Donnerstag, 29. April 2021

Helga Schubert: Vom Aufstehen

Aus sportlicher Sicht bin ich eher der Mittelstrecken-Leser. Ab und zu wage ich mich auch an die Langstrecke. Aber Kurzstrecke ist nicht so meins. Denn habe ich gerade meine Lesegeschwindigkeit erreicht, ist der Leselauf bereits vorbei. 

Anders ausgedrückt: Ich lese höchst selten Kurzgeschichten und Erzählungen. Wenn allerdings die Autorin einer Erzählung das Prädikat Bachmann Preisträgerin trägt, begebe ich mich auch mal auf eine Kurzstrecke, so geschehen bei Helga Schuberts Lebensgeschichten "Vom Aufstehen". Mit der titelgebenden Geschichte gewann Frau Schubert in 2020 den Ingeborg Bachmann Preis.

Die Geschichten in diesem Buch beinhalten Erinnerungen und Episoden aus Helga Schuberts Leben, genauso wie Gedanken über das Leben und Alter(n) an sich. Frau Schubert ist mittlerweile Anfang 80 und blickt auf ein bewegtes Leben zurück. Geboren und aufgewachsen in der DDR, hat sie sich in späteren Jahren bereits hier einen Namen als Schriftstellerin gemacht. Als erfolgreiche DDR-Schriftstellerin hatte sie das Privileg, berufliche Reisen in fremde Länder zu unternehmen. Sie erlebte die Wende und die Maueröffnung, engagierte sich politisch und schrieb auch später noch das eine oder andere Buch. Ihre Heimat hat sie nie verlassen. Sie lebt nach wie vor in den neuen Bundesländern (sofern man heute noch von "neu" sprechen kann). Mittlerweile ist es ruhiger um Frau Schubert geworden. Doch sie hat immer  noch viel zu erzählen, wie sie mit dem Buch "Vom Aufstehen" unter Beweis stellt.

Sie erzählt darin von ihrem schwierigen Verhältnis zu ihrer Mutter, sie erzählt von ihrem Leben als DDR-Schriftstellerin und Bürgerin der DDR, sie erzählt von ihrem Leben als Bürgerin der BRD und sie erzählt vom Alter(n). 
"In allen Zügen sitze ich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung und sehe in die entschwindende undeutlicher werdende Landschaft, sie trennt sich von mir und bleibt doch da, bei jeder Fahrt erkenne ich sie erst, wenn sie schon vorüber ist. In der Fahrtrichtung sitzend, bin ich der Zukunft ohnmächtig ausgeliefert, kann ich nicht entweichen, müsste die Augen schließen oder wegsehen, mich unterhalten, lesen, die Sonne mit all ihren Schatten stürzt durch die Scheibe, in mich hinein, ist in mir gefangen.
Ich sehe in die Vergangenhiet, wende mein Gesicht in die Schatten und spüre die Wärme der Sonne in meinem Rücken."
Ich kann nicht behaupten, dass mich jedes Kapitel abgeholt hat. In Summe waren es diejenigen Kapitel, die das Alter(n) betreffen, die mir sehr viel gegeben haben. Frau Schubert legt im Alter eine Haltung an den Tag, die ich mir für mich ebenfalls erhoffe: Gleichmut und Freude gegenüber dem, was noch kommt, ohne die bange Frage zu stellen, wieviel Zeit noch bleibt. Unduldsamkeit gegenüber Menschen und Dingen, die einem nicht gut tun. Niederlagen, Verluste und Tiefschläge als Teil seines Lebens zu akzeptieren, und die dazu beigetragen haben, dass man zu dem Menschen geworden ist, der man ist.

Die Eindrücke, die ich aus diesen besonderen Episoden über das Alter(n)mitgenommen habe, überdecken die Ratlosigkeit oder Ungerührtheit, die andere Geschichten dieses Buches bei mir erwirkt haben. Dies sind Geschichten über das Leben und Ereignisse in der DDR. Oder aber auch Geschichten, deren tieferer Sinn sich mir entzog und meine Interpretationsfähigkeit an ihre Grenze brachten. 

