Freitag, 27. September 2019

Marie Luise Kaschnitz, Karen Minden (Ill.): Eisbären

Quelle: Kirchner PR/kunstanstifter
Als Walther und seine Frau vor fünf Jahren zusammenkamen, war ihre Hochzeit schnell beschlossene Sache. Bei Walther war es Liebe, bei ihr war es der Versorgungsgedanke und die Angst vor dem Alleinsein. Dank ihrer scheinbar großen schauspielerischen Leistung nahm Walther ihr die vorgetäuschten Gefühle ab. Bis zum heutigen Tag. Denn irgendetwas ist passiert, dass Walther plötzlich an ihrer Liebe zu ihm zweifelt. Doch die Dinge haben sich bei ihr geändert. Aus anfänglich bestenfalls freundschaftlichen Gefühlen für ihren Mann ist mittlerweile innige Liebe geworden. Das Einzige, was sie sich also vorzuwerfen hat, ist die Unaufrichtigkeit zu Beginn ihrer Ehe und die vorgetäuschten Gefühle. Doch das ist Schnee von Gestern. Denkste. Denn eines Nachts steht Walther an ihrem Bett und verlangt nach der Wahrheit. Zwischen den beiden Eheleuten entwickelt sich ein Gespräch über Zweifel und Beteuerungen. Die Beiden befinden sich in einer verzweifelten Situation, steht doch mit einem Mal ihre Partnerschaft und Liebe auf dem Prüfstand.

Die Kurzgeschichte "Eisbären" gibt dieses nächtliche Gespräch unter Eheleuten wieder. Erzählt wird allein aus ihrer Perspektive. Sie versucht, Walther von ihren Gefühlen zu überzeugen, indem sie Erinnerungen an glückliche Momente heraufbeschwört, die Beweis für ihre intensive Bindung sind. Ob sie ihren Mann von ihrer Liebe überzeugen kann? Man wünscht es ihr.
"Walther, sagte sie, nicht Schatz, nicht Liebling, sie nannte nur seinen Namen, aber sie streckte im Dunkeln ihre Arme nach ihm aus. Aber ihr Mann kam nicht herüber, um sich zu ihr auf den Bettrand zu setzen. Er blieb, wo er war und wo sie nicht einmal die Umrisse seiner Gestalt wahrnehmen konnte."
Das Gespräch findet im dunklen Schlafzimmer statt. Daher fehlt jeglicher visueller Bezug zu der Situation. Die Handlung besteht ausschließlich aus dieser ernsthaften Unterhaltung und konzentriert sich voll und ganz auf die Emotionen, die diese Situation beherrschen.
Hier kommen die Illustrationen von Karen Minden ins Spiel. Durch ihre Bleistiftzeichnungen erwachen die Erinnerungen und die Gefühle der Eheleute zum Leben. Dabei wirken ihre Figuren eigentümlich reduziert, was nicht nur an den Grautönen liegt. Es gibt so gut wie keine Mimik bei den Charakteren. Und dennoch strahlen die Illustrationen eine Ausdruckskraft aus, die mir sehr nahe gegangen ist.

Ich bin ein großer Freund illustrierter Geschichten. Hier steht in aller Regel der Text im Mittelpunkt und wird durch Illustrationen ergänzt. Doch in "Eisbären" ist das anders. Das ist das erste Mal, dass ich die Illustrationen intensiver erlebt habe als den Text.

Die Geschichte von Marie Luise Kaschnitz (1901 bis 1974) ist dabei sehr empfindsam und emotional. Doch die Aussagekraft der Illustrationen von Karen Minden überbietet den Text um einiges mehr. "Eisbären" ist daher eine Augenweide, die einen besonderen Platz in meinem Buchregal erhalten wird.

