Freitag, 31. Januar 2020

Yangsze Choo: Nachttiger

Quelle: Pixabay/InspiredImages
"Ein Tiger. Gelegentlich brachten die Zeitungen grausige Berichte von Menschen, die von Pythons erwürgt, Krokodilen gefressen oder Elefanten totgetrampelt worden waren. Aber ein Tiger war etwas anderes. Vor Tigern musste man besonderen Respekt haben. Wenn man sich in den Dschungel begab, musste man die Tiger mit Zaubersprüchen besänftigen. Es hieß, dass ein Tiger, der zu viele Menschen verschlungen hatte, in der Lage sei, menschliche Gestalt anzunehmen und sich unerkannt unter uns zu mischen."
Der Roman "Nachttiger" der Malayin Yangsze Choo führt uns nach British Malaya, dem heutigen Malaysia der 1930er Jahre. Malaysia war zu diesem Zeitpunkt eine Kolonie Großbritanniens. Viele der englischen Kolonialisten ließen es sich hier gutgehen. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt mit freundlicher Unterstützung der malayischen Bevölkerung, natürlich unter dem Deckmantel der Wohltätigkeit. Schließlich galt es, den unterentwickelten Einwohnern den rechten Glauben und die rechte Kultur nahezubringen.
(Das soll es an dieser Stelle an unterschwelliger Kritik an dem Kolonialismusgedanken gewesen sein)

Der Roman "Nachttiger" spielt in einem Tal Malaysias, das für seine enormen Zinkvorkommen bekannt war und ist - das Kinta-Tal. Wir treffen zunächst auf Ren, einem 10jährigen chinesisch-stämmigen Jungen, der einem Doktor MacFarlane als Hausboy zur Verfügung steht. Der Doktor liegt im Sterben und nimmt dem Jungen das verrückte Versprechen ab, den amputierten Finger des Arztes zu finden und in dessen letzte Ruhestätte zu packen. Dabei muss eine Frist von 49 Tagen, beginnend mit dem Zeitpunkt des Todes, eingehalten werden. Zurecht erscheint diese Aufgabe merkwürdig und skurril und hat folgenden abergläubischen Hintergrund: ein Körper muss vollständig sein, will die Seele des Verstorbenen zur Ruhe kommen. Sollte diese Aufgabe nicht erfüllt werden, wird die Seele auf ewig und ruhelos durch die Welt irren. Und welche Seele will das schon?