Schriftstellerisch betrachtet beherrscht Frau Schubert die Schreibkunst ganz hervorragend. Diejenigen Geschichten, die mir gefallen haben, strahlen eine große Ruhe und Poesie aus. Die Autorin ist unglaublich wortgewandt und tiefgründig. Aber diese Tiefgründigkeit findet sich erst, wenn man Frau Schuberts Geschichten die volle Aufmerksamkeit schenkt, sich also weder äußerlich noch innerlich von irgendetwas ablenken lässt. Bei Frau Schubert scheint jedes Wort wohl überlegt zu sein. Sie schreibt nicht, um dem Leser zu gefallen, sondern um mit sich selbst im Einklang zu sein. Auch ein Vorzug des Alter(n)s: Das zu machen, was man will und nicht das, was andere von einem erwarten.
Viele werden dieses Buch vermutlich anders wahrnehmen als ich. Aber das macht gute Literatur aus: wenn bei jedem Leser eine eigene Wirkung erzielt wird, wird das Gelesene für den Leser sehr persönlich. Und das kriegen nur die wenigsten Autoren hin.
"Denn ich habe mir in meinem langen Leben alles einverleibt, was ich wollte an Liebe, Wärme, Bildern, Erinnerungen, Fantasien, Sonaten. Es ist alles in diesem Moment in mir. Und wenn ich ganz alt bin, vielleicht gelähmt und vielleicht blind, und vielleicht auch hilfsbedürftig, dann wird das alles auch noch immer in mir sein. Das ist nämlich mein Schatz.
Mein unveräußerlicher."
Wie bewerte ich nun einen Erzählband, dessen Geschichten mir mal mehr und mal weniger gefallen haben? Nach dem Mehrheitsprinzip? Je mehr positiv wahrgenommene Geschichten, umso besser fällt das Gesamturteil aus? Nein, ich bewerte dieses Buch anhand der Nachhaltigkeit dieses Buches, die bei mir durch einzelne Kapitel hervorgerufen werden. Es reichen einige wenige Geschichten aus, die bei mir den nötigen bleibenden Eindruck hinterlassen, um dieses Buch als besonderes Lesevergnügen weiter zu empfehlen.

© Renie

Sonntag, 25. April 2021

Fiona Mozley: Elmet

Das kleine Königreich Elmet, das zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert inmitten Britanniens lag, war den Königreichen in seiner Nachbarschaft ein Dorn im Auge. Und frei nach Schillers „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt", wurde Elmet in schöner Regelmäßigkeit von den Nachbarkönigreichen gestürmt und erobert.
Der Debütroman "Elmet" von Fiona Mozley spielt in der heutigen Zeit, etwa zum Ende des 20./Anfang des 21. Jahrhunderts. Doch geändert hat sich in Bezug auf die Nachbarschaft seither nicht viel.

Sein persönliches Elmet hat sich John Smythe mit seinen Kindern Cathy und Daniel erschaffen, als sie sich in einem Waldstück in der Nähe von Doncaster, einer Stadt in Middle England, niederlassen. Vater John ist eine Naturgewalt. Sehr groß und bärenstark hat er sich über Jahre seinen Lebensunterhalt als Faustkämpfer bei illegalen Wettkämpfen verdient. Darüber hinaus nahm er immer wieder Aufträge an,  die darin bestanden, Gefallen und Forderungen seiner Auftraggeber mit dem nötigen körperlichen Nachdruck einzufordern. John Smythe ist also kein Mann, dem man allein im Dunkeln begegnen möchte.
Doch diese brutalen Zeiten will er hinter sich lassen. Denn man glaubt es kaum, aber John ist ein liebevoller Vater, der seinen Kindern ein Zuhause bieten möchte, in dem sie sich frei entfalten können. Die ersten Jahre ihrer Kindheit haben Cathy und Daniel bei ihrer Oma in Doncaster verbracht – der Vater war „beruflich“ viel im Land unterwegs, und die Mutter zeigte kein Interesse an ihren Kindern.
"So brutal Daddy auch sein konnte, er mochte andere Menschen. Er empfand für sie die gleiche Zuneigung wie ein Jäger für seine Beute, tief und ernsthaft, aber mit kühlem Blick. Er hatte nur wenige Freunde und sah sie fast nie, doch die Menschen, die er schätzte, hielt er in Ehren wie seltene Souvenirs. Um diese Leute kümmerte er sich."
Als die Oma stirbt, verlässt die Familie die Stadt und sucht sich ein neues Domizil in einem abgelegenen Waldstück in der Umgebung. Die Kinder sind mittlerweile im Teenageralter. Vater John baut ein Haus, wird zum Selbstversorger und versucht, das Stadtleben weitestgehend zu meiden. Cathy und Daniel wachsen anders als Jugendliche ihres Alters auf. Sie gehen nicht zur Schule, lernen, in und mit der Natur zu leben und sind sich innerhalb ihrer kleinen Familie genug.
Doch einigen Menschen aus Doncaster ist der eigenwillige Mann mit seinen ungewöhnlichen Kindern ein Dorn im Auge. Wie die kleine Familie damit umgeht, und wie sich ihr Leben entwickeln wird, erzählt der Roman „Elmet“. 