© Renie

Donnerstag, 19. September 2019

Thure Erik Lund: Das Grabenereignismysterium

Quelle: Pixabay/TitanicaArt
In dem Klappentext zu dem Roman mit dem fast unaussprechlichen Titel "Das Grabenereignismysterium" des Norwegers Thure Erik Lund findet sich folgender Hinweis:
"Das Grabenereignismysterium ist eine skurrile, böse Satire auf Norwegen und das Norwegischsein - 'ein Buch, das sich kein Norweger wünscht, wir aber alle verdienen.' (Dagens Næringsliv)"
Augenscheinlich handelt es sich hierbei also um ein Buch für und über Norweger. Rückblickend kann ich dies bestätigen. Norweger bzw. Seelenverwandte der Norweger werden sich diesem Buch verbunden fühlen.

Da wird ein Norweger, der sich selbst als Geistesmensch bezeichnet, vom norwegischen Kulturministerium damit beauftragt, ein Gutachten über die Kulturdenkmäler Norwegens zu erstellen: Welche gibt es? In welchem Zustand befinden sie sich? Wie können sie der Welt zugänglich gemacht werden? Welches Potenzial haben sie hinsichtlich touristischer Attraktivität. Also begibt sich der Norweger auf eine 5-monatige Reise, während der er ausreichend Gelegenheit findet, über Land und Leute zu philosophieren. Das Gutachten fällt nicht so aus, wie die Politik es sich erhofft haben. Für die Geisteshaltung, die der begutachtende Norweger an den Tag legt, wird er angefeindet und ist gezwungen, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. 
Quelle: Droschl

Dies ist die Schmalspurzusammenfassung des Inhalts dieses Romans. Hätte der Autor an meiner Stelle eine Beschreibung wiedergegeben, wäre diese wahrscheinlich viel ausschweifender und kurioser ausgefallen. Denn er legt in diesem satirischen Roman einen unnachahmlichen Sprachstil an den Tag: eigentümliche Wortkreationen, die jedes Scrabblebrett sprengen würden; Schachtelsätze in rekordverdächtiger Länge. Man ahnt es.... Das Lesen dieses Buches ist eine Herausforderung. Im Nachhinein schwanke ich zwischen Faszination über die Kreativität des Autors bei der Wortschöpfung und leider aber auch Langeweile. Denn machen wir uns nichts vor, von Lesefluss kann bei der Lektüre keine Rede sein. Dafür zwingt einen der ausufernde Sprachstil des Autors in die Knie.
"... und so bekam das Gutachten eine dramatischere Ausprägung, ja, in Wirklichkeit war es eine lange Beschimpfung des Norwegischen, nicht des falschen urtümlichen Norwegischen, dessen Definition Touristen, Filmproduzenten, Featureschreiberlinge und erlebnisorientierte Verbrauchsmenschen zustande gebracht hatten, sodass sie es mochten, und die es deshalb für passend hielten, sondern dieses andere, das schwache, unsichere, doppelgesichtige, genierte, zurückgezogene Norwegische, das gegenüber allen anderen auch fremdenfeindlich, nicht gastfreundlich, unwirtschaftlich, isolationistisch, selbstbewusst war ..."
Was den satirischen Aspekt dieses Romans betrifft: Dieser Roman ist für Norweger gemacht. Ich habe keinen Bezug zu Norwegen, bin daher auf das angewiesen, was man sich über die Mentalität der Norweger anlesen kann. Ist der hier beschriebene Umgang der Norweger mit ihren Kulturgütern typisch norwegisch? Ich glaube nicht. Die hier geschilderten Ambitionen sind meines Erachtens typisch für jedes touristische Land: Man will zeigen, was man hat. In einer Art und Weise, die sich am Ende auszahlt. Auch der Typ Mensch, den der Protagonist verkörpert – er bezeichnet sich als Geistesmensch, ich bezeichne ihn als Eigenbrötler – ist eine Spezies, die Norwegen nicht allein für sich beanspruchen kann.

Vielleicht ist dieser Roman daher doch nicht so norwegisch, wie es anfangs scheint. Auf jeden Fall war es schwierig für mich, die Satire vollständig zu verstehen. Über einige  wenige Ansätze bin ich leider nicht hinausgekommen.

