Freitag, 29. April 2016

Ule Hansen: Neuntöter

Scheinbar gibt es auch unter Vögeln kriminelle Elemente. Insbesondere jene, die zur Familie der Würger gehören. Der Neuntöter ist so ein Exemplar. Er ernährt sich von Großinsekten, macht aber auch vor kleinen Säugetieren und Vögeln nicht halt. Auch wenn der Verdacht nahe liegt ... der Neuntöter erwürgt seine Opfer nicht. Er spießt sie auf. Ein Neuntöter sieht mit seinen 16 - 18 cm Größe und dem hübschen Gefieder eigentlich ganz putzig aus. Kaum zu glauben, dass hinter dem kleinen Kerl ein Killer steckt, der sich auf eine ungewöhnliche Tötungsmethode spezialisiert hat.


Womit wir bei diesem ebenfalls ungewöhnlichen Thriller "Neuntöter" von dem Autorenduo Ule Hansen wären. Auch hier hat sich ein Mörder auf eine ungewöhnliche Tötungsmethode spezialisiert. Er wickelt seine Opfer in Panzertape und stellt sie an Orten aus, die zwar einsam und verlassen sind, aber dennoch eine unmittelbarer Nähe zum Stadtleben haben. Das kann ein Baugerüst hinter einer Plane sein, eine stillgelegte Fabrik oder ein Dachboden, der nie benutzt wird. Was bringt den Mörder dazu, seinen Opfer einen Kokon aus Panzertape zu verpassen? 
"Nachdenklich betrachtete sie das Haus, an dem das Plakat hing. Das falsche Haus mit den aufgemalten Türen, das mit Planen bespannte Gerüst, das immer noch so tat, als wäre es ein stinknormales Eckgebäude, unschuldig, unverdächtig, unberührt. Die Stadt schluckt ihre Morde, ihre Ungerechtigkeiten, ihre Opfer, deren Leben sie zerstört hat, und macht fröhlich weiter, bietet so viele neue Aufregungen, bis die Toten, die Einsamen, die Verletzten langsam verblassen und irgendwann keiner mehr ihre Namen kennt. Die Stadt heilt alle Wunden." (S. 161)
Im Mittelpunkt dieses Thrillers steht die Fallanalystin Emma Carow. In "Fernseh-Deutsch" würde man Emma eine Profilerin nennen. Ihre Aufgabe ist es, ein Täterprofil zu erstellen. Anhand der Spuren, die an den Tatorten gefunden werden, versucht sie, das Verbrechen zu rekonstruieren, sich in den Täter hineinzuversetzen und so Aussagen über seine Persönlichkeit zu treffen. Ihre Untersuchungsergebnisse sollen dem Ermittler-Team wertvolle Hinweise geben und dabei helfen, die Verbrechen aufzuklären. Doch Emma gibt sich nicht damit zufrieden, lediglich als Zulieferer von Informationen zu dienen, zumal das Ermittler-Team ihre Hinweise nicht in der Form interpretiert, wie sie es gerne hätte. Ihr Instinkt beschert ihr Verdachtsmomente, die sie nicht immer belegen kann. Doch sie vertraut auf ihr Bauchgefühl und scheut sich nicht, Kollegen zu manipulieren, damit diese ihre Aufklärungsansätze nachverfolgen, auch wenn diese wider jeder Logik sind. Dabei legt sie eine Besessenheit an den Tag, die ihr keine Sympathiepunkte einbringt.
"Emma mochte Tatorte. Überall geschäftige Kollegen, jeder ein Experte, die intensive Suche nach Spuren, das geballte Fachwissen, diese selbstverständliche Konzentration auf Dinge, die für die meisten Menschen unsichtbar sind. Sie mochte es, Teil davon zu sein. Vor allem aber mochte sie Tatorte, wenn die anderen weg waren. Dann erst entfalteten sie ihre volle Wirkung. Erst dann gaben sie ihre Botschaft preis. Erst dann konnte sie sie auch hören." (S. 71 f.)
Mit Emma Carow hat das Autorenduo Ule Hansen einen Charakter geschaffen, der lange in Erinnerung bleiben wird. Sie ist keine toughe Heldin, die von ihren männlichen Kollegen als Kumpeltyp anerkannt wird. Nein, Emma ist ein verstörter und eigenwilliger Mensch, der sich von anderen fernhält und dem man mangelnde Sozialkompetenz vorwirft. Männern gegenüber verhält sie sich abweisend. Kein Wunder, denn schließlich ist sie vor einigen Jahren vergewaltigt worden. Ihr Vergewaltiger hat mittlerweile seine Haftstrafe abgesessen und befindet sich wieder auf freiem Fuß. Scheinbar ist er geläutert und bereut seine Tat. Zumindest versucht er dies in einem Buch über seine Straftaten und sein Leben im Gefängnis glaubhaft zu machen. Der "ehemalige" Vergewaltiger hat Erfolg mit seinem Buch und präsentiert sich gern in der Öffentlichkeit. Ein Hohn für Emma, denn schließlich hat er sie zu der gestörten Persönlichkeit gemacht, die sie heute ist. Durch die Vergewaltigung hat sie ihre Unbeschwertheit verloren. Ihr Leben ist von Misstrauen gegenüber anderen geprägt. Umso quälender, dass ihr Peiniger wieder auf freiem Fuß ist und sich auch nicht scheut, den Kontakt zu ihr zu suchen.
Bildquelle: Janine / pixelio.de
"Endlich, endlich war sie draußen. Allein. Keiner kam ihr nach. Sie atmete tief durch. Zwei, drei Mal. Mehr wollte sie nicht. Draußen sein, an der frischen, verpesteten Berliner Luft. Ein kleiner, kalter, dreckiger, ungefährlicher Teil der Realität, der nicht ihr Feind war. Für den Rest war sie zu schwach." (S. 133 f.)
In dem Thriller sind 3 Handlungsstränge miteinander verwoben. Im Vordergrund steht die Aufklärung der Mordserie des "Mumienmörders", der seine Opfer in einen Kokon aus Panzertape wickelt und aufhängt. Begleitet wird dies von der Geschichte der Vergewaltigung von Emma und den psychischen Auswirkungen, die diese Tat auf sie hat, bis hin zum heutigen Konflikt mit ihrem Vergewaltiger. Zusätzlich wird der Leser noch Zeuge eines Konkurrenzkampfes, der zwischen Emma und einem Kollegen stattfindet. Beide interessieren sich für die Position der Abteilungsleitung der Fallanalyse, die in Kürze zur Verfügung steht, da die derzeitige Leiterin in Mutterschutz gehen wird. Dieser Konkurrenzkampf wird mit harten Bandagen ausgefochten. Insbesondere Emma's Gegner ist nicht zimperlich bei der Wahl seiner Waffen. Fairness wird bei diesem Kampf ausgelassen.

In den Rezensionen, die ich bisher zu diesem Buch gelesen habe, kam häufiger die Kritik auf, dass der Sprachstil von Ule Hansen sehr gewöhnungsbedürftig sei und sich negativ auf den Lesefluss auswirken würde. Das habe ich völlig anders empfunden. Sicher, der Sprachstil wirkt zerhackt, hauptsächlich hervorgerufen, durch kurze Sätze, Aneinanderreihung von Nebensätzen und Satzfragmenten. Aber man muss bedenken, dass die Geschichte aus der Perspektive von Emma geschrieben ist. Einem Menschen, der zutiefst verstört ist, und der unter den Nachwirkungen eines traumatischen Erlebnisses zu leiden hat. Sie steht unter permanentem seelischen Stress. Und dies spiegelt sich in dem besonderen Sprachstil von Ule Hansen wieder und gibt dem Charakter Emma ein hohes Maß an Authentizität.

Fazit:
Ein verstörender Thriller, bei dem die Spannung von Anfang an sehr hoch ist und sich auch noch zum Ende hin steigern kann. Der Leser tappt - genau wie das Ermittlerteam - lange Zeit im Dunkeln. Erst zum Schluss entwickelt sich ein Szenario, mit dem man nicht gerechnet hat und für das es auch während des Handlungsverlaufs so gut wie keine Hinweise gab. Das Buch fesselt von Anfang bis zum Ende, macht also genau das, was ich von einem guten Thriller erwarte. Daher: Klare Leseempfehlung!