Natürlich stellt sich die Frage, wie man in unserer heutigen Zeit losgelöst von Konventionen und Gesetzen leben kann - so, wie John es mit seinen Kindern macht. Die Antwort auf diese Frage liegt in dem Schauplatz begründet. Die Autorin Fiona Mozley konzentriert sich in ihrem Roman auf die hässlichen Seiten einer Industriestadt: Ihr Doncaster ist ein Ort, der von Menschen besiedelt ist, die am Rand der Gesellschaft leben. Arm, arbeitslos, kriminell, gewalttätig – die Menschen vereinen sämtliche Eigenschaften, die man bei seinen Nachbarn nicht oder höchst ungern haben möchte. Die Häuser sind heruntergekommen, die Grundstücke sind verdreckt. Entweder hat der Staat die Menschen in Doncaster vergessen oder diese haben alles dafür getan, dass sie vergessen werden. Die Menschen lösen ihre Konflikte auf ihre eigene Art. Das einzige Gesetz, das hier Anwendung findet, ist das Recht des Stärkeren. Und die Starken sind in dieser Gegend die Männer mit Geld und Macht, die sie sich mit zwielichtigen Geschäften und Gewalt erkämpft haben und erhalten wollen. 
In Doncaster ist die Welt also nicht in Ordnung und das Leben in dieser Stadt kein glückliches und zufriedenes, sondern ein entbehrungsreiches, inmitten von Armut und Hässlichkeit. 
Es ist daher nachvollziehbar, dass ein Vater wie John Smythe, der sein Leben bisher unter diesen Umständen gelebt hat, seinen Kindern eine bessere und behütetere Zukunft bieten möchte und sie von dem Einfluss von Doncaster fern halten will. 
Der Leser wird durch diesen Roman in eine dystopische Stimmung versetzt. Der Text atmet förmlich Brutalität, Armut, Schmutz und Hässlichkeit. Dem gebenüber steht der Sprachstil der Autorin, der es schafft, dieser Hässlichkeit, einen wunderschönen und poetischen Anstrich zu verpassen. 
"Aber unser Haus war stabiler als andere seiner Art. Es war aus besseren Ziegeln, besserem Mörtel, besseren Steinen und besserem Holz gebaut. Ich wusste, es würde viel länger stehen bleiben als die anderen Häuser an den in die Stadt führenden Straßen. Und es war schöner. Das grüne Moos und der Efeu aus dem Wald waren begieriger, nach seinen Wänden zu greifen, bereitwilliger, es in die Landschaft zurückzuholen. Mit jeder neuen Jahreszeit sah es älter aus, als es war, und je länger es da zu sein schien, desto länger würde es bleiben. Wie alle richtigen Häuser und jene, die sie ihr Zuhause nennen."
John und seine Kinder, von denen Daniel der Ich-Zerzähler ist, sind sehr introvertierte Menschen, die zurückgezogen leben und nur ungern etwas von sich Preis geben. Und genauso begegnet einem dieser Roman. Man muss sich diese Geschichte erarbeiten. Ich-Erzähler Daniel ist sehr zurückhaltend mit seinen Informationen, die die Geschichte seiner Familie betreffen. Erst nach und nach öffnet er sich dem Leser, so dass dieser weiß, wo die Handlung hinführen wird. Und ich kann nur jedem, der sich für dieses Buch interessiert, empfehlen, die Buchbeschreibung des Verlages nicht zu lesen, die leider einige Informationen vorab liefert. Dieses Nichtwissen, was einen in diesem Buch erwartet und das Hangeln von Information zu Information, die während der Handlung hinzukommt, erhöhen die Spannnung auf ein fast schon unerträgliches Maß. 

