Mittwoch, 6. April 2016

Rabih Alameddine: Eine überflüssige Frau

"Beirut ist eine Stadt gewordene Elisabeth Taylor: verrückt, schön, kitschig, im Zerfall begriffen, alternd und ewig dem Drama ergeben." (S. 139)
In diesem Beirut spielt der Roman "Eine überflüssige Frau" von Rabih Alameddine, erschienen im Louisoder Verlag. Und man ahnt es: dieser Roman zeichnet sich durch eine phantasievolle und poetische Sprache aus, die mich völlig begeistert hat.
Quelle: Louisoder

Worum geht es in diesem Roman?
Wie der Titel schon sagt geht es um eine "überflüssige" Frau namens Aaliya, die seit ihrem 20. Lebensjahr allein mit ihren Büchern und Erinnerungen in ihrer Wohnung in Beirut lebt. Mit 16 Jahren wird sie mit einem älteren Mann verheiratet. Da die Ehe kinderlos bleibt, reicht er nach wenigen Jahren die Scheidung ein - das Beste, was Aaliya passieren konnte. Denn endlich ist sie frei und kann ihr Leben frei gestalten. Sie arbeitet lange Zeit als Buchhändlerin und kann sich dabei ihrer Leidenschaft für Literatur hingeben.  Sie macht es sich zur Lebensaufgabe, ihre Lieblingsbücher ins Arabische zu übersetzen. Dabei wählt sie immer den 1. Januar als Beginn für die Übersetzung eines weiteren Buches. Über die Jahre sind etliche Übersetzungen zusammengekommen, die einen ganzen Raum ihrer Wohnung füllen. Doch jetzt, im Alter von  72 Jahren, ist sie das erste Mal unschlüssig, welches Buch sie diesmal übersetzen soll. So viele Bücher, die noch auf sie warten und so wenig Zeit, die ihr im Leben noch bleibt. Sie beginnt, über ihr Leben nachzudenken. Sie blickt auf ihre Kindheit zurück, auf ihr Leben in Beirut, auf die Kriegsjahre. Sie denkt über ihre Familie nach. Und an ihre Freundin Hannah, der einzige Mensch, der ihr nahe gestanden hat, den sie an sich herangelassen hat, und der sie verstanden hat.
"Es hat mich mein ganzes Leben lang beschäftigt, dass ich nicht bin wie alle anderen. Jahrelang konnte ich mir einreden, ich sei etwas Besonderes und dass ich bewusst anders sein wollte. Tatsächlich wollte ich glauben, dass ich erhaben war, keine Künstlerin, kein Genie wie Matisse, aber anders als der Mob. Ich bin außergewöhnlich, ein Individuum, nicht nur eigenartig, sondern einzigartig. Ich empfand meine Individualität als Tugend, die mich vor den kollektiven Launen und Verrücktheiten schützte und mir half, über familiären und gesellschaftlichen Strömungen zu schweben. Das gab mir Trost und Sicherheit. Nur lässt mich diese Überzeugung jetzt im Stich." (S. 291)
Aaliya ist ein ganz besonderer Mensch. In einer von Männern dominierten Welt, schafft sie es, ihren eigenen Weg zu gehen. Sie war immer das schwarze Schaf der Familie, ein Anhängsel aus der ersten Ehe der Mutter. Aaliya bleibt in ihrer Ehe kinderlos. Wen interessiert's da, dass ihr Mann impotent ist? Schuld hat in solchen Fällen die Frau. Geschieden, allein lebend, berufstätig und dann noch ihr merkwürdiges Hobby, das Lesen! Ihre Familie empfindet für sie nur Verachtung. Doch Aaliya liegt nichts an der Zuneigung ihrer Familie. Sie wählt den für sie einzig richtigen Weg: Ein Leben in Einsamkeit, in dem sie tun und lassen kann, was sie will.
"Mein Exmann erfüllte die wichtigsten Anforderungen an einen Mann aus Stendhals Zeit, wie sie Graf Mosca der delikaten Duchezza in Die Kartause von Parma darlegt: 'Heutzutage, das heißt etwa in den nächsten fünfzig Jahren, solange wir Angst haben und die Tradition noch nicht wiederhergestellt ist, kommt es für einen jungen Mann vor allem darauf an, unfähig zur Begeisterung und arm an Geist zu sein.'
So war der Narr, den ich geheiratet habe, selig sei seine widerliche Seele." (S. 317)
Aaliya lebt mit der Literatur und denkt in der Literatur. Bücher sind ihr Leben und ihre Freunde. Sie hat die Angewohnheit, für jede Situation ein angemessenes Zitat aus ihren Lieblingsbücher parat zu haben. Wenn sie allein in ihren Gedanken versinkt, zieht sie Parallelen zu den unzähligen Geschichten, die sie während ihres Lebens gelesen hat. Anhand ihrer literarischen Erinnerungen philosophiert sie über das Leben. Für den Leser bedeuten diese Momente ein Abtauchen in berühmte Werke der Literatur. Und es ist faszinierend festzustellen, wie intensiv sich Aaliya mit diesen Büchern beschäftigt hat, und welchen Einfluss Literatur auf einen Menschen haben kann.
"In einem seiner Essays verfolgt Marías die These, dass seine Bücher sich genauso sehr um das drehen, was nicht passiert ist, wie um das tatsächliche Geschehen. Mit anderen Worten: Die meisten unter uns denken, dass wir durch Ereignisse, die uns geprägt haben, durch Entscheidungen der Menschen um uns herum zu dem Menschen geworden sind, der wir sind. Wir ziehen selten in Erwägung, dass wir auch durch die Entscheidungen geprägt wurden, die wir nicht trafen, durch die Ereignisse, die hätten geschehen können, es aber nicht taten, oder, so gesehen, auch durch den Mangel an Alternativen." (S. 39)
Mit 72 Jahren ist Aaliya an einem Punkt in ihrem Leben angekommen, der sie doch zweifeln lässt. Sie hat sich für die Einsamkeit entschieden und sich Zeit ihres Lebens immer selbst genügt. Ihre Mutter lebt noch, ist allerdings ein Schatten ihrer selbst. Ihre Gebrechlichkeit und Hilflosigkeit erwecken bei Aaliya Ängste darüber, was ihre eigene Zukunft noch für sie bereithält. Wird sie genauso enden wie ihre Mutter? Und wenn sie am Ende ihres Lebens angekommen ist, wird sie sich dann fragen, was sie in ihrem Leben erreicht hat? Was bleibt von ihrem Leben übrig? Sie hatte nie jemanden, für den sie gelebt hat. War ihr Leben daher überflüssig?
"Joseph Roth beendet Flucht ohne Ende mit dem Satz: 'So überflüssig wie er war niemand in der Welt.' Das sehe ich anders. Niemand auf der ganzen Welt ist so überflüssig wie ich. Nicht Franz Tunda, Roths Hauptfigur, nein. Ich bin diejenige, die keine Arbeit, keine Hoffnung, keinen Ehrgeiz, noch nicht einmal Liebe für sich selbst hat." (S. 415 f.)
Wie ich anfangs erwähnte zeichnet sich dieser Roman durch seine besondere Sprache aus. Rabih Alameddines Erzählstil ist phantasievoll und sehr bildhaft. Seine kunstvollen Metaphern haben mich zum Staunen gebracht. Es ist kaum zu glauben, dass derartige Sprach-Kunststücke möglich sind. "Eine überflüssige Frau" ist sein vierter Roman, jedoch der erste, der auf Deutsch erschienen ist. Ich kann nur hoffen, dass noch weitere Übersetzungen folgen werden. Denn mit der Geschichte von Aaliya und seinem außergewöhnlichen Sprachstil hat er sich in die Riege meiner Lieblingsautoren eingereiht.