© Renie


Neuntöter von Ule Hansen, erschienen im Heyne-Verlag
Erscheinungsdatum: 29. Februar 2016
ISBN: 978-3-453-43804-0



Wer ist Ule Hansen?
Ule Hansen ist das Pseudonym eines Berliner Autorenduos. Astrid Ule ist zudem Lektorin, Eric T. Hansen freier Journalist. Gemeinsam haben Sie bereits mehrere Dreh- und Sachbücher verfasst. Sie teilen eine Leidenschaft für nächtliche Gespräche bei gutem Whisky, exzentrische Halloweenpartys und ziellose Streifzüge durch die vergessenen Ecken der Stadt. NEUNTÖTER ist ihr erster Thriller. (Quelle: Heyne)

Sonntag, 24. April 2016

Aus dunklen Federn 2 - Horroranthologie, herausgegeben von Sonja Rüther

Neulich gab es bei uns Rote Beete. Der Küchentisch sah in etwa so aus ...





Doch eigentlich ein völlig harmloses Foto, oder? Gemüse, das mit einem Küchenmesser bearbeitet wird. Oder sieht man noch etwas anderes in diesem Foto? Ich gebe zu, manchmal überkommt es mich. Da bekommt dieses banale Verarbeiten von Gemüse eine völlig andere Nuance. Und ich stehe da, mit dem Messer in der Hand, hacke damit auf mein Gemüse ein und lasse meine Gedanken schweifen. Auf einmal ist ein Kohlkopf kein Kohlkopf mehr, das Messer dringt in den Körper ein und der Tisch färbt sich rot. Blutrausch! Ganz schön schräge Gedanken, die ich manchmal beim Kochen habe. Wie gut, dass es nur bei diesen Gedanken bleibt und ich die dunkle Seite meiner Persönlichkeit im Griff habe. Und wie gut, dass es Bücher wie die Horror-Anthologie "Aus dunklen Federn 2" gibt. Denn hier kann ich skrupellos mein Bedürfnis nach Grusel und Horror befriedigen, ohne dass jemand zu Schaden kommt.
Quelle: Briefgestöber

Sonja Rüther hat es mal wieder geschafft. Nach dem Erfolg der Horror-Anthologie "Aus dunklen Federn", die Ende 2014 erschienen ist, hat sie nun einen würdigen Nachfolger herausgebracht: Aus dunklen Federn 2. Wieder konnte sie einige ihrer Autorenkollegen und -freunde "überreden", bei dieser Anthologie mitzumachen. Das Ergebnis sind 16 Geschichten, die meine Horror-Lust mehr als befriedigen. Allen Autoren gelingt es, Horror unterschiedlich zu interpretieren. Die Vielfältigkeit kennt dabei keine Grenzen.

Und genau wie in "Aus dunklen Federn" Teil 1, musste auch jeder Autor seinen zeichnerischen Beitrag leisten. Jeder Geschichte ist eine Zeichnung des Autors, der sie geschrieben hat, vorangestellt. Und die Damen und Herren der schreibenden Zunft haben sich dabei richtig Mühe gegeben, die Ergebnisse können sich sehen lassen. Zeichnungen aus der eigenen dunklen Feder des Autors - persönlicher geht es fast nicht mehr!
"Erst war nur ein leises Quietschen zu hören. Dann kamen zwei Räder mit angerosteten Speichen zum Vorschein, als sich ein verzogener alter Rollstuhl aus der Tür schob. Zwei sehnig faltige Hände griffen in die Räder, trieben sie voran, bis die verkrüppelten Beine gegen das Geländer der Veranda stießen. Und da hockte er, der kleine, böse, alte Mann, die Flinte auf dem Schoß und funkelte böse zu den Hartmanns rüber." (S. 17, aus "Der Groll" von Christian von Aster)
Die Geschichten spielen überall: im Grünen, in der Schule, im Märchen, in Ecuador, in einem selbst, in Büsum, in der Zukunft ...
Die Charaktere in den Geschichten können Leute wie du und ich sein, aber auch Exoten wie Folterknecht, Feen, Hexen, Zombie und Lehrer (Ups!)
Eine bunte Mischung also, es wäre doch gelacht, wenn man sich in dem einen oder anderen nicht wiederfinden könnte.

Was macht diese 16 Geschichten so schön schaurig? Jede Geschichte hat ihren eigenen Horror-Style. Es wird mit Gefühlen gespielt: ob Unbehagen, ohnmächtiger Zorn oder lähmendes Entsetzen; Ekel, Schmerz oder Todesangst. Es gibt Geschichte, die märchenhaft geschrieben sind, ... oder die Ähnlichkeit mit einer Abenteuergeschichte haben. Es gibt die Horror-Dystopie und es gibt die pythoneske Geschichte, die so herrlich schräg und absurd ist, dass man sie ohne weiteres in einem Monty Python-Film wiederfinden könnte. Für jeden Horror-Gusto ist also etwas dabei.
"Er ging gebeugt und sehr langsam, und seine kleinen runden Augen wirkten in dem faltigen Gesicht wie graue Kieselsteine, die man auf knittriges Leder geklebt hatte. Er schwitzte wie ein Tier. Und sein Schweiß war wie Gelee. Zähflüssig rutschte er ihm in großen Tropfen über die Stirn und klatschte in dicken Klümpchen auf sein Hemd. Seine Haare hatten einen unerklärlichen Grünstich und standen starr von seinem Schädel ab. Kleine Zuckerkristalle hingen in seinen Mundwinkeln, und als er den Mund öffnete, war es, als würde er mit jedem Atemzug die Luft in Sirup verwandeln." (S. 48 f., aus "Photosynthese" von Nicole Zöllner)
Viele Geschichten in dieser Anthologie haben den alltäglichen Horror zum Thema. Gerade diese Geschichten aus dem Alltag zeigen ihre besondere Wirkung auf den Leser. Man möchte eigentlich gar nicht daran denken, dass es oft nur ein kurzer Moment ist, der die eigene Komfortzone in ein Horror-Szenario verwandeln kann. Und auf einmal ist nichts mehr wie es war. Allein die Vorstellung, was einem alles passieren kann, lässt einen schaurig schön schaudern.
"Denn es sind immer die dunklen Geschichten, die sich festsetzen." (S. 215, aus "Im Haus des toten Clowns" von Boris Koch)
Wenn man zum Ende dieser Anthologie kommt, hat man das Gefühl, gerade eine Achterbahnfahrt hinter sich gebracht zu haben. Herzklopfen, mulmiges Gefühl in der Magengegend, Adrenalin in allen Poren. Der Nervenkitzel war einfach großartig. Und das ist genau das, was gute Horrorliteratur ausmacht. Der Leser soll sich fürchten und gruseln, seine Fantasie muss mit ihm durchgehen. Und wenn er das Buch zuklappt, muss er das Gefühl haben, dass er großartig unterhalten worden ist. Ein herrliches Gefühl, das fast schon etwas Befreiendes hat! "Aus dunklen Federn 2" hat mir genau dieses Gefühl beschert. Daher: Klare Leseempfehlung!

© Renie


Aus dunklen Federn 2 - HorrorAnthologie, herausgegeben von Sonja Rüther, erschienen bei Briefgestöber
erschienen im März 2016
ISBN:978-3981557473




Und diese Autoren haben mitgemacht:












Mittwoch, 20. April 2016

Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit

Ja, ich habe es auch gelesen. "Vom Ende der Einsamkeit" von Benedict Wells. Es gibt kaum ein Buch, das mir momentan häufiger begegnet als dieses. Facebook und Co., Bloggerkollegen, Presse ... überall trifft man auf dieses Buch. Was soll ich also darüber schreiben, was nicht andere schon Dutzendmale geschrieben haben? Erschwerend kommt  hinzu, dass ich mir keine einzige Notiz zu diesem Roman gemacht habe - nicht, weil es nichts dazu anzumerken gibt, sondern weil mich diese Geschichte komplett in ihren Bann gezogen hat. Da blieb keine Zeit und Lust für Notizen.