Als Leser ahnt man, dass sich die Handlung dahingehend entwickeln wird, dass der kleine Junge sich an die scheinbar unlösbare Aufgabe begibt. Denn Malaysia ist groß und der Junge hat so gut wie keine Anhaltspunkte. Zunächst einmal kommt er in dem Haushalt eines Kollegen von Dr. MacFarlane unter. Er wird sozusagen "vererbt".
Quelle: Wunderraum
" ..., dass die Europäer kommen und gehen. Einige sind schon nach zwei Jahren wieder weg, während andere für immer bleiben; sie haben sich so an ihr tropisches Luxusleben mit Bediensteten gewöhnt, dass sie in England überhaupt nicht mehr zurechtkämen."
Parallel zu der Geschichte um Ren und seiner Suche nach dem Finger tut sich ein weiterer Handlungsstrang auf. Hier geht es um Jin Lee, eine junge Dame, die in in einer Schneiderei in Ipoh arbeitet, der größten Stadt des Kinta-Tals. Die Schneiderei ist jedoch nur ein Vorwand. Denn aus finanziellen Gründen arbeitet Jin Lee heimlich als Eintänzerin in einem Tanzpalast. Hier steht sie zahlungswilligen Kunden als Tanzpartnerin zur Verfügung. Nicht mehr und nicht weniger. Ihre Familie lebt im benachbarten Falim. Ihr verhasster Stiefvater ist Zinnhändler, wohlhabend und gewalttätig. Trotzdem Jin Lees Mutter unter ihrem Mann zu leiden hat, scheint es doch so etwas wie Liebe zwischen den beiden zu geben. Der Stiefvater hat seinen leiblichen Sohn Shin bereits aus dem Haus geekelt. Dieser studiert nun Medizin in Singapur, ist aber dennoch häufig zuhause. Shin und Jin Lee sind etwa gleichaltrig. Nicht nur die Tatsache, dass sie am selben Tag Geburtstag haben, macht sie zu Seelenverwandten. Die beiden verbindet mehr als eine geschwisterliches Verhältnis vermuten lässt.
Mit dem Handlungsstrang um Jin Lee zeichnet sich ab, mit welchen Schwierigkeiten frau im malayischen Kulturkreis zu kämpfen hat(te). Als gehorsame Tochter steht Jin Lee unter der Fuchtel des strengen Stiefvaters. Dieser zwang sie, von der Schule zu gehen, da er ihren "unschicklichen" Wunsch nach einer Ausbildung zur Krankenschwester auf gar keinen Fall dulden wollte. Jetzt wartet er darauf, Jin Lee endlich unter die Haube bringen zu können und damit die Verantwortung für sie in andere männliche Hände geben darf. Durch Jin Lees hart erkämpften Freiraum, der ihr das Leben unter der Woche in einer anderen Stadt gewährt, bewegt sie sich insbesondere in Anbetracht ihrer Tätigkeit als Tänzerin auf sehr gefährlichem Terrain. Wenn das rauskommt!
Nun fragt man sich, welches der gemeinsame Nenner zwischen den beiden Handlungssträngen um den kleinen Jungen Ren und Jin Lee ist. Denn scheinbar gibt es keine Verbindung zwischen den Beiden.
Scheinbar ... Denn irgendwann werden sich Ren und Jin Lee über den Weg laufen. Und der verlorengegangene Finger des Dr. MacFarlane wird dabei eine große Rolle spielen.
"'Nun ja, die Malaien sagen, jeder Finger habe eine Persönlichkeit: Der Daumen ist der Mutterfinger oder ibu jari. Dann kommt der Zeigefinger, jari telunjunk, der den Weg weist. Der dritte Finger, jari hantu, ist der Geisterfinger, weil er länger ist als die anderen. Der vierte ist der Ringfinger; in manchen Dialekten nennt man ihn den Namenlosen. Der kleine Finger ist der schlauste.'"
Dieser Roman hat mich auf vielfältige Weise fasziniert.
Wir haben eine verrückte Geschichte über die Suche nach einem verloren gegangenen Finger. Einem Europäer mag der Hintergrund dieser sehr speziellen Bitte eines sterbenden Mannes merkwürdig erscheinen. Für jemanden, der aus einer Kultur stammt, für die Tradition und Aberglaube zum Leben dazugehören, ist sie verständlich.

Wir treffen auf Exotik pur. Dabei denke ich nicht nur an den Schauplatz sondern auch an den Sprachstil der Autorin. Sie transportiert diese Exotik in ihrer Ausdrucksweise und lässt Bilder im Kopf entstehen, die einen den Dschungel Malaysias hören, riechen und fühlen lassen. Dabei verwendet sie viele Vergleiche, die einem Europäer eigentümlich erscheinen, aber gerade deshalb einen großen Reiz ausmachen.

Yangsze Choo lässt den Leser in eine Welt voller Traditionen und Mythen eintauchen. Wer meinen Lesegeschmack kennt, weiß, dass ich Schwierigkeiten mit Büchern aus dem Mystik- und Esotherik-Regal habe. In dem Moment, wo Logik und gesunder Menschenverstand nicht zu gebrauchen sind, fange ich an, über ein Buch zu schimpfen. Doch in dem Fall des "Nachttiger" hat es mich nicht gestört. Hier begegnen wir einer Mystik und einem Aberglauben, den ich als schmückendes Beiwerk empfunden habe, um die Exotik dieses Romans zu untermalen. Hinzu kommt, dass die Mystik weitestgehend in den Träumen der Protagonisten stattfindet. Und in der Traumwelt wie im Märchen ist alles möglich und erlaubt.
Stichwort "Märchen": Tatsächlich könnte man diesen Roman als ein modernes exotisches  Märchen bezeichnen. Es gibt die Guten und die Bösen. Und am Ende gewinnen die Guten. Es gibt eine nahezu unlösbares Rätsel in Form des verschwundenen Fingers, das aber am Ende gelöst wird. Es gibt Monster und Geister. Denn dieser Roman heißt nicht umsonst "Nachttiger". Am Ende bekommt der Prinz seine Prinzessin. Und wenn sie nicht gestorben sind ....