Fazit:
"Elmet" ist ein unglaublich eindringliches Buch, das mich durch seine ungewöhnliche Mischung aus dystopischer Hässlichkeit und poetischer Schönheit mehr als überzeugt hat. In seiner Heimat Großbritannien ist dieser Debütroman von Fiona Mozley in der Presse gefeiert worden und stand im Erscheinungsjahr 2017 auf der Short List des Man Booker Prizes. Ich kann mich dieser Begeisterung nur anschließen. 

© Renie




Sonntag, 18. April 2021

Dana Grigorcea: Die nicht sterben

Was habe ich da nur gerade gelesen? Der Roman "Die nicht sterben" von Dana Grigorcea ist ungewöhnlich, außergewöhnlich, rätselhaft, mysteriös, politisch, blutig, satirisch ..... und einiges mehr. Er ist also vieles, aber eines ganz sicher nicht: langweilig ... auf gar keinen Fall! 
Die Autorin Dana Grigorcea wurde in Rumänien geboren und in Rumänien spielt auch ihr Roman - genauer gesagt in der Walachei. Die Walachei grenzt an Transsilvanien, und ist die Rede von Transsilvanien denkt man sofort an Graf Dracula, der dort ein Schlösschen hatte und eigentlich ein Fürst war, nämlich Fürst Vlad III, auch als "der Pfähler" bekannt. 

Und die Aura des, vor ca. 700 Jahren lebenden legendären Adeligen ist auch heute noch in diesem Landstrich zu spüren - genauso wie in dem Roman "Die nicht sterben". Der vielsagende Titel dieses Romanes erweckt Assoziationen, die man mit unsterblichen Vampiren in Verbindung bringt. Alles in allem versetzt uns die Autorin an ein Setting, das den Mythos Dracula förmlich "atmet". 
„Nun will ich Ihnen aber die blutrünstige Geschichte erzählen, die sich in B. zugetragen hat; ich rufe ihn als Zeugen auf, meinen Vorfahren Vlad den Pfähler, dessen Blut in meinen Adern fließt."
Quelle: Penguin
Ich-erzählende Protagonistin dieses Romans ist eine Kunststudentin, die den Sommer bei ihrer Großtante "Mamamargot" im rumänische B. verbringt, wie jeden Sommer seit sie denken kann. In der Kindheit der Protagonistin war die Sommerresidenz von Margot zur Zeit Ceaucescus vom Staat enteignet. Die Großtante mietet sich daher in das eigene Anwesen ein, um hier den Urlaub in vertrauter Umgebung verbringen zu können. Margot gehört der höheren Gesellschaft an und scharrt einen großen Freundeskreis aus Adeligen, Künstler, Intellektuellen um sich. Diese Freunde geben sich in Margots Sommerresidenz quasi die Klinke in die Hand und gemeinsam frönt man dem Laissez-faire. 

Nach dem Sturz des Diktators Ceaucescu und dem damit verbundenen politischen Umbruch geht das Anwesen wieder in Margots Besitz über. Der Ort verändert sich. Die Menschen ziehen aus der abgelegenen Gegend weg. Die Häuser verfallen. Das Dorf scheint auszusterben. 

Mit dem Namen Dracula verbinden sich Mythen und Geschichten, deren Faszination  sich keiner entziehen kann. Was die politischen Oberen dieses Ortes für sich ausschlachten und somit dem wirtschaftlichen Niedergang dieser Gegend entgegenwirken wollen. Tourismus muss her.
„Ansonsten schlenderten die Touristen umher und schauten sich nach einem möglichen Dracula oder nach Vampiren um; und sie legten dabei eine ungewöhnliche Bereitschaft an den Tag, alles hier bizarr zu finden, primitiv und abstoßend. Wie bestellt kamen die wenigen Bauern aus ihren Häusern hervor und liefen mit grimmigen Mienen umher, lebendige Beweise für ihre vermeintliche Andersartigkeit." 
Doch nicht nur die Touristen lassen sich von den Geschichten um Dracula vereinnahmen. Auch die Ich-Erzählerin verfällt dem Bann des Mythos. Doch ist es nur ein Mythos? Denn irgendetwas geschieht in der Gegend und mit der Ich-Erzählerin - Dinge, die sich nicht mit dem gesunden Menschenverstand erklären lassen. 