Kann ich diesen Roman empfehlen? Jein. Er ist amüsant, wortschöpferisch kreativ, aber auch stellenweise langweilig. Und natürlich mehr oder weniger norwegisch.Tatsächlich ist dieser Roman in seinem Heimatland hochgelobt. Eine renommierte norwegische Tageszeitung setzte ihn auf die Liste der 25 besten Bücher der letzten 25 Jahre. Die Norweger werden wissen, warum.

© Renie


Donnerstag, 12. September 2019

Uwe Schönhar: Kein Kniefall vor dem Teufel

Quelle: Pixabay/congerdesign
In "Kein Kniefall vor dem Teufel" erzählt der Autor Uwe Schönhar deutsche Geschichte am Beispiel seines Vaters Siegfried. Er plaudert quasi aus dem Familiennähkästchen. Eine schöne Idee. Und diese Biografie hätte so gut sein können .... tja, wenn da dieser eigentümliche Sprachstil nicht wäre. Doch dazu später mehr.

Das Buch beschreibt die Zeit der 2 Weltkriege bis hin zur Nachkriegszeit und den 50er Jahren. Anhand seiner Familie, allen voran Vater Siegfried, geb. 1926, beschreibt Uwe Schönhar das Leben in Deutschland während dieser Zeit unter den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Aspekten: Kindheit, Familie, Bildung, Politik. Schönhar würzt seine lehrreichen Abhandlungen durch viele Anekdoten über seinen Vater sowie seine Familie. Das ist gelebte Geschichte, die einfach nur Spaß macht.
Die Entwicklung des Nationalsozialismus und das Leben unter Hitler und während des 2. Weltkrieges nehmen sehr viel Raum in diesem Buch ein. Nationalsozialismus und Hitler mit Spaß in Verbindung zu bringen ist wagemutig und fragwürdig. Doch Schönhar gelingt an dieser Stelle der Balanceakt zwischen Witz, Ironie und Ernsthaftigkeit.
Gleichzeitig zieht der Autor immer wieder Verbindungen zu unserer heutigen Zeit und lässt seine persönliche Meinung über Gesellschaft und Politik einfließen. Dadurch erhält sein Buch einen essayistischen Charakter.
"Gesetze sind aber auch dafür da Polizisten zu schützen und nicht nur die Bürger. Freilich können festgeschriebene Rechtsbestimmungen durchaus mal in Frage gestellt werden - die hessische Landesverfassung sah beispielsweise bis vor Kurzem offiziell noch die Todesstrafe vor, deren Verhängung jedoch seit Inkrafttreten des Grundgesetzes (1949) vom Bundesrecht massiv ausgetrickst wurde. So konnten auch hessische Schwerverbrecher immerhin auf ein erbauliches Lebenslang im Bau bauen, statt zu baumeln."
Wikipedia definiert ein Essay als "eine geistreiche Abhandlung, in der wissenschaftliche, kulturelle oder gesellschaftliche Phänomene betrachtet werden. Im Mittelpunkt steht die persönliche Auseinandersetzung des Autors mit seinem jeweiligen Thema."

Keine Frage, Schönhars Abhandlung ist geistreich. Doch leider hat er es mit dem Geistreichtum übertrieben. Schuld daran ist sein eigentümlicher Sprachstil. Uwe Schönhar betreibt Wortakrobatik, was ganz amüsant sein kann. Denn er ist dabei bissig, wortgewandt und lustig. Doch leider übertreibt der Autor. Teilweise gewinnt man den Eindruck, dass Uwe Schönhar sich mehr auf seine witzigen Satzkreationen konzentriert als auf das, was er sagen möchte. Er ist stets bemüht, seinem Witz noch einen draufzusetzen. Hier wäre es besser gewesen, wenn der Autor sich zurückgenomen hätte. 
Anfangs habe ich diesen Erzählstil noch als unterhaltsam und besonders empfunden. Später war ich gelangweilt und wurde der Sprache überdrüssig. Daher habe ich dieses Buch nur in kleinen Dosen gelesen. Wäre die Geschichte, die Schönhar erzählt nicht so interessant, warmherzig und persönlich, hätte ich das Buch sicherlich abgebrochen.

Mein Fazit:
Sprachlich wäre weniger mehr gewesen. Inhaltlich kann man nicht genug von der Geschichte bekommen. Kann ich dieses Buch also empfehlen? Jein ;-)

© Renie

Mittwoch, 4. September 2019

Giosuè Calaciura: Die Kinder des Borgo Vecchio

Quelle: Pixabay/Hans
Der Roman "Die Kinder des Borgo Vecchio" von Giosuè Calaciura steckt voller Rätsel. Eines der leichteren Rätsel sind Schauplatz und Zeitpunkt der Handlung: 
Schauplatz ist ein Dorf irgendwo in Italien - enger kann ich ihn nicht eingrenzen. Das Geschehen muss irgendwann in den letzten Jahren stattgefunden haben, zumindest gab es bereits moderne Errungenschaften wie das Handy. Und den Euro gab es vermutlich auch schon.

Das Zusammenleben in diesem Dorf ist von Grausamkeit und Unbarmherzigkeit geprägt. Insbesondere die Kinder haben unter diesem Leben zu leiden. Wahrscheinlich sind sie sich dessen gar nicht bewusst, kennen sie doch nichts anderes als dieses Leben. 

Wer mit seiner Kindheit so richtig in die Sch… gegriffen hat, ist Cristofaro, der sich jeden Tag aufs Neue fragen muss, ob er die nächste Nacht überleben wird. Als persönlicher Prügelknabe des eigenen Vaters, der seinen Sohn jeden Abend zusammenschlägt, wie andere die Nachrichten im Fernsehen ansehen, sind die Überlebenschancen für ihn sehr gering.
Quelle: Aufbau Verlag
"Im Borgo Vecchio wusste man, dass Cristofaro jeden Abend das Bier seines Vaters weinte. Wenn die Nachbarn nach dem Abendbrot vor dem Fernseher saßen, hörten sie sein Jaulen, das sämtliche Geräusche des Viertels verschluckte. Sie drehten den Ton leiser und lauschten. Anhand der Schreie konnten sie erahnen, wo die Faust zuschlug, harte, treffsichere Hiebe." 
Vielleicht geht es Celeste sogar noch schlimmer als Cristofaro. Als Tochter der Dorfhure erhält sie von klein auf Anschauungsunterricht in Sachen Liebespraktiken, in dem sie bei jedem „Termin“ ihrer Mutter auf den Balkon verbannt wird, wo sie durch ein Guckloch live und in Farbe mitbekommt, wie ihre Mutter für den Unterhalt der Familie sorgt. Zumindest muss Celeste nicht um ihr Leben bangen wie Cristofaro, ganz sicher aber um ihre Zukunft. 
Dann haben wir noch Mimmo, der relativ unbehelligt von seinem Vater vor sich hin lebt. Der Vater ist der Metzger im Dorf und verwendet viel Zeit darauf, seine Kunden zu betrügen. Da bleibt keine Zeit für einen Sohn, der wahrscheinlich nicht ganz richtig im Kopf ist. 
Das Vorbild und der Held der Kinder ist Totó, Dorfganove, vor dem jeder im Dorf Respekt hat, denn er ist derjenige mit der Knarre. In den Fantasien der drei Kinder wird Totó zum Retter von Cristofaro.

Jetzt komme ich zu den großen Rätseln dieses Romans.
Gibt es eine Handlung in diesem Roman? Nicht wirklich. Bestenfalls geht die Handlung in die Richtung, dass es mit Cristofaro und seinem prügelnden Vater nicht weitergehen kann wie bisher. Der rote Faden in diesem Buch läuft darauf hinaus, dass sich unter der Gluthitze der Sonne Italiens etwas anbahnt, was auch immer das sein wird. Man ahnt nur, dass der Ganove Totó dabei eine Rolle spielen wird.