Und wem das Märchen an dieser Stelle nicht genug ist. Ein großes Stück Krimi findet sich ebenfalls in diesem Roman. Alles in allem ist "Nachttiger" ein fantasievoller, exotischer Schmöker, der den Alltag vergessen lässt, weil er den Leser in eine völlig fremde Welt entführt. Leserherz, was willst du mehr?!

© Renie

Donnerstag, 23. Januar 2020

Mick Herron: Dead Lions

Quelle: Dušan Smetana on Unsplash
Die lahmen Gäule sind wieder unterwegs. Diesmal haben sie es mit toten Löwen zu tun. Wer die Gäule sind, wissen wir seit dem ersten Teil um den Agenten Jackson Lamb und seine Mitarbeiter - allesamt Agenten, die sich nicht mit Ruhm bekleckert haben und daher strafversetzt wurden. Zumindest steckte man sie in eine Abteilung, wo sie keinen großen Schaden anrichten können. Sie sind die besagten "Slow Horses" (lahme Gäule).
Doch was es mit den toten Löwen auf sich hat, erfahren wir in Mick Herrons zweitem Roman "Dead Lions".

In dem neuen Fall der Slow Horses befasst man sich mit den Nachwehen des Kalten Krieges. Der Feind ist der Russe. Der KGB lässt grüßen. Mitten in London treiben russische Spione ihr Unwesen. Jackson Lamb holt die Vergangenheit ein. Auch er war damals in die Agentenscharmützel zwischen Ost und West involviert. Kaum zu glauben, dass ein längst abgeschlossenes Kapitel der Spionagegeschichte wieder geöffnet wird.
Quelle: Diogenes 
"Der Kalte Krieg war Geschichte, aber seine Granatsplitter waren noch überall."
Es ist nicht so, dass die Slow Horses den Auftrag haben, das Agentenproblem zu lösen. Denn man darf nicht vergessen, dass die Slow Horses auf dem Abstellgleis sind. Dass sie auf einmal doch ihre Hufe im Spiel haben, haben sie ihrem Boss Jackson Lamb zu verdanken, der sich in Eigenregie in die Ermittlungen einschaltet. Jackson Lamb macht, was er will. Und seine Mitarbeiter machen, was er will.
Sie sind Kummer gewöhnt. Auf dem Abstellgleis, mit stumpfsinnigen Aufgaben betraut, hat das Selbstbewusstsein jedes Mitarbeiters von Lamb gelitten. Die ruppige und verächtliche Art und Weise, die Jackson Lamb im Umgang mit seinen Mitarbeitern an den Tag legt, sind da auch nicht förderlich. Und dennoch wachsen sie über sich selbst hinaus, wenn es darum geht, ein Verbrechen aufzuklären. Insbesondere, wenn dabei einer von ihnen in Gefahr ist.
"Lamb konnte einen fertigmachen, allein schon indem er vor einem stand, und man hielt ihn solange für bedrohlich, bis er wegging und man sich fragte, wer das Licht ausgeschaltet hatte."
Mick Herron ist seiner Linie, die er im ersten Band eingeschlagen hat, erfreulicherweise treu geblieben. Nach wie vor präsentiert er einen Jackson Lamb, der ein menschenverachtender Widerling ist. Doch spätestens in dem Moment, wo Lamb seinen machtverliebten und karrieregeilen MI6 Mitstreitern in die Parade fährt, hat man ihn ins Herz geschlossen. Schadenfreude ist nicht umsonst die schönste Freude.

Mick Herron ist ein Meister des Verwirrspiels. Er schafft mehrere Handlungsstränge, die irgendwie miteinander zusammenhängen und aus unterschiedlichsten Perspektiven erzählt werden. Doch bis zum Schluss lässt er den Leser im Unklaren, welches der große gemeinsame Nenner ist. Dabei treibt er den Leser durch die einzelnen Kapitel, die er gemeinerweise gern mit einem Cliffhanger enden lässt. Die Spannung ist dementsprechend extrem hoch.
"Wenn Löwen gähnen, heißt das nicht, dass sie müde sind. Es heißt, dass sie aufwachen."
Hat mir der erste Teil der Serie um Jackson Lamb schon sehr gut gefallen, hat Mick Herron mit "Dead Lions" noch einen drauf gesetzt. Und ich werde den Verdacht nicht los, dass immer noch mehr geht und bin daher gespannt auf das, was von Mick Herron noch kommen wird.
Leseempfehlung!