Und da wir gerade bei den Lieblingen sind: Dies ist das 2. Buch, das ich aus dem Louisoder Verlagsprogramm gelesen habe. Und Louisoder entwickelt sich damit zu einem meiner Lieblingsverlage. Beachtlich, was dieser Verlag aus München zustande bringt. Leser, die sich für anspruchsvolle und besondere Literatur interessieren, sollten unbedingt mal einen Blick riskieren: Louisoder-Verlagsprogramm

Ich freue mich auf jeden Fall auf weitere literarische Highlights aus dem Hause Louisoder.

© Renie


Eine überflüssige Frau von Rabih Alameddine, erschienen bei Louisoder
Erscheinungsdatum: 24. 02. 2016
ISBN: 978-3-944153-30-8



Über den Autor:
Rabih Alameddine, geboren 1959 in Jordanien, ist eine der berühmtesten Stimmen des Nahen Ostens. Er ist der Sohn libanesischer Drusen und wuchs in Kuwait, im Libanon und in England auf. Nach seinem Studium war er zunächst als Ingenieur tätig, bevor er Maler und Schriftsteller wurde. Nach Koolaids. The Art of War (1998), I, the Divine. A Novel in First Chapters (2001) und dem internationalen Bestseller The Hakawati (2008) ist Eine überflüssige Frau sein vierter Roman und der erste, der auf Deutsch erschienen ist. (Quelle: Louisoder)