In Dana Grigorceas Roman treffen Aberglauben und Tradition auf das moderne Leben und seine "Errungenschaften". Dieses Aufeinanderprallen von Archaismus und Fortschritt ist schon sehr krass. Ein Bild das dies mehr als verdeutlicht ist sicherlich ein Moment, wenn mit Handys bewaffnete Touristen über uralte Gräber trampeln, auf der Suche nach einem Hintergrundmotiv für das ultimative Selfie. Dabei entsteht beim Lesen ein merkwürdiges Unbehagen, das nicht durch die Respektlosigkeit gegenüber der Geschichtsträchtigkeit entsteht, sondern eher durch drohende Konsequenzen auf diese Respektlosigkeiten. Man wartet voller Spannung auf das, was da kommen könnte – selbst wenn sich dies nicht mit Logik und Verstand erklären ließe. 
„Ich erinnere mich an viele Details, die ich aber mit den späteren Berichten aus den Medien vermischen mag, wobei mir das persönlich Erlebte rückblickend unwirklich erscheint. Ich habe mit mir gehadert. Ist mein Vorsatz, bei der Wahrheit zu bleiben, überhaupt einzuhalten, wenn sich die Erinnerung bruchstückhaft darstellt?"
Die Autorin setzt dabei auf die Vorstellungskraft des Lesers. Denn sie lässt vieles im Ungewissen, wobei Unausgesprochenes und Andeutungen eine ganz eigene Wirkung erzielen, die durch einen poetischen Sprachstil voller Farbenpracht und kraftvoller Bilder noch verstärkt wird. 
Ein ungewöhnlicher und rätselhafter Roman! Leseempfehlung!

© Renie

Sonntag, 11. April 2021

Aude: Das Wanderkind

Der Roman "Das Wanderkind" der kanadischen Autorin Aude ist der literarische Beweis für die Aussage "Weniger ist mehr". Denn dieses dünne Büchlein, mit gerade mal 130 Seiten kommt mit einer Wahnsinns-Geschichte daher, die den Leser mit einer erzählerischen Wucht umbläst. Darauf war ich definitiv nicht vorbereitet.

Die Wahnsinns-Geschichte ist schnell erzählt: Eine Familie erwartet Nachwuchs. Die Mutter, Corinne, ist mit eineiigen Zwillingen schwanger. Bereits in der Schwangerschaft zeichnen sich Komplikationen ab. Einer der Jungs in ihrem Bauch ist kräftiger entwickelt als sein Bruder und raubt ihm sämtliche Energien und Lebenskraft. Er wächst und gedeiht im Bauch der Mutter auf Kosten seines Bruders. 
Dieser Zustand wird sich auch nach der Geburt nicht ändern und ein Leben lang anhalten. Der eine Bruder, Hans, ist der starke, vor Kraft strotzende Zwilling, der andere Bruder, der Kleine, ist der schwache und zurückgebliebene Zwilling. Hans ist der dominante Zwilling, der für den Zustand seines Bruders verantwortlich ist, der Kleine ist das Opfer. Doch am Ende erweist sich diese Rollenverteilung nur als eine Frage der Sichtweise.
"Corinne hat ihn nie geliebt. Da ist sich Hans sicher. Für sie ist er schon immer der Henker seines Bruders. Ein Monster! Er weiß noch genau, wie sie, als sie noch klein waren, ihm angewidert beim Essen zugesehen hat, weil er immer Hunger hatte, während der Kleine wie ein Spatz gegessen hat."
Quelle: Alfred Kröner Verlag
Dieser Roman erzählt in zeitlich aufeinander folgenden Episoden die Geschichte dieser Familie, von der Schwangerschaft der Mutter, über die Kindheit der Zwillinge, bis hin zu deren Erwachsensein. Im Mittelpunkt steht die Beziehung der Zwillinge zueinander, wobei die Sichtweise von Hans die maßgebliche ist. Das Leben der Zwillinge ist wie eine Fortsetzung der Zeit, die sie im Mutterbauch verbracht haben. Hans braucht seinen Zwilling, um in Leben zurechtzukommen. Er lässt nicht zu, dass andere - weder die ältere Schwester der Beiden noch die Eltern - an dieser Verbindung teilhaben. 
"Seit ihrer Geburt haben viele Menschen auf verschiedene Weise versucht, die Zwillingszelle zum Platzen zu bringen, als ob sie eine Bedrohung wäre. Keiner hat es geschafft."
Wie andere diese Verbindung bewerten und was sie mit ihnen macht, erfahren wir durch Wechsel in der Erzählperspektive von Hans auf die Eltern sowie die Schwester. 