Worum geht es in diesem Roman?
Jules und seine beiden Geschwister wachsen behütet auf, bis ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben kommen. Als Erwachsene glauben sie, diesen Schicksalsschlag überwunden zu haben. Doch dann holt sie die Vergangenheit wieder ein. Ein berührender Roman über das Überwinden von Verlust und Einsamkeit und über die Frage, was in einem Menschen unveränderlich ist. Und vor allem: eine große Liebesgeschichte. (Quelle: Diogenes)

Jules, Marty und Liz - drei Kinder, denen von einem Moment auf den anderen die Unbeschwertheit ihrer Kindheit geraubt wird. Der tödliche Unfall ihrer Eltern lässt das Leben der Kinder "an einer Weiche ankommen, falsch abbiegen". Seitdem "führen sie ein anderes, falsches Leben. Ein nicht korrigierbarer Fehler im System."
Was wäre aus den Kindern geworden, wenn sie nicht diesen Schicksalsschlag erlitten hätten? Wären sie die Personen, die sie heute sind? Jules - still, in sich gekehrt, ziellos, fängt alles an - bringt nichts zu Ende, ein Träumer; Marty - der Erfolgstyp, übervernünftig, neurotisch, mit einer Höllenangst vor den Unwegbarkeiten, die das Leben mit sich bringt; Liz - sprunghaft, einzelgängerisch, fast schon selbstzerstörerisch, strebt ein Leben der Extreme an, mit Mittelmaß gibt sie sich nicht zufrieden.

Die Geschichte wird aus der Sicht von Jules erzählt. Er vermittelt einen tiefen Einblick in sein Seelenleben. Über mehrere Jahrzehnte begleitet der Leser Jules und durchlebt dabei sämtliche Glücksmomente und Schicksalsschläge, die das Leben für Jules bereithält. 
Das Glück in seinem Leben ist trügerisch. Sobald Jules auf der Sonnenseite des Lebens steht, ziehen die ersten Regenwolken auf. Sein Glück ist nie von Dauer. Und einmal mehr  wird einem bewusst, dass sich das Glück nicht festhalten lässt. Zum Leben gehören beide Facetten, sowohl Glück als auch Unglück.
"Das Leben ist kein Nullsummenspiel. Es schuldet einem nichts, und die Dinge passieren, wie sie passieren. Manchmal gerecht, so dass alles einen Sinn ergibt, manchmal so ungerecht, dass man an allem zweifelt. Ich zog dem Schicksal die Maske vom Gesicht und fand darunter nur den Zufall." (S. 299)
Die Geschichte wird in leisen melancholischen Tönen erzählt. Diese Melancholie wirkt ansteckend. Sie stimmt nachdenklich, und bringt den Leser dazu, zwischendurch innezuhalten und das Gelesene zu reflektieren. Benedict Wells macht es dem Leser einfach, in diese Geschichte abzutauchen. Sein Sprachstil wirkt wunderschön mühelos.  Durch ihre unaufdringliche Leichtigkeit rückt die Sprache in den Hintergrund und lässt der melancholischen Stimmung viel Raum zur Entfaltung. Nichtsdestotrotz stößt man immer wieder auf Beweise der hohen Sprachkunst von Benedict Wells, die dem Leser einige Zaubermomente bescheren.
"Und dann dachte ich an den Tod und wie ich mir früher oft vorgetellt hatte, er wäre eine unendliche Weite, wie eine Schneelandschaft, über die man flog. Und dort, wo man das Weiße berührte, füllte sich das Nichts mit den Erinnerungen, Gefühlen und Bildern, die man in sich trug, und bekam ein Gesicht. Manchmal war das Entstandene so schön und eigentümlich, dass die Seele hineintauchte, um dort zu verweilen, bis sie schließlich weiterzog, auf ihrem Weg durch das Nichts." (S. 306)
Ich habe dieses Buch gestern beendet und bekomme seitdem den Kopf nicht frei. Viel zu sehr beschäftigen mich die Gedanken, die dieser Roman bei mir hervorgerufen hat. Das Buch hat viele philosophische Ansätze. Folgende Fragen haben eine große Bedeutung für diesen Roman: Wäre man heute derselbe Mensch, wenn die eigene Kindheit anders verlaufen wäre? Gibt es etwas im Menschen, dass unveränderlich ist, egal, was einem im Leben widerfährt?
Fragen, die sich nicht beantworten lassen, aber diesen Roman nachwirken lassen.

"' ... Du bist nicht schuld an deiner Kindheit und am Tod unserer Eltern. Aber du bist schuld daran, was diese Dinge mit dir machen. Du allein trägst die Verantwortung für dich und dein Leben. Und wenn du nur tust, was du immer getan hast, wirst du auch nur bekommen, was du immer bekommen hast.'" (S. 185)
"'Es ist ... Wir sind von Geburt an auf der Titanic. ... Was ich sagen will: Wir gehen unter, wir werden das hier nicht überleben, das ist bereits entschieden. Nichts kann das ändern. Aber wir können wählen, ob wir schreiend und panisch umherlaufen oder ob wir wie die Musiker sind, die tapfer und in Würde weiterspielen, obwohl das Schiff versinkt. ...'" (S. 339)

Fazit:
Ein berührendes und melancholisches Buch, erzählt mit einer Leichtigkeit, die dem Leser viel Raum zum Nachdenken lässt. Und das Schöne ist: Trotz aller Nachdenklichkeit und Melancholie hat dieses Buch einen hoffnungsvollen Schluss, so dass man als Leser mit einem positiven Gefühl und einem Lächeln wieder in den Alltag entlassen wird.
Klare Leseempfehlung!

© Renie

Vom Ende der Einsamkeit von Benedict Wells, erschienen im Diogenes Verlag
erschienen im März 2016
ISBN978-3-257-06958-7

Über den Autor:
Benedict Wells wurde 1984 in München geboren. Im Alter von sechs Jahren begann seine Reise durch drei bayerische Internate. Nach dem Abitur 2003 zog er nach Berlin. Dort entschied er sich gegen ein Studium und widmete sich dem Schreiben. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit diversen Nebenjobs. Sein vielbeachtetes Debüt ›Becks letzter Sommer‹ erschien 2008, wurde mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet und 2015 fürs Kino verfilmt. Sein dritter Roman ›Fast genial‹ stand monatelang auf der Bestsellerliste. Nach Jahren in Barcelona lebt Wells inzwischen wieder in Berlin. (Quelle: Diogenes)

Samstag, 16. April 2016

Franziska Walther: Werther Reloaded (Graphic Novel)

Wie war das nochmal mit Goethes Werther? Also, Werther liebte Lotte - Lotte liebte Werther (oder auch nicht) - doch Lotte war einem anderen versprochen (Albert) - Werther litt wie ein Tier, konnte Lotte nicht umstimmen - einziger Ausweg: Selbstmord!
Liebhaber der klassischen Literatur mögen mir diese respektlose Kurzversion verzeihen - wobei ich mir nicht vorstellen kann, dass sich jemals ein Klassik-Leser auf meinen Blog verirren wird. Aber denjenigen, die sich an klassische Literatur nicht herantrauen oder immer noch mit den Nachwirkungen des Deutsch-Unterrichts in der Schule zu kämpfen haben, kann ich nur raten: Versucht es mal mit einer Graphic Novel! Und falls doch ein Fan klassischer Literatur hierher finden sollte.... Sieh mal an, was man aus einem Klassiker alles machen kann!

Franziska Walther geht alles andere als respektlos an Goethes "Die Leiden des jungen Werther" heran.
Sie versetzt ihren Protagonisten Werther in unsere Zeit. Da lebt er nun in New York, arbeitet in der Werbung und macht das, was ein Hipster so macht: Arbeit, Party, Sex, Drogen ... - alles im Überfluss, aber trotzdem nie genug. Ein Leben, das von Oberflächlichkeit geprägt ist und dem die Sinnhaftigkeit fehlt. Eine Auszeit wäre nicht schlecht. Er macht Urlaub auf dem Land, je mehr Ruhe und Natur desto besser. Hier lernt er Lotte kennen und verliebt sich in sie. Seine Gefühle werden erwidert, jedoch nicht in dem Maße, wie Werther es sich erhofft. Irgendwann offenbart sie ihm, dass sie bereits mit jemandem zusammen ist: Albert. Werther kommt mit der Situation nicht klar. Er kann nicht gegen seine Gefühle angehen und versucht, Lotte für sich zu gewinnen. Damit tut er sich jedoch keinen Gefallen. Sie weist ihn zurück. Werther kehrt zurück nach New York und fällt wieder in den alten Trott. Doch er schafft es einfach nicht, Lotte aus dem Kopf zu bekommen und verfällt in Depressionen ..... weiter erzähle ich nicht.