Aber tatsächlich ist die Handlung Nebensache. Denn der Autor hält den Leser durch ausufernde Symbolik und Metaphern auf Trab. Die ersten Seiten faszinieren durch den eindringlichen Sprachstil des Autors. Sofort denkt man an die Anmerkung einer italienischen Tageszeitung zu diesem Roman: "Eines der schönsten und grausamsten Bücher des Jahres". Diese Behauptung möchte man zunächst gerne unterschreiben. Doch es dauert nicht lange, da stolpert man über die ersten religiösen Ansätze und findet sich in einem Buch wieder, das sich eng an der biblischen Geschichte orientiert. Je bibelfester der Leser ist, um so besser wird er mit diesem Buch zurechtkommen. Mich haben die spirituellen Verbindungen überfordert, daher war ich sehr dankbar, dieses Buch in einer Leserunde bei Whatchareadin gelesen zu haben. Zum Einen war ich nicht allein mit meiner Ratlosigkeit, zum Anderen gab es Teilnehmer in der Leserunde, die ein fundiertes religiöses Wissen hatten und daher mit ihren Erklärungen ein wenig für Erleuchtung sorgen konnten.
Ich kann nur mutmaßen, dass der Autor aufzeigen will, dass in der Religion Gut und Böse sehr dicht beieinander liegen. Über meine Spekulation lässt sich jedoch streiten – wie die Leserunde gezeigt hat.
"Der Brotgeruch zog über den Platz und machte den abendlichen Eifer der in Marktkisten gepferchten Zitrusfrüchte zunichte, die eine letzte Duftspur in der Nacht hinterlassen wollten, er zerstörte die Illusion von Frühling, die sich im duftenden Geheimnis der Frangipaniblüten verbarg, vereinnahmte die Kreuzungen und machte sich in den Gassen und Tavernen breit, auf dass niemand seiner Umarmung entkäme."
Bei aller Verwirrung, was die religiöse Symbolträchtigkeit dieses Buches angeht, möchte ich jedoch betonen, dass der Sprachstil von Giosuè Calaciura für vieles entschädigt hat. Denn Schreiben kann der Mann. Er vermittelt Gefühle und Stimmungen, die bis ins Mark gehen. „Die Kinder des Borgo Vecchio“ ist kein Wohlfühl-Buch. Stattdessen wird man mit einer Grausamkeit konfrontiert, die an die Nerven gehen kann. Die Welt im Borgo Vecchio ist schrecklich. Aber Schrecken übt Faszination aus, insbesondere wenn er dermaßen poetisch beschrieben wird, wie Giosuè Calaciura es getan hat. Grausamkeit und Schönheit liegen sehr dicht beieinander.

Eine Leseempfehlung wage ich nicht auszusprechen. Denn dieses Buch ist ein symbolträchtiges Experiment, das den Leser (heraus)fordert. Daher sollte man sich als Leser auf einiges gefasst machen. Bei dem einen wird es gut ankommen. Bei dem anderen wird es für Irritationen sorgen. Ich liege irgendwo dazwischen.

© Renie


Sonntag, 1. September 2019

Dror Mishani: Drei

Quelle: Pixabay/pixel2013
Über den Roman "Drei" von Dror Mishani darf man gar nicht viel schreiben. Denn egal, was man schreibt, man läuft Gefahr zu spoilern. Daher fange ich erstmal mit meinem Fazit zu diesem Überraschungsei von einem Buch an:
Fantasievoll, spannend, überraschend, berührend! Der Roman ist saugut! Unbedingt lesen!