Eine Sichtweise fehlt: die des Kleinen - eine Bezeichnung, die sich jeder angewöhnt hat, wenn von diesem Zwilling die Rede ist. Man sollte meinen, dass er namenlos ist (er heisst Benoit). Er ist einfach nur präsent, wird von allen geliebt, nimmt aber so gut wie keinen Anteil an der Handlung. Doch seine Anwesenheit in dieser Geschichte ist immer spürbar. Mit diesem besonderen Protagonisten hat die Autorin ein Figur erschaffen, die nicht real wirkt, aber wie ein guter Geist über die Familie und über seinen Bruder im Besonderen wacht. 
Mehr möchte ich über die Familie nicht erzählen. Die Buchbeschreibung des Verlags gibt noch weniger von dem Inhalt Preis. 
"Ein Zwillingspaar, der eine groß und kräftig, der andere klein und zerbrechlich. Einem von ihnen ist es bestimmt, den anderen am Leben zu erhalten."
Doch ohne meine Angaben zum Inhalt könnte ich nicht wiedergeben, welche Entwicklung dieser Roman beim Lesen genommen hat und welche Wirkung er am Ende auf mich hatte. 

Das Szenario des einen Zwillings, der auf Kosten des Anderen überlebt, ist unvorstellbar schmerzlich und traumatisch für alle Beteiligten. Ich bin daher von einer Geschichte ausgegangen, die sich auf die Trauer über den Verlust sowie das Leben mit der vermeintlichen Schuld konzentriert. Die Autorin schlägt jedoch einen anderen Weg ein: sie erzählt die Geschichte von zwei ungleichen Brüdern und deren emotionaler Abhängigkeit voneinander. Der Eine kann nicht ohne den Anderen und nimmt Einfluss auf dessen Entwicklung. Und am Ende wird der Eine gelernt haben, ohne den Anderen zu leben.

Diese Geschichte geht zu nahe und ist aufwühlend. Denn Schmerz und Glück sind hier so eng miteinander verwoben, dass sie sich kaum voneinander trennen lassen. Ähnlich wie die beiden Zwillinge. 

Die kanadische Autorin Claudette Charbonneau (alias Aude) gilt als eine der wichtigsten Autorinnen der frankokanadischen Literaturszene. Der Roman "Das Wanderkind" hat in ihrem Land sehr viel Beachtung gefunden. Leider verstarb sie bereits im Jahre 2012 an einer Krebserkrankung. Es gibt nur 5 Romane sowie etliche Kurzgeschichten von ihr, die - soweit mir bekannt ist - bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt worden sind (Ausnahme: Das Wanderkind). Ich hoffe doch sehr, dass dies bald nachgeholt wird. Denn "Das Wanderkind" ist große Erzählkunst, welche die Gier nach weiteren Geschichten dieser Autorin bei mir geweckt hat.

© Renie








Dienstag, 6. April 2021

R. Clifton Spargo: Beautiful Fools

Der amerikanische Autor Francis Scott Fitzgerald und seine Ehefrau Zelda galten in den 20er und 30er Jahren in Hollywood als Inbegriff des Glamour-Paares. Die Ehe der Beiden wäre heutzutage sicherlich ein heiß diskutierter Gegenstand der boulevardesken Berichterstattung. 

Ohne Boulevard, dafür jedoch mit Anspruch, nimmt sich der Amerikaner R. Clifton Spargo ebenfalls des Ehelebens der beiden Promis an. In dem biografischen Roman "Beautiful Fools" konzentriert er sich dabei auf eine Zeit des Zusammenseins der Fitzgeralds, in der von Glamour nur noch wenig festzustellen ist. 