Am 21. November.
Sie sieht nicht, sie fühlt nicht, daß sie ein Gift bereitet, das mich und sie zugrunde richten wird; und ich mit voller Wollust schlürfe den Becher aus, den sie mir zu meinem Verderben reicht. Was soll der gütige Blick, mit dem sie mich oft - oft? - nein, nicht oft, aber doch manchmal ansieht, die Gefälligkeit, womit sie einen unwillkürlichen Ausdruck meines Gefühls aufnimmt, das Mitleiden mit meiner Duldung, das sich auf ihrer Stirne zeichnet?...
- aus Goethes "Die Leiden des jungen Werther"

Franziska Walther arbeitet in dieser Graphic Novel mit leuchtenden Farben: Blau- und Rottöne, Pistaziengrün sowie Rosa und Violett.
Violett ist dabei die dominierende Farbe, anfangs dosiert eingesetzt, nimmt sie im Verlauf der Geschichte immer mehr Raum ein. Welche Bedeutung hat die Farbe Violett eigentlich? Ich kann mich vage daran erinnern, dass sie von einigen Völkern als Farbe der Trauer angesehen wird. Im Internet gibt es seitenweise Abhandlungen über die Symbolik von Farben. Bei meiner Recherche bin ich dabei auf ein paar Begriffe gestoßen, die man allgemein mit der Farbe Violett verbindet:
Mystik, Magie, Über-Ich, Inspiration, Melancholie, Leid, Verzicht, Neigung zu Neurosen.
Ist das jetzt ein Zufall, dass im Verlauf der Geschichte, die Farbe Violett immer stärker vertreten ist? Zumindest demonstriert Franziska Walther damit eindrucksvoll das Gefühlsleben von Werther. Je tiefer er in seinem Kummer um die unerfüllte Liebe versinkt, je mehr Leid, Melancholie und Gefühlschaos er empfindet, desto mehr werden die Zeichnungen von der Farbe Violett dominiert.
Anfangs wirkt die Farbgebung grell und unruhig. Sie geben das hektische Leben Werthers in New York wieder. Im Verlauf der Geschichte erhalten die Bilder etwas Düsteres und Schwermütiges. Als Leser spürt man den Seelenschmerz von Werther, die Depression, mit der er zu kämpfen hat. Franziska Walter arbeitet auf einmal Schatten in ihre Bilder ein. Sind das etwa die Schatten die sich auf Werthers Seele legen?

Franziska Walther hat ihre Zeichnungen durch Auszüge aus Goethes Briefroman um den jungen Werther ergänzt. Anfangs ist dies gewöhnungsbedürftig. Der Kontrast zwischen modernem Bild und alter Sprache ist schon extrem. Aber je intensiver man sich mit Zeichnungen und Text beschäftigt, desto selbstverständlicher wird diese Kombination und man möchte sie am Ende nicht missen.

Werther Reloaded von Franziska Walther ist für mich ein Paradebeispiel, dass Klassische Literatur Spaß machen kann. Sie hat es geschafft, einem Briefroman, 1774 von Goethe verfasst, ein modernes Gewand zu verpassen. Dabei hat sie Goethes Plot aufgegriffen, modifiziert und auf unsere heutige Zeit angepasst. Franziska Walther beweist viel Feingefühl bei der Umsetzung. Durch die Aussagekraft ihrer Zeichnungen erzählt sie eine eigene Geschichte, liefert viele Parallelen zu Goethes Werther und hält somit immer eine Verbindung zu dem Ursprungswerk. Verstärkt wird dies noch durch die Textauszüge aus dem Originalwerk.
Und wer am Ende wissen will, wie es wirklich bei Goethes Werther zugegangen ist, der kann Goethes Briefroman, der im hinteren Teil dieses Buches abgedruckt ist, in seiner ganzen Herrlichkeit nachlesen.

© Renie

Werter Reloaded von Franziska Walther, erschienen im kunstanstifter verlag
Erscheinungstermin: 17. März 2016
ISBN 978-3-942795-37-1


Über Franziska Walther:
Franziska Walther, geboren 1980, ist eine Diplom-Designerin, Illustratorin und Architektin mit Sitz in Hamburg und Weimar. Unter dem Namen SEHEN IST GOLD® illustriert und gestaltet Franziska Bücher, Magazine, Broschüren und Buchumschläge für Verlage und Agenturen. Eine Leidenschaft für Bücher, Bild und Schrift sowie deren Symbiose zeichnet ihre Arbeit aus.

Franziska erhielt für ihre Arbeiten im Bereich Illustration und Buchgestaltung zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen, unter anderem den Joseph-Binder-Award 2012 in Gold für das Buch »Peter Schlemihls wundersame Geschichte«.

Donnerstag, 14. April 2016

Lasha Bugadze: Der Literaturexpress

Im Jahr 2000 gab es ein paneuropäisches Projekt namens "Literaturexpress 2000": Über 100 Autoren aus 43 europäischen Ländern, bestiegen in Lissabon den Literaturexpress und begaben sich auf eine Reise quer durch Europa. Über einen Zeitraum von 6 Wochen waren sie in besagtem Literaturexpress unterwegs, um Europa die Vielfalt der europäischen Literatur näher zu bringen. Während ihrer Stopps fanden Lesungen und Podiumsdiskussionen statt, bei denen die teilnehmenden Autoren die Gelegenheit hatten, ihre Werke dem geneigten Ohr der europäischen Leserschaft zu präsentieren.

Lasha Bugadze hat zu dieser spektakulären Literaturreise quer durch Europa einen Roman geschrieben, die - laut Klappentext - ein "paneuropäischer Irrsinn" war.

Im Mittelpunkt dieses Roman steht der 28-jährige Zaza, ein georgischer Autor, der bisher einen einzigen, leider wenig erfolgreichen Erzählband in seiner Heimat veröffentlicht hat. Er erhält die Einladung zur Teilnahme an dem Literaturexpress und fragt sich, warum man ausgerechnet auf ihn gekommen ist. Berechtigte Frage! Hat Georgien nichts Besseres zu bieten? Nun gut, zur georgischen Delegation gehört noch Zwiad. Aber der ist Lyriker. Und einen Lyriker mit einem Prosaisten zu vergleichen? Das ist, als ob man Äpfel mit Birnen vergleicht. Warum also Zaza? Leider erhält Zaza keine Antwort auf diese Frage, die er sich so häufig in diesem Roman stellen wird.
"Es ist schrecklich, als georgischer Schriftsteller geboren zu werden! Niemand interessiert sich für dich, du aber, durch diese Scheißegal-Haltung deiner Mitbürger bedrückt, schreibst trotzdem weiter ... Wobei es immer noch besser ist, Lyriker zu sein als Prosaist. Als Lyriker kannst du dich in deinem Hotelzimmer einsperren, dich besaufen, die anderen angiften, und später, wenn du Glück hast, schreibst du ein paar wutentbrannte Strophen runter. Und ich? Was zum Geier soll ich machen? Mit dem Trinken habe ich aufgehört, und Gedichte schreiben kann ich auch nicht." (S. 134 f.)
Zaza steckt voller Selbstzweifel. Während der Reise vergleicht er sich mit den anderen Schriftstellern. Er beobachtet und wundert sich. Die europäischen Kollegen stecken voller Ehrgeiz, haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Eindrücke dieser Reise in möglichst geniale schriftstellerische Ergüsse einfließen zu lassen.
Zaza kann deren Ehrgeiz und Elan nicht teilen. Fehlt ihm das Schriftsteller-Gen, das ihn dazu bringt aus einer Idee eine Geschichte entwickeln zu können? Und so verbringt er seine Zeit in dem Literaturexpress mit Nachdenken. Dabei versucht er, möglichst unauffällig zu bleiben - bloß nicht auffallen, und beim nächsten Halt noch eine Lesung durchführen müssen!

