Samstag, 15. Oktober 2016

Adrian Stokar: Einstürzende Gewissheiten

Der Industrielle Paul Burkhart wird 75 Jahre alt. Grund genug für den Journalisten Steiner, ein Porträt über ihn zu verfassen. Schnell stößt Steiner auf einen schweren Unfall am 11. Oktober 1975, in den Burkhart verwickelt war und bei dem ein geheimnisvoller Beifahrer ums Leben kam. Seit der Zeit hat sich der alte Herr nie wieder an das Steuer eines Autos gesetzt.

Anhand von Interviews mit den verschiedenen Mitgliedern sowie Angestellten der Familie Burkhart kann Steiner nach und nach das Leben des Patriarchen rekonstruieren. (Quelle: Dörlemann)
Die Beschreibung dieses Romans liest sich wie der Hinweis auf einen spannenden Krimi oder Thriller. Nur leider hält dieser Roman am Ende nicht das, was er verspricht


Ein Autounfall, ein geheimnisvoller Beifahrer, der bei diesem Unfall ums Leben kommt... Die Schweizer Industriellenfamilie Burkhart scheint ein Geheimnis zu hüten, dem der Journalist Steiner auf der Spur ist. Ausgangspunkt seiner Recherche ist seine Arbeit an einem Porträt über den Firmenpatriarchen Paul Burkhart anlässlich dessen 75-jährigen Geburtstags. Paul Burkhart ist in der Schweiz eine bekannte Wirtschaftsgröße. Mittlerweile hat er sich aus dem Firmengeschäft zurückgezogen, wirkt aber noch im Hintergrund. Das Familienunternehmen hat er den beiden Söhnen Philipp und Thomas überlassen. Die Tochter Sylvia Burkhart hat sich für eine Karriere außerhalb des Familienkonzerns entschieden und ist als Anwältin erfolgreich.
"Philipp überlegte lange, was er noