspektakulär, weil es so viele Parallelen zu dem Leben von "normalen" Menschen hat. Das, was er in seinem langen Leben erlebt, unterscheidet ihn nicht so sehr von anderen Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts. Allerdings geht er mit den Ereignissen anders um, denn er setzt seine Zauberkraft ein, um sich und andere unbeschadet durch die Zeitgeschichte zu bugsieren. Dabei erweist er sich als wahrer Menschenfreund. Viele haben ihm während der Kriege ihr Leben zu verdanken, und den meisten wird nicht einmal bewusst sein, dass ihr Leben von einem Zauberer gerettet wurde.
"Ob Helfen zum Sinn des Zauberns gehört, weiß ich bis heute nicht so genau, es gehört aber wohl ein bisschen zum Sinn des Lebens. Jedenfalls ist man selbst mehr im Lot, wenn man auch für andere sorgt. Und es geschieht sogar, dass einer, der den Halt zu verlieren droht, mithilfe des Helfens wieder in Ordnung kommt." (S. 248)
Anhand des Lebens von Pahroc beschreibt Sten Nadolny unsere jüngste Geschichte. Er lässt dabei kein Ereignis aus und zieht einen Bogen vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zur heutigen Zeit.
Dies geschieht in einer sehr lebhaften und humorvollen Art, die das Lesen zu einem großen Vergnügen machen.
Dieser Roman hat auch einen philosophischen Aspekt. Was mich wirklich begeistert hat, sind die Lebensweisheiten dieses ungewöhnlichen Mannes, die hier mit viel Humor und Geistesblitz vermittelt werden. Und bei 106 Lebensjahren kommt einiges an Weisheit zusammen.
Fazit:
Der Roman "Das Glück des Zauberers" vereint Geschichte, Philosophie, Fantasie und Humor. Sten Nadolny erzählt die Lebensgeschichte eines außergewöhnlichen Mannes. Der Gedanke, dass ein Mensch wie Pahroc Zauberkräfte hatte und unter uns gelebt hat, ist einfach zu reizvoll. Der Roman ist ein Hochgenuss.
© Renie
Über den Autor:
Sten Nadolny, geboren 1942 in Zehdenick an der Havel, lebt in Berlin und am Chiemsee. Für sein Werk wurde er unter anderen mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis 1980, dem Hans-Fallada-Preis 1985, dem Premio Vallombrosa 1986, dem Ernst-Hoferichter-Preis 1995 und dem Weilheimer Literaturpreis 2010 ausgezeichnet. Nach seinem literarischen Debüt »Netzkarte« erschien 1983 der Roman »Die Entdeckung der Langsamkeit«, der in alle Weltsprachen übersetzt wurde, und inzwischen zum modernen Klassiker der deutschsprachigen Literatur geworden ist. Danach veröffentlichte Sten Nadolny die Romane »Selim oder Die Gabe der Rede«, »Ein Gott der Frechheit«, »Er oder ich«, den »Ullsteinroman« und zuletzt der gemeinsam mit Jens Sparschuh verfasste Gesprächsband »Putz- und Flickstunde«. Für seinen Familienroman »Weitlings Sommerfrische« bekam er 2012 den Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag. (Quelle: Piper)