... und versuche mich dennoch an ein paar Aussagen, die hoffentlich neugierig machen.
Es geht um einen Mann und drei Frauen. Die Handlung spielt größtenteils im heutigen Tel Aviv.
Der Roman besteht aus 3 Kapiteln. Jedes dieser Kapitel behandelt die Verbindung des Mannes zu einer dieser Frauen.
Frau Nr. 1: Eran, frisch geschieden, Mutter eines kleinen Jungen. Die Scheidung, die von ihrem Ex ausgegangen ist, hat sie zutiefst verletzt. Sie hat Zweifel an dem, was ihr, einer  alleinerziehenden Mutter, die Zukunft noch bringen wird. Aus Angst vor dem Alleinsein meldet sie sich auf einem Dating Portal an. Hier lernt sie Gil kennen. Die beiden nähern sich einander ganz langsam an. Meine Güte, ist der Mann sensibel und verständnisvoll.
Frau Nr. 2: Emilia aus Estland, mit einer Arbeitserlaubnis für Israel. Sie ist Altenpflegerin, spricht kaum Israelisch und wurschtelt sich durch das Leben in Tel Aviv durch. Finanziell geht es ihr dürftig, sie ist einsam. Ein wenig Wärme in ihrem Leben erhält sie durch die Zuwendung zur Religion und zu Gil. Er schenkt ihr seine Gunst (mehr körperlich als finanziell), nachdem sie bei ihm als Putzfrau eine Anstellung findet.
Frau Nr. 3: Orna, verheiratet, 3 Kinder, mit einem eifersüchtigen Ehemann. Sie versucht, ihrem Leben eine andere Richtung zu geben und flüchtet sich in ein Studium, das sie neben ihrem Alltag als Hausfrau und Mutter, durchzieht. Sie schreibt gerade an ihrer Masterarbeit, als sie Gil kennenlernt. Ein amouröses Abenteuer lockt.
Quelle: Diogenes
"Und tatsächlich gelang es ihm manchmal, sie zu überraschen, ihr das Gefühl zu vermitteln, es gäbe Dinge, die sie nicht von ihm wusste, und dass unter seiner konventionellen Erscheinung ein deutlich interessanterer Mensch steckte, den sie noch nicht kannte."
Abgesehen von der Verbindung zu diesem Mann, haben die drei Frauen nichts gemeinsam. 
Was hat dieser Mann an sich, dass sich die Frauen in ihn vergucken. Ein Womanizer ist er schon mal nicht. Zumindest, was das Äußerliche angeht: er ist eher unauffälliger Durchschnitt. Vermutlich ist es seine Gabe, den sensiblen Frauenversteher zu spielen, die ihn für die Frauen anziehend macht. Ein weiterer Pluspunkt ist vermutlich sein Beruf: er ist Rechtsanwalt - gut situiert und erfolgreich.

Die drei Kapitel erzählen also die Geschichten der Frauen und ihrer Beziehung zu Gil. Doch jedes Kapitel ist besonders. Sie unterscheiden sich nicht nur im Sprachstil. Die Kapitel sind aus der Sicht der jeweiligen Frau geschrieben, woraus folgt, dass wir bei 3 unterschiedlichen Frauen auch drei unterschiedliche Sprachstile haben. Man beachte: dieser Roman ist von einem Mann geschrieben, der sich par excellence in das Seelenleben der Frauen hineindenkt und dieses authentisch wiedergibt.
"Sie empfand weder Kränkung noch echte Wut angesichts seiner Lügen, obgleich sie ihn zuvor aufgezogen hatte, ja nicht einmal Selbstekel. Vielleicht war da nur ein wenig Angst, weil sie inzwischen begriff, dass sie sehr viel weniger über ihn wusste, als sie gedacht hatte."
Dann hat der Autor Dror Mishani für jedes Kapitel ein besonderes Ende gewählt:
Kapitel 1 endet mit einer Überraschung wie ein Paukenschlag.
Kapitel 2 hat ein vorhersehbares, aber unvermeidliches Ende.
Kapitel 3 endet, wie man es sich als Leser erhofft.

Vielleicht noch eine Anmerkung zum Genre. Dieser Roman lässt sich auf kein einzelnes Genre festlegen. Es ist leichter, die Genres auszuschließen, zu dem dieser Roman auf gar keinen Fall zuzuordnen ist: Fantasy, historischer Roman, Horror.
Ansonsten ist er ein bisschen von allem, von dem einen mehr und von dem anderen weniger.

Der Roman "Drei", der in Israel ein Bestseller war, soll als TV-Serie verfilmt werden. Das wundert mich nicht. Wenn nicht dieser Roman, welcher dann?

© Renie