Im Klappentext dieses Romans wird folgende Frage gestellt:
"Was passiert, wenn man hundert Schriftsteller in einen Zug steckt und quer durch Europa schickt?"
Eine Frage, die große Erwartungen beim Leser schürt! Hundert unterschiedliche, (hoffentlich) exzentrische Charaktere, die aufeinander prallen und über etliche Wochen miteinander klar kommen müssen. Das schreit doch nach einem Festival der Eitelkeiten! Aber das bietet dieses Buch leider nicht. Stattdessen gewinnt man den Eindruck, dass die Teilnehmergruppe fast ausschließlich aus osteuropäischen Autoren besteht. Zwischendurch taucht mal ein Westeuropäer auf, der aber keinen Einfluss auf die Handlung hat und auch keinen bleibenden Eindruck beim Leser hinterlässt. Die Osteuropäer scheinen unter sich zu bleiben. Hier hätte ich mir doch mehr Konfliktpotenzial beim Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Mentalitäten erhofft. Zudem findet generell wenig Interaktion zwischen den Autoren statt. Insofern ist die Frage aus dem Klappentext ein wenig irreführend.
"Ich war mir sicher, dass alle ihre jeweiligen gegenwärtigen Eindrücke beschreiben und ihre romantisch-professionellen Seelenzustände schriftstellerisch, lyrisch oder was weiß ich noch wie festhalten wollten. Vor meinen Augen entstand bereits ein Riesenberg an literarischem Schund - der reinste Literaturersatz ohne jede Bedeutung! Ja, niemand hätte mich davon überzeugen können, dass genau jetzt, wenige Augenblicke nachdem sich unser Zug in Gang gesetzt hatte, auch nur einer imstande war, etwas literarisch Wertvolles und Interessantes zustande zu bringen. Alles nur Schwindler, weiter nichts!" (S. 48)
Bei diesem Roman bekommt man es also nicht mit einem Kulturkampf zu tun. Stattdessen präsentiert Lasha Bugadze eine Satire auf osteuropäische Schriftsteller. Dabei bedient er sämtliche Klischees, angefangen bei der Trinkfestigkeit, dem ungehobelten Benehmen und dem Ehrgeiz, in den Texten eine politische Botschaft zu verpacken und ihnen somit einen pseudo-intellektuellen Anstrich zu verpassen. Bugadze verwendet dabei einen Sprachstil, der mich überrascht hat. Mit osteuropäischer Literatur verbinde ich eine schwermütige, ein wenig düstere Sprache. Nicht so bei Bugadze. Er ist witzig, vermittelt die Geschehnisse während der Reise in einem sehr lockeren Stil, der an manchen Stellen fast schon eine heitere Stimmung produziert. Eine Stimmung, die einen stellenweise an die Ausgelassenheit einer Oberstufenklasse bei einem Schulausflug erinnert.
"Oder interessiert sich der New Yorker ausschließlich für Bulgarien? Wie soll ein Autor erraten, welche Region zum Beispiel im kommenden Jahr dran sein wird? Wo etwa ist der nächste Krieg geplant? Wo werden als Nächstes die Köpfe von Entführungsopfern rollen? Man sollte Ausschreibungen machen wie: 'Im Jahre 2030 werden Romane gefragt sein, die sich mit der UN beschäftigen!'" (S. 198)
Neben der Satire präsentiert Bugadze dem Leser noch eine  Liebesgeschichte, die doch gewisse Parallelen zu Goethes "Die Leiden des jungen Werther" aufweist. Also er (Zaza) verliebt sich in sie (Helena), sie erwidert seine Liebe .... oder auch nicht ... blöderweise ist sie jemand anderem versprochen (bei Bugadze ist sie schon verheiratet)... zurück bleibt der unglücklich Verliebte, der sich bei Goethe das Leben nimmt, bei Bugadze aber nicht. Unglücklich ist Zaza trotzdem. Während der Zugfahrt schmachtet er Helena an, sucht ständig ihre Nähe und gewährt dem Leser einen tiefen Einblick in seine von Liebeskummer durchtränkte Seele. Die Gedanken, welche sich um seine Angebetete drehen, haben streckenweise spätpubertierende Ausmaße. Das kann für den Leser nervig werden, kann aber auch amüsant sein, vermutlich je nach Altersklasse des Lesers.

Fazit:
Mich konnte dieser Roman leider nicht überzeugen. Aufgrund des Klappentextes hatte ich auf eine Satire gehofft, die sich auf Eitelkeiten, Neid und Missgunst unter Autoren konzentriert. Ich habe auf Streitereien und Zickereien gehofft. Doch aufgrund der fehlenden Interaktion der Autoren, blieben die erhofften Reibereien zwischen unterschiedlichen Mentalitäten aus. Stattdessen bekam ich einen Einblick in die osteuropäische Schriftstellerseele.
Hinzu kommt, dass die Handlung mich nicht mitreißen konnte. Stetiges Dahinplätschern ist auf Dauer langweilig. Ein paar unvorhersehbare Wendungen hätten dem Spannungsbogen sicherlich gut getan.
Positiv hervorheben möchte ich den Sprachstil von Bugadze. Seine Leichtigkeit und Ironie entschädigen den Leser um einiges in diesem Buch. Auf alle Fälle hat Bugadze mit seinem Sprachstil bewiesen, dass man ihn als Schriftsteller durchaus auf dem Leseradar behalten sollte.

© Renie

Der Literaturexpress von Lasha Bugadze, erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt
Erscheinungsdatum: 1. März 2016
ISBN: 978-3-627-00223-7

Über den Autor:
Lasha Bugadze, geboren 1977 in Tbilissi, zählt zu den meistgelesenen Autoren Georgiens. Seine Romane und Theaterstücke wurden in viele Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hauptpreis der International Radio Playwriting Competition der BBC. Lasha Bugadze lebt in Tbilissi und ist bekannt für seine Literatursendungen in Radio und Fernsehen.




Sonntag, 10. April 2016

Peter Lancester: Dämonentränen

Ich sollte mehr auf meine Wortwahl achten. Da habe ich doch leichtfertig in einer meiner Rezensionen den Satz losgelassen: "Sollte mir also zukünftig ein interessantes Horrorbuch vor die Lesebrille kommen, wird es vorbehaltlos gelesen." Und schon hat jemand die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und mich beim Wort genommen:
Der Eldur-Verlag, spezialisiert auf düstere Literatur, Horror, Science-Fiction, Fantasy und Thriller,  berief sich auf meine Aussage und hat mir sein Programm quasi zu Füßen gelegt. Bei meiner Blogger-Ehre gepackt sollte ich mich nun für ein Buch entscheiden. An die Horror-Sparte habe ich mich nicht herangewagt - zu blutig. Ich meine, wenn ein Buch schon den Begriff "Fleisch" in seinem Titel trägt, gehe ich davon aus, dass auch viel Fleisch verarbeitet und viel Blut fließen wird. Das ist nichts für meine schwachen Nerven.  Science Fiction habe ich noch nie gern gelesen. Blieb also noch Fantasy und Thriller. Und im Fantasy-Bereich bin ich auf die "Chroniken der Anderwelten" von Peter Lancester gestoßen, ein Dark-Fantasy-Epos "über die Heimat wundersamer Kreaturen und rachsüchtiger Götter". Auf die wundersamen Kreaturen war ich gespannt, insbesondere die Geschichte des 3. Teils "Dämonentränen" hatte es mir angetan. Und was soll ich sagen, das Buch ist richtig gut!
Quelle: Eldur-Verlag