© Renie



Montag, 13. Januar 2020

Daniel Mendelsohn: Eine Odyssee

Quelle: Pixabay/olleaugust
Der amerikanische Autor Daniel Mendelsohn ist Professor für Altphilologie. In seinem Buch "Eine Odyssee" geht es, wie der Titel schon sagt, um das klassische Heldenepos aus der Antike. 

Odysseus brauchte 10 Jahre um aus dem Trojanischen Krieg nach Hause zu kommen. Während dieser 10 Jahre erlebte er mehr oder weniger spektakuläre Abenteuer. Am Ende kehrte er mit Hilfe der Götter in seine Heimat Ithaka zurück, wo sich seine Frau Penelope in seiner Abwesenheit diverser Annäherungsversuche seiner Konkurrenten erwehren musste. Ihre Ehre konnte sie retten. Sie konnte jedoch nicht vermeiden, dass sich Odysseus' Konkurrenten an Ithakas Hof einquartiert und durchgeschnorrt haben. Als Odysseus wieder in seine Heimat zurückkehrte, machte er kurzen Prozess mit den Schnorrern.
Dies ist meine persönliche Schmalspur-Version der Odyssee, die es im Original insgesamt auf 24 Gesänge (Strophen) und 12110 Verse bringt.

Worum geht es sonst noch in Daniel Mendelsohns "Eine Odyssee"?
Der Autor gibt ein Seminar über die Odyssee. Überraschenderweise wird auch sein Vater Jay, 81 Jahre und pensionierter Mathematiker, an diesem Kurs teilnehmen.
Das Seminar geht über mehrere Wochen, ist aber der Anfang eines Jahres, das Vater und Sohn einander näher bringen wird. Leider ist es auch das letzte Jahr im Leben von Jay Mendelsohn.
Quelle: Siedler
"Eine lange Reise, die wir beide einmal unternommen haben. Im Interesse von Präzision, auf die mein Vater großen Wert legte, sollte ich sagen, dass die Reise, die wir gemeinsam unternahmen, eine Heimkehr war. Die Geschichte beginnt mit einem Sohn, der aufbricht, seinen Vater zu retten, aber die Heimreise endet, wie das bei Reisen manchmal eben passiert, mit einem noch viel größeren Drama als demjenigen, das alles in Gang gesetzt hat."
Ich gestehe, ich hatte es in meinem bisherigen Leseleben nicht so sehr mit Sachbüchern. Was hat mich also dazu gebracht, zu diesem Buch zu greifen? 
Zunächst bin ich nicht nur Sachbuch-Muffel sondern auch ein Kulturbanause, wenn es um die alten Griechen geht. Wie vermutlich viele andere, habe ich nur ein rudimentäres Wissen, was die griechischen Klassiker angeht. Mein Interesse an den Klassikern ist groß, mein Respekt vor der Lektüre von Klassikern ist noch größer. Daher fand ich den Gedanken ganz charmant, ein Buch von einem Altphilologen zu lesen, der mir die Geschichte von Odysseus ein Stück näher bringt. Hinzu kam die Aussicht auf eine Verbindung zwischen dem antiken Heldenepos und dem Leben von heute. Denn Daniel Mendelsohn stellt in seinem Buch Parallelen zwischen dem alten Griechen und dem Leben seines Vaters Jay sowie der Vater-Sohn-Beziehung (Jay/Dan) her.

Wie hat Daniel Mendelsohn die beiden Aspekte umgesetzt?