Im Jahr 1939 sind die Fitzgeralds bereits 20 Jahre verheiratet. Durch eine psychische Erkrankung war Zelda in den letzten Jahren zu mehreren Klinik-Aufenthalten gezwungen, die sie über längere Zeiträume aus dem Verkehr gezogen haben. Darunter leidet natürlich die Ehe der beiden Protagonisten, so dass sie sich zu einem gemeinsamen Urlaub in Kuba entschließen, um somit ihrer Beziehung eine letzte Chance geben zu können. 
"Dazu musste der Urlaub absolut perfekt werden, es bedurfte einiger Tage, um die aufgestaute Bitterkeit und das gallige Misstrauen abzubauen, Tage, in denen sie erst wieder lernen mussten, auf welche Weise sie einander gut taten. Das alles lag auf ihren Schultern, denn sie wollte ihn überreden, sie wieder in sein Leben zu lassen, und zugleich bat sie um ihre Freiheit. Sie musste sehr vorsichtig sein, damit sie keinen Fehler machte, so verdammt vorsichtig."
Während die beiden in Kuba ihre Eheprobleme in den Griff bekommen wollen, versuchen Sie gleichzeitig an ihrem Ruf als Glamour-Ehepaar und den damit verbundenen luxuriösen Lebensumständen festzuhalten. Zumindest einer dieser Versuche gestaltet sich aufgrund der desolaten finanziellen Situation des Ehepaares als schwierig. Und ob der andere Versuch von Erfolg gekrönt sein wird, bleibt bis zum Ende des Romanes offen. 

R. Clifton Spargo hat mit diesem Roman ein Psychogramm über die Ehe seiner Protagonisten geschrieben. Dabei löst er sich von dem allgemein bekannten Bild des Glamourpaars und stellt die Schwächen und Probleme der jeweiligen Figur in den Vordergrund. F. Scott Fitzgerald haben die Jahre in Saus und Braus zum Alkoholiker gemacht. Darüber hinaus leidet er an den Folgen einer Tuberkulose. Alles in allem ist er ein gesundheitliches Wrack, mit einer Ehefrau an seiner Seite, deren Verhalten durch eine psychische Erkrankung unberechenbar, wenn nicht sogar schizophren ist. 

Das Vorhaben der Eheleute, die Beziehung zu retten, steht also unter einem ungünstigen Stern. Fitzgerald hält aus lauter Pflichtgefühl an Zelda fest. Schließlich ist sie seelisch krank und er fühlt sich für sie verantwortlich.

Die vielseitige und talentierte Zelda Fitzgerald strebt selbst eine Karriere als Autorin sowie Malerin und Tänzerin an. Erste schriftstellerische Versuche waren vielversprechend. Doch leider ließ das Ego ihres Mannes bisher nicht zu, dass sie aus seinem Schatten heraustreten konnte - ein weiterer Krisenherd in dem Konflikt zwischen den Eheleuten.
"Sie wurde nur als Ehefrau aufgeführt, als sonst nichts; aber für die Welt da draußen waren sie immer noch ein sehr bemerkenswertes Paar, der Autor und seine Frau."
Einen besonderen Charme dieses Romans macht der Schauplatz Kuba aus. Denn R. Clifton Spargo präsentiert mit der Darstellung des Inselstaates der 30er Jahre eine nostalgische Mischung aus Urlaubsflair, unbeschwertem Karibik-Lifestyle und kontrastreichem Miteinander von Einheimischen und Touristen, vorwiegend reiche Amerikaner und Europäer. Der Urlaubsalltag besteht aus Faulenzen, gutem Essen und Trinken, in den Tag hineinleben. Und für den Thrill sorgen Freizeitbeschäftigungen wie Stierkämpfe, Hahnenkämpfe oder Reitausflüge. Fast rechnet man als Leser damit, dass Ernest Hemingway auf der Bildfläche erscheinen wird, der im Übrigen ein mehr oder weniger guter Freund von F. Scott Fitzgerald war. 

Fazit 
R. Clifton Spargo hält sich in seinem biografischen Roman "Beautiful Fools" eng an die Fakten, die über das Ehepaar Fitzgerald bekannt sind. Dabei konzentriert er sich bei der Darstellung der Protagonisten auf deren Schwächen und menschlichen Abgründe, so dass das Bild des strahlenden Glamour-Paares in den Hintergrund rückt. Eine interessante Sichtweise! 

© Renie