Kurz und knapp geht es um die Lebens- und Leidensgeschichte der Psychiatriepatientin Mona, die ein grauenvolles Geheimnis in ihrem Körper verwahrt. (Quelle: Eldur-Verlag)
"Es war solch eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet sie, ein Kind der Nacht, das helles Licht scheute und vor dem sich besser jedes Lebewesen fürchten sollte, Angst vor der Dunkelheit hatte. Nicht vor der Dunkelheit ans sich, sondern davor, was sich in ihr verbergen konnte. Das Gesichtslose, Gestaltlose, Ungreifbare." (S. 43)
Erzählt wird diese Geschichte in mehreren Handlungssträngen und Zeitebenen. Sie beginnt irgendwann in der Vergangenheit, in einer Zeit, in der die Menschen noch mit Schwertern statt mit Handys unterwegs waren. Ein Mann und eine Frau auf der Flucht. Sie ist die Tochter eines wohlhabenden und angesehenen Bürgers einer Stadt namens Unterhessen. Er ist der nicht standesgemäße Mann, den sie liebt und mit dem sie durchgebrannt ist. Ihre Flucht nimmt ein jähes Ende als die beiden von Flugteufeln überfallen werden. Im Verlauf der Geschichte zeichnet sich ab, welche Fähigkeiten Flugteufel besitzen: sie können fliegen, ernähren sich von Blut und Fleisch und sie können eine menschliche Gestalt annehmen. Auch, wenn der Leser ahnt, wie die Sache für die beiden ausgeht, bleibt das Schicksal der beiden zunächst ungewiss.
Denn mit dem nächsten Kapitel gibt es einen Wechsel in die Gegenwart. Hier treffen wir auf Frank und Mona. Die beiden leben zusammen in Hamburg. Mona ist irgendwie merkwürdig, insbesondere ihre Essensgelüste sind sehr befremdlich. Außerdem scheint sie geistig zurückgeblieben. Was ist los mit ihr? Spätestens als sie entführt wird, fragt man sich, welches Geheimnis Mona hütet. 
Der Autor Peter Lancester bringt Licht ins Dunkle, indem er einen Wechsel zwischen den einzelnen Handlungssträngen stattfinden lässt. Durch Rückblicke auf die Jahre vor der Entführung, erfährt der Leser nach und nach, welches Geheimnis Mona tatsächlich verbirgt und warum sie der "Mensch" ist, der sie ist.
"Sie sah nicht nur aus wie ein Mensch und lebte wie ein Mensch, sie dachte auch immer mehr wie ein Mensch. Sie empfand das Monster in sich mehr und mehr wie eine andere Person, mit der sie diesen Körper zu teilen gezwungen war, und das manchmal erwachte, um klarzustellen, wem dieser Körper in Wirklichkeit gehörte. Wenn das Monster fressen wollte, dann musste Mona fressen; wenn es töten wollte, musste Mona töten. Und da es nicht sterben wollte, blieb Mona am Leben." (S. 249)
Man lernt mit der Zeit, dass Mona eine blutrünstige Kreatur in Menschengestalt ist, die jedoch durch ihr Leben bei den Menschen gezwungen ist, sich anzupassen. Interessanterweise schafft es Peter Lancester, dass man als Leser vergisst, dass Mona ein Monster ist. Sie ist eine wunderschöne Frau, hochsensibel, gutgläubig, naiv und leidet in ihrer Haut. Wenn dann auch noch ihre Naivität von bösen Buben ausgenutzt wird, leidet man mit ihr. Ja, auch Monster haben eine Seele! Wenn da nur nicht ihre merkwürdigen Essgewohnheiten wären ;-)
Die Geschichte wird hauptsächlich aus der Sicht von Mona erzählt, wodurch man einen intensiven Einblick in ihre verletzliche Seele erhält. Durch den Wechsel auf die Erzählperspektiven anderer Charaktere in diesem Buch, schafft es der Autor jedoch, dem Leser immer wieder in Erinnerung zur rufen, was für ein Wesen Mona tatsächlich ist. Peter Lancester hat dabei einen sehr präzisen Sprachstil, er schweift nicht ab, konzentriert sich auf das Wesentliche. Dabei formuliert er seine Sätze punktgenau, wobei sein Sprachstil dadurch keineswegs nüchtern wirkt. Denn er schafft es immer wieder humoristische Komponenten einfließen zu lassen. Der Spannungsaufbau ist hervorragend. Einmal angefangen, legt man dieses Buch nicht so schnell aus der Hand.
Quelle: © Marlies Schwarzin  / pixelio.de

In diesem Buch trifft man fast ausschließlich auf fragwürdige, merkwürdige und kriminelle Charaktere, angefangen bei skrupellosen Forschern, südländischen Brutalos bis hin zu Typen aus dem Rotlichtmilieu. Die einzigen Normalos scheinen Mona und Frank zu sein. Frank ist sehr religiös und versucht dementsprechend sein Leben zu gestalten. Er ist in dieser Geschichte der Gutmensch, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Mona zu beschützen. Wie erfolgreich er dabei ist, stellt sich erst zum Ende heraus.
"In diesem Augenblick meldete sich wieder der Hunger mit einem unüberhörbaren Magenknurren. Sie sah zu der Frau hinüber. Schönes, weißes Fleisch; warmes, rotes Blut - und außer ihnen beiden war niemand  hier ..." (S.123)
Man kann dieses Buch ohne Kenntnisse der vorherigen Bände aus den Chroniken der Anderwelten lesen. Es gibt meines Erachtens eine Verbindung, indem gerade in dem Handlungsstrang, der zu Beginn der Geschichte einsetzt (der mit den Schwertern und Flugteufeln) kurz von einem Portal in eine andere Welt berichtet wird bzw. von einer sogenannten "Verlorenen Stadt". Dies sind Fantasyelemente, die auf weitere Geheimnisse hindeuten, die sich hinter dieser Geschichte über Mona verbergen.

Kommen wir zu den Horrorelementen in diesem Buch. Man trifft auf Szenen, die ziemlich ekelig sind. Peter Lancester hat der dunklen Seite seiner Fantasie freien Lauf gelassen. Manche Szenen waren für mich grenzwertig. Nun muss ich dazusagen, dass bei den Büchern, die ich sonst lese, das Blut nur gelegentlich tröpfelt. In Dämonentränen floss es zwischenzeitlich in wahren Sturzbächen, was nicht so meins ist. Aber ich bin hier sicherlich kein Maßstab. Ein echter Horrorfan ist hier selbstverständlich anderes gewohnt.

Fazit:
Dieses Buch ist ein megaspannender Genremix aus Fantasy, Horror und Thriller. Wer, wie ich, eher harmlos liest und doch zwischendurch den Nervenkitzel sucht, ist bei diesem Buch gut aufgehoben. Ich könnte mir vorstellen, irgendwann auch die anderen Teile der "Chroniken der Anderwelten" zu lesen. Schließlich möchte ich doch wissen, was es mit der "Verlorenen Stadt" auf sich hat ;-) 

© Renie

Dämonentränen von Peter Lancester, erschienen im Eldur-Verlag (2005)
ISBN: 3-937419-05-5

Zum Autor:
Peter Lancester schreibt vorwiegend Horrorgeschichten, doch es ist schwer, für diese einen Verleger zu finden, denn jeder, der sie liest, erkrankt alsbald an einem grünlichen Hautausschlag und stirbt nach einer Woche. (Quelle: Dämonentränen) (Da habe ich ja nochmal Glück gehabt ;-))

Peter Lancesters Sprachstil ist knapp und trocken, was seinen Geschichten bisweilen eine subtile Humorkomponente verleiht. Dennoch kommen große Emotionen nicht zu kurz - was man wohl am eindrucksvollsten am Buch "Dämonentränen" sehen kann: Es hat tatsächlich so manchen erwachsenen Mann zum Weinen gebracht.
Sein Hauptwerk besteht aus zahlreichen, unterschiedlich langen Horrorgeschichten, welche oft von Blut triefen und doch das eigentliche Grauen aus der Vorstellung des Lesers beziehen. (Quelle: Eldur-Verlag)

Mittwoch, 6. April 2016

Rabih Alameddine: Eine überflüssige Frau

"Beirut ist eine Stadt gewordene Elisabeth Taylor: verrückt, schön, kitschig, im Zerfall begriffen, alternd und ewig dem Drama ergeben." (S. 139)
In diesem Beirut spielt der Roman "Eine überflüssige Frau" von Rabih Alameddine, erschienen im Louisoder Verlag. Und man ahnt es: dieser Roman zeichnet sich durch eine phantasievolle und poetische Sprache aus, die mich völlig begeistert hat.
Quelle: Louisoder