Die Odyssee
Bei Daniel Mendelsohn würde ich auch gern in der Vorlesung sitzen. Er hat eine lebhafte Art, die Odyssee zu erläutern bzw. Interpretationsansätze zu vermitteln. Er weist auf viele sprachliche Eigenheiten hin, genauso wie auf Verbindungen zu anderen klassischen Werken der griechischen Antike. Zugegeben: Das kann manchmal zu einem Informations-Overflow führen. Gerade am Anfang des Buches, versucht man möglichst viel Wissen in sich aufzusaugen. Man sollte beim Lesen jedoch die Schwäche zulassen, nur ein Teil dessen zu verarbeiten, was man tatsächlich an Informationen mitbekommt. Denn machen wir uns nichts vor. Die Odyssee existiert seit etwa 3000 Jahren. Viele Gelehrte haben sich aufgrund unterschiedlicher Interpretationsansätze an die Köpfe gekriegt. Da kann man als Leser dieses Buches doch nicht erwarten, dass man das, wofür andere Jahre lang studiert haben, innerhalb von knapp 350 Seiten verinnerlicht. Mut zur Wissens-Lücke! Denn am Ende dieses Buches hat man immer noch reichlich Input zur Odyssee bekommen, dass man die Lektüre dieses Buches als Bereicherung empfindet.
"Der beste Pädagoge ist derjenige, der einen für Dinge begeistern kann, die er schön findet, sodass das Gefühl für die Schönheit dieser Dinge ihn überdauern wird. Und weil dem ein Bewusstsein von der Endlichkeit des Lebens zugrunde liegt, sind gute Lehrer gute Vaterfiguren."
Eine andere Form der Bereicherung erhält man durch die Darstellung der

Vater-Sohn-Beziehung
Jay war zeitlebens ein verschlossener und ernsthafter Mensch, der seinen Söhnen (Dan hat noch einen Bruder) einen Mordsrespekt, wenn nicht sogar Angst eingeflößt hat. Stärke zeigen, in allen Lebenslagen. Diesen Anspruch hatte Jay nicht nur an sich, sondern natürlich auch an seine Mitmenschen. Seine Verächtlichkeit gegenüber Schwäche konnte sehr verletzend sein, wobei er seinen Söhnen gegenüber jedoch nie ausfallend geworden ist. Seine Kritik war eher eine stille und zurückhaltende, die aber gerade deswegen umso heftiger spürbar war.
Jay ist ein Bücherwurm. Es gab quasi nichts, was er sich nicht selbst aneignen konnte. Und darauf war er stolz. Nur bei einem Punkt hatte er Nachholbedarf: das Erlernen von Latein und das Lesen der griechischen Klassiker. Wie sein Sohn Dan hat Jay schon früh sein Interesse an der Altphilologie entdeckt. Aus unbekannten Gründen schlug er jedoch den Weg der Mathematik ein - an und für sich kein falscher Weg, denn auch hier hat er großes Talent. Umso mehr freut es ihn, dass Dan sich für den Studienzweig der Altphilologie entscheidet.
Nun taucht also der Vater bei seinem Sohn in der Vorlesung auf. Eine unangenehme, wenn nicht gar peinliche Situation für den Sohn. Von Woche zu Woche sitzt ihm also sein Vater wortwörtlich im Nacken - auf einem Stuhl in einer Ecke des Seminarraums verfolgt Jay die Vorlesung. Dabei hält er nicht mit Kritik hinter dem Berg. Nicht an der Unterrichtsmethodik seines Sohnes sondern an Odysseus, dem Helden selbst.
"Mein Vater machte ein Gesicht, als hätte er die Dinge bessser im Griff gehabt als Odysseus, als hätte er die zwölf Schiffe mit ihren Besatzungen heil nach Hause gebracht. Du gibst also zu, sagte er, dass er alle Männer verloren hat? 

Ja, sagte ich, fast trotzig. Ich kam mir wie ein Elfjähriger vor, und Odysseus war ein frecher Klassenkamerad, zu dem ich halten würde, auch wenn das hieß, dass ich mit ihm bestraft würde."
Jay liefert interessante Denkansätze und trägt somit zur Diskussion der Studenten über den Lernstoff bei. Dan kann einfach den Missmut über die Teilnahme seines Vaters an seinem Seminar nicht ablegen, obwohl er häufig durch dessen Beiträge überrascht wird. Im Verlauf des Seminars entdeckt Dan viele Facetten an seinem Vater, die ihm bis dato nicht bewusst waren. Und so zeichnet sich ab, dass die bisherige Vater-Sohn-Beziehung neu definiert wird.