Worum geht es in diesem Roman?
Wie der Titel schon sagt geht es um eine "überflüssige" Frau namens Aaliya, die seit ihrem 20. Lebensjahr allein mit ihren Büchern und Erinnerungen in ihrer Wohnung in Beirut lebt. Mit 16 Jahren wird sie mit einem älteren Mann verheiratet. Da die Ehe kinderlos bleibt, reicht er nach wenigen Jahren die Scheidung ein - das Beste, was Aaliya passieren konnte. Denn endlich ist sie frei und kann ihr Leben frei gestalten. Sie arbeitet lange Zeit als Buchhändlerin und kann sich dabei ihrer Leidenschaft für Literatur hingeben.  Sie macht es sich zur Lebensaufgabe, ihre Lieblingsbücher ins Arabische zu übersetzen. Dabei wählt sie immer den 1. Januar als Beginn für die Übersetzung eines weiteren Buches. Über die Jahre sind etliche Übersetzungen zusammengekommen, die einen ganzen Raum ihrer Wohnung füllen. Doch jetzt, im Alter von  72 Jahren, ist sie das erste Mal unschlüssig, welches Buch sie diesmal übersetzen soll. So viele Bücher, die noch auf sie warten und so wenig Zeit, die ihr im Leben noch bleibt. Sie beginnt, über ihr Leben nachzudenken. Sie blickt auf ihre Kindheit zurück, auf ihr Leben in Beirut, auf die Kriegsjahre. Sie denkt über ihre Familie nach. Und an ihre Freundin Hannah, der einzige Mensch, der ihr nahe gestanden hat, den sie an sich herangelassen hat, und der sie verstanden hat.
"Es hat mich mein ganzes Leben lang beschäftigt, dass ich nicht bin wie alle anderen. Jahrelang konnte ich mir einreden, ich sei etwas Besonderes und dass ich bewusst anders sein wollte. Tatsächlich wollte ich glauben, dass ich erhaben war, keine Künstlerin, kein Genie wie Matisse, aber anders als der Mob. Ich bin außergewöhnlich, ein Individuum, nicht nur eigenartig, sondern einzigartig. Ich empfand meine Individualität als Tugend, die mich vor den kollektiven Launen und Verrücktheiten schützte und mir half, über familiären und gesellschaftlichen Strömungen zu schweben. Das gab mir Trost und Sicherheit. Nur lässt mich diese Überzeugung jetzt im Stich." (S. 291)
Aaliya ist ein ganz besonderer Mensch. In einer von Männern dominierten Welt, schafft sie es, ihren eigenen Weg zu gehen. Sie war immer das schwarze Schaf der Familie, ein Anhängsel aus der ersten Ehe der Mutter. Aaliya bleibt in ihrer Ehe kinderlos. Wen interessiert's da, dass ihr Mann impotent ist? Schuld hat in solchen Fällen die Frau. Geschieden, allein lebend, berufstätig und dann noch ihr merkwürdiges Hobby, das Lesen! Ihre Familie empfindet für sie nur Verachtung. Doch Aaliya liegt nichts an der Zuneigung ihrer Familie. Sie wählt den für sie einzig richtigen Weg: Ein Leben in Einsamkeit, in dem sie tun und lassen kann, was sie will.
"Mein Exmann erfüllte die wichtigsten Anforderungen an einen Mann aus Stendhals Zeit, wie sie Graf Mosca der delikaten Duchezza in Die Kartause von Parma darlegt: 'Heutzutage, das heißt etwa in den nächsten fünfzig Jahren, solange wir Angst haben und die Tradition noch nicht wiederhergestellt ist, kommt es für einen jungen Mann vor allem darauf an, unfähig zur Begeisterung und arm an Geist zu sein.'
So war der Narr, den ich geheiratet habe, selig sei seine widerliche Seele." (S. 317)
Aaliya lebt mit der Literatur und denkt in der Literatur. Bücher sind ihr Leben und ihre Freunde. Sie hat die Angewohnheit, für jede Situation ein angemessenes Zitat aus ihren Lieblingsbücher parat zu haben. Wenn sie allein in ihren Gedanken versinkt, zieht sie Parallelen zu den unzähligen Geschichten, die sie während ihres Lebens gelesen hat. Anhand ihrer literarischen Erinnerungen philosophiert sie über das Leben. Für den Leser bedeuten diese Momente ein Abtauchen in berühmte Werke der Literatur. Und es ist faszinierend festzustellen, wie intensiv sich Aaliya mit diesen Büchern beschäftigt hat, und welchen Einfluss Literatur auf einen Menschen haben kann.
"In einem seiner Essays verfolgt Marías die These, dass seine Bücher sich genauso sehr um das drehen, was nicht passiert ist, wie um das tatsächliche Geschehen. Mit anderen Worten: Die meisten unter uns denken, dass wir durch Ereignisse, die uns geprägt haben, durch Entscheidungen der Menschen um uns herum zu dem Menschen geworden sind, der wir sind. Wir ziehen selten in Erwägung, dass wir auch durch die Entscheidungen geprägt wurden, die wir nicht trafen, durch die Ereignisse, die hätten geschehen können, es aber nicht taten, oder, so gesehen, auch durch den Mangel an Alternativen." (S. 39)
Mit 72 Jahren ist Aaliya an einem Punkt in ihrem Leben angekommen, der sie doch zweifeln lässt. Sie hat sich für die Einsamkeit entschieden und sich Zeit ihres Lebens immer selbst genügt. Ihre Mutter lebt noch, ist allerdings ein Schatten ihrer selbst. Ihre Gebrechlichkeit und Hilflosigkeit erwecken bei Aaliya Ängste darüber, was ihre eigene Zukunft noch für sie bereithält. Wird sie genauso enden wie ihre Mutter? Und wenn sie am Ende ihres Lebens angekommen ist, wird sie sich dann fragen, was sie in ihrem Leben erreicht hat? Was bleibt von ihrem Leben übrig? Sie hatte nie jemanden, für den sie gelebt hat. War ihr Leben daher überflüssig?
"Joseph Roth beendet Flucht ohne Ende mit dem Satz: 'So überflüssig wie er war niemand in der Welt.' Das sehe ich anders. Niemand auf der ganzen Welt ist so überflüssig wie ich. Nicht Franz Tunda, Roths Hauptfigur, nein. Ich bin diejenige, die keine Arbeit, keine Hoffnung, keinen Ehrgeiz, noch nicht einmal Liebe für sich selbst hat." (S. 415 f.)
Wie ich anfangs erwähnte zeichnet sich dieser Roman durch seine besondere Sprache aus. Rabih Alameddines Erzählstil ist phantasievoll und sehr bildhaft. Seine kunstvollen Metaphern haben mich zum Staunen gebracht. Es ist kaum zu glauben, dass derartige Sprach-Kunststücke möglich sind. "Eine überflüssige Frau" ist sein vierter Roman, jedoch der erste, der auf Deutsch erschienen ist. Ich kann nur hoffen, dass noch weitere Übersetzungen folgen werden. Denn mit der Geschichte von Aaliya und seinem außergewöhnlichen Sprachstil hat er sich in die Riege meiner Lieblingsautoren eingereiht.

Und da wir gerade bei den Lieblingen sind: Dies ist das 2. Buch, das ich aus dem Louisoder Verlagsprogramm gelesen habe. Und Louisoder entwickelt sich damit zu einem meiner Lieblingsverlage. Beachtlich, was dieser Verlag aus München zustande bringt. Leser, die sich für anspruchsvolle und besondere Literatur interessieren, sollten unbedingt mal einen Blick riskieren: Louisoder-Verlagsprogramm

Ich freue mich auf jeden Fall auf weitere literarische Highlights aus dem Hause Louisoder.

© Renie


Eine überflüssige Frau von Rabih Alameddine, erschienen bei Louisoder
Erscheinungsdatum: 24. 02. 2016
ISBN: 978-3-944153-30-8



Über den Autor:
Rabih Alameddine, geboren 1959 in Jordanien, ist eine der berühmtesten Stimmen des Nahen Ostens. Er ist der Sohn libanesischer Drusen und wuchs in Kuwait, im Libanon und in England auf. Nach seinem Studium war er zunächst als Ingenieur tätig, bevor er Maler und Schriftsteller wurde. Nach Koolaids. The Art of War (1998), I, the Divine. A Novel in First Chapters (2001) und dem internationalen Bestseller The Hakawati (2008) ist Eine überflüssige Frau sein vierter Roman und der erste, der auf Deutsch erschienen ist. (Quelle: Louisoder)

Montag, 4. April 2016

Gottfried Keller/Martin Krusche: Kleider machen Leute (Graphic Novel)

Ein Klassiker in einem modernen Gewand der Edition Büchergilde! Die Erzählung von Gottfried Keller ist erstmalig im Rahmen seines Novellenzyklus "Die Leute von Seldwyla" im Jahre 1874 erschienen. Es ist also eine Geschichte, die schon einige Jährchen auf dem Buckel hat. Und trotzdem hat sie nichts von ihrer Aktualität und Originalität eingebüßt.
Worum geht es?
Der Schneidergeselle Wenzel Strapinski verliert seinen Job, begibt sich auf Wanderschaft und wird unterwegs - quasi als Anhalter - von einer prunkvollen Kutsche mitgenommen. Bei diesem Gefährt handelt es sich eindeutig um die Kutsche eines wohlhabenden Mannes. Beim Halt im nächsten Ort (Goldach) kommt, was kommen muss: Jeder hält Wenzel für einen reichen Mann. Denn seine Kleidung (als Schneider hat er schon immer Wert auf gepflegte Kleidung gelegt) und die Tatsache, dass er mit einer prächtigen Kutsche reist, sind Beweis genug, dass es sich bei einem Mann seines Auftretens mindestens um einen Grafen handeln muss. Und so buhlen die Goldacher um seine Gunst, jeder möchte mit dem "Grafen" Freundschaft schließen und für seine Zwecke einspannen. Er wird verköstigt, erhält eine angemessene Unterkunft. Fehlende finanzielle Mittel bekommt er geliehen. Er wird mit Geschenken und Nettigkeiten überschüttet, seine Schulden kann er später begleichen. Er ist schließlich von "Adel" und ein "Ehrenmann", der seine Schulden nicht vergisst. Wenzel schafft es einfach nicht, das Missverständnis aufzuklären. Er hat sich auch an seinen vermeintlichen Status und die Bequemlichkeiten, die dieser Status mit sich bringt, gewöhnt. Aber, wie sollte es anders sein? Irgendwann fliegt der Betrug auf...

Kleider machen Leute, Seite 53
"Nun wurde die Forelle aufgetragen, mit grünem bekränzt, und der Wirt legte ein schönes Stück vor. Doch der Schneider, von Sorgen gequält, wagte in seiner Blödigkeit nicht, das blanke Messer zu brauchen, sondern hantierte schüchtern und zimperlich mit der silbernen Gabel daran herum. Das bemerkte die Köchin, welche zur Türe hereinguckte, den großen Herren zu sehen, und sie sagte zu den Umstehenden:'Gelobt sei Jesus Christ! Der weiß noch einen feinen Fisch zu essen, wie es sich gehört, der sägt nicht mit dem Messer in dem zarten Wesen herum, wie wenn er ein Kalb schlachten wollte. Das ist ein Herr von großem Hause, darauf wollt' ich schwören, wenn es nicht verboten wäre! Und wie schön und traurig er ist! Gewiss ist er in ein armes Fräulein verliebt, das man ihm nicht lassen will! Ja, ja, die vornehmen Leute haben auch ihre Leiden!'" (S. 127)
Martin Krusche, der diese Graphic Novel illustriert hat, hat aus einer Geschichte, die aufgrund ihres ursprünglichen Sprachstils in die Jahre gekommen ist, eine moderne und damit ansprechende Variante gemacht. Er siedelt die Geschichte in unserer Zeit an: Wenzel sitzt im Supermarkt an der Kasse, verliert seinen Job und seine Wohnung, wird als Anhalter von einer Stretch-Limousine mitgenommen und gerät in ein identisches Szenario wie der Schneidergeselle Wenzel vor 140 Jahren. Er hat halt das Auftreten eines Hipsters - schicke Klamotten, gepflegtes Äußeres, das obligatorische Tatoo, das zusammen mit den Sneakers, die er zum Anzug trägt, die notwendige Lässigkeit eines Underdogs vermitteln.

Kleider machen Leute, Seite 5
Bei Martin Krusches Figuren fällt auf, dass alle in irgendeiner Form ein Schmuddel-Element an sich haben. Dadurch betont er deren Oberflächlichkeit und vermittelt mehr Schein als Sein. Die typischen Statussymbole sind überall präsent: Handy, dickes Auto, Schmuck, reichlich gutes Essen und Trinken. Es wird mit Geld um sich geschmissen, als ob zu jedem wohlhabenden Haushalt eine Gelddruckmaschine gehört. Und trotz allem Wohlstands wirken die Figuren ungepflegt und derb: dicke Bäuche, unrasierte Gesichter, grobe Gesichtszüge.

Die Illustrationen, die in Grau/Schwarz-/Rot- und Blautönen gehalten sind, sind sehr detailliert und verleiten den Leser, bei einigen Zeichnungen länger zu verweilen. Es gibt halt sehr viel zu sehen und zu entdecken. Beispiel gefällig? Martin Krusche begnügt sich z. B. nicht damit eine Unterbuxe zu zeichnen. Er verpasst ihr auch direkt ein putziges Ankermuster.

Die Texte sind natürlich auf unsere Zeit angepasst. Martin Krusche siedelt Seldwyn - also den Herkunftsort von Wenzel, wo dieser gelebt und als Kassierer gearbeitet hat - in Berlin an. Die Menschen in Wenzel's Heimat berlinern. Sie kommen aus sozial schwachen Verhältnissen bzw. leben am Rand der Gesellschaft. Also Berlinern und sozial schwach - das ist doch sehr klischeehaft! Ich bin mir nicht sicher, ob Leser, die aus Berlin kommen, ihren Spaß daran haben. Vielleicht sind sie es aber auch gewohnt ;-)
Kleider machen Leute, Seite 11


Für diejenigen, die die Geschichte "Kleider machen Leute" nicht mehr parat haben, gibt es im hinteren Teil dieses Buches die Ursprungsversion von Gottfried Keller. Ich habe Keller's Version zuerst gelesen und somit mein Gedächtnis aufgefrischt. Im Anschluss habe ich mich dann in die illustrierte Version von Martin Kruschel gestürzt. Und dieser direkte Vergleich hat sehr viel Spaß gemacht.

Fazit:
Ich bin Laie auf dem Gebiet der Graphic Novel, bin eigentlich auch nicht in der Lage, Illustrationen angemessen zu bewerten. Daher gebe ich nur das wieder, was ich gesehen, gelesen und dabei empfunden habe. Ich finde das Prinzip, einen Klassiker in einer modernen Version zu präsentieren sehr ansprechend. Martin Krusche ist es gelungen, eine Geschichte, die schon manchen Schüler zur Verzweiflung gebracht hat, zu entstauben und durch seine Adaption auf die Gegenwart wieder zu neuem Glanz zu verhelfen.

© Renie

Kleider machen Leute von Gottfried Keller und Martin Krusche (Ill.), erschienen in der Edition Büchergilde
ISBN 978-3-86406-057-1
Erscheinungstermin: 7. März 2016



Über Gottfried Keller:

Gottfried Keller (1819–1890) ist ein Schweizer Dichter, der schon zu Lebzeiten als einer der bedeutendsten Vertreter der Epoche des bürgerlichen Realismus galt. Er wurde in Zürich geboren, wuchs in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf und arbeitete nach einem Verweis von der kantonalen Industrieschule einige Zeit als Maler. Dank eines Stipendiums konnte er 1848 sein Studium der Geschichte, Philosophie und Literatur in Heidelberg aufnehmen. In den folgenden Jahren arbeitete er als freier Schriftsteller und Staatsschreiber.





Über Martin Krusche (Ill.):

Martin Krusche, 1982 im Allgäu geboren, hat in Berlin Kommunikationsdesign studiert. Er lebt seit 2003 in der Hauptstadt und arbeitet als freier Illustrator. Dort hat er auch ein Modelabel mitbegründet und arbeitet dafür als Art Director. So kann man seine Illustrationen nicht nur bei Firmen wie Samsung, Airbnb und Soundcloud in den verschiedensten Formaten sehen, sondern auch auf T-Shirts, Postern und Taschen. (Quelle: Edition Büchergilde)