Dazu trägt auch eine gemeinsame Kreuzfahrt bei, welche die beiden im Anschluss an das Seminar unternehmen werden. Die Grundidee für diese Reise war zunächst, die Seminarinhalte mit Leben zu füllen, indem man die Originalschauplätze der Odyssee besucht. Doch tatsächlich wird diese Reise ein weiterer Beitrag, um die Vater-Sohn-Beziehung in einem völlig anderen Licht aufleben zu lassen.

Die Parallelen, die Daniel Mendelsohn zwischen der Odyssee und einem persönlichen Teil seines Lebens herstellt, sind in diesem Buch überall zu finden. Jay ist Dans Odysseus. Jays Leben im Ganzen, aber auch das letzte Jahr, indem sich Vater und Sohn näher kommen, ist die Odyssee. Es gibt Charaktere in der Odyssee, die auf Protagonisten im Leben von Dan und Jay adaptiert werden können.
Der grobe Aufbau der Odyssee sowie stilistische Mittel finden sich in der Erzählung über die Vater-Sohn-Beziehung wieder.
Mendelsohn zieht seine Kreise in der Erzählung. Er kommt vom "Hündchen" aufs "Stöckchen". Zu manchen Gegebenheiten holt er weit aus, kramt in der Vergangenheit, findet aber immer den Weg zurück in das Seminar über die Odyssee und der Beschreibung des letzten Lebensjahres seines Vaters.
"Der Zukunft können wir uns nur zuwenden, wenn wir uns mit unserer Vergangenheit versöhnt haben."
Fazit:
Ich bin restlos begeistert von diesem Buch. Es ist lebhaft geschrieben. Durch den steten Wechsel zwischen den Erläuterungen zur Odyssee und der Vater-Sohn-Beziehung kommt es zu keinerlei Ermüdungserscheinungen innerhalb des wissenschaftlichen Teils, was ich anfangs befürchtet hatte. Tatsächlich habe ich zwischenzeitlich vergessen, dass es sich um ein Sachbuch handelt. Es gab Entwicklungen in der Geschichte um die Vater-Sohn-Beziehung, in der ich die Fantasie des Autors bewundert habe. Aber von wegen Fantasie. Dies ist eine Geschichte aus dem echten Leben und für mich der Beweis, dass das Leben die schönsten Geschichten schreibt.

Leseempfehlung!

© Renie




Donnerstag, 2. Januar 2020

Louise Erdrich: Die Wunder von Little No Horse

Quelle: Pixabay/Kranich17
Durch die Adern der amerikanischen Schriftstellerin Louise Erdrich fließt Indianerblut. Ihr Großvater mütterlicherseits war Häuptling der Chippewas in North Dakota. Ihr indianisches Erbe findet sich in ihren Werken wieder. Für eines dieser Werke - " The Round House" - wurde sie 2012 mit dem National Book Award ausgezeichnet.

Das große Thema in Erdrichs Romanen ist also das Leben der Indianer. Dabei siedelt sie ihre Romane in der Zeit nach 1912 bis zur Gegenwart an. Mit Wildwest-Romantik, Cowboy und Indianer-Kämpfpen haben ihre Romane daher herzlich wenig zu tun. 

In ihrem aktuellen Roman "Die Wunder von Little No Horse" geht es um den Stamm der Ojibwe, der in dem Reservat "Little No Horse" angesiedelt wurde. Protagonist dieses Romans ist Agnes alias Father Damien Modeste.
Agnes, die für kurze Zeit in einem Kloster lebte, jedoch ihren Glauben an Gott nicht mit den ihr auferlegten Regeln einer Nonne in Einklang bringen konnte, sucht ihr Heil außerhalb der Klostermauern. Der Zufall will, dass sie in die Identität eines gerade verstorbenen Priesters schlüfen kann, der sich gerade auf dem Weg nach Little No Horse befand, um den dort lebenden Indianern geistlichen Beistand zu leisten und christliche Ordnung in das heidnische Leben dieser Menschen zu bringen.
Agnes wird also unbemerkt zu Father Damien, lebt sich in Little No Horse ein und wird ein wichtiger Bestandteil der indianischen Gemeinschaft. Er ist neugierig und aufgeschlossen gegenüber der fremden Kultur. Das Leben der Indianer ist eine Gratwanderung, gilt es doch einerseits, die indianische Kultur zu bewahren und andererseits, sich dem, von den Weißen für sie vorgesehenen Leben anzupassen.
Quelle: Aufbau
"Es ist schwer, jemanden zu hassen, der einen liebt. Egal, was sie einem antun, man erwidert es mit einem Geflecht dieser beiden Gefühle. Nicht dem einen, nicht dem anderen. Aber schmerzvoll ist es."
Der Roman wird in zwei Zeitebenen erzählt. Er beginnt 1996. Damien ist mittlerweile ein gebrechlicher alter Priester, der sein Leben gelebt hat. Er erhält Besuch von Father Jude, der die Aufgabe hat, die Heiligsprechung einer ehemaligen Nonne aus Little No Horse vorzubereiten. Dafür befragt Jude Menschen, die diese Schwester zeitlebens gekannt haben. So auch Father Damien. Im Rahmen dieser Befragungen erinnert sich Damien an sein Leben in Little No Horse. Es gibt also einen stetigen Wechsel zwischen der Gegenwart und den Episoden aus Father Damiens Leben. Dabei lernen wir Menschen kennen, die Damien begleitet haben und ihm ans Herz gewachsen sind. Leider ist es mir nicht gelungen, den Charakteren nahe zu kommen. Durch die episodenhafte Schilderung hat man kaum Gelegenheit, sich mit den einzelnen Personen vertraut zu machen. Da ist der Figurenstammbaum zu Beginn des Buchs eine große Hilfe, die ich bis zum Ende des Romans ständig in Anspruch nehmen musste.

Die Charaktere in diesem Roman sind von Louise Erdrich sehr liebevoll angelegt. Man spürt die Verbundenheit der Autorin mit den Indianern. Daher scheint es verwunderlich, dass Louise Erdrich bei vielen Charakteren, die Grenze zur Skurrilität überschreitet und man manchmal den Eindruck hat, dass sie diese Figuren der Lächerlichkeit Preis gibt. Hier hätte ich von der Autorin einen respektvolleren Umgang mit ihren Charakteren erwartet.

In gewisser Weise versteht Louise Erdrich, den Leser zu faszinieren. Dabei ist das "Wie", also die Art und Weise, wie sie die Geschichte erzählt entscheidend. Denn ihr Sprachstil ist malerisch bildhaft. Sie schafft Bilder im Kopf, die verzaubern können. Gleichzeitig legt sie einen Humor zutage, der mir viele kleine besondere Momente in diesem Roman beschert hat, die an Situationskomik nicht zu überbieten waren. Probleme hatte ich da eher mit dem "Was", also den Inhalten. Denn in diesem Roman findet sich eine gehörige Portion indianischer Mystik wieder, auf die man sich als Leser einlassen muss. Da kann einem der gesunde Menschenverstand bei der Lektüre im Weg stehen. So auch mir. Diesen magischen Realismus, der für Louise Erdrichs Romane bezeichnend ist, muss man also mögen.
"Die Stimmen mischten sich mit ihren Sinnen, drangen ihr in den Kopf. Sie bemühte sich, ruhig zu atmen, nicht in Panik zu geraten, doch da wurde sie schon von einer gewaltigen Schwäche verschlungen und hörte oder wusste, auch das war nicht sicher - gab es jenseits der Erfahrungen, die sie bisher hatte machen dürfen, Geister? ... Sie bekreuzigte sich und öffente die Tür der einsamen Hütte, aus der ihr der Gestank von Gespenstern entgegenschlug."
Bleibt zum Schluss noch die Frage, was es mit der Wandlung von Agnes zu Damien auf sich hat. Merkwürdigerweise war dies in diesem Roman über lange Zeit kein relevantes Thema. Agnes wird zu Damien und keinen stört es, am wenigsten Agnes? Hier habe ich gehofft, dass der Agnes/Damiens Konflikt deutlicher herausgearbeitet wird. Doch über lange Strecken ist diese Wandlung als gegeben hingenommen worden und spielte keine Rolle. Erst zum Ende wird dieser Handlungsfaden noch einmal aufgegriffen, und wir lernen das Seelenleben der Agnes ein bisschen besser kennen. Magischer Realismus hin oder her. Dieser Aspekt hat mich dann doch ein wenig milder in meinem Urteil über dieses Buch gestimmt. 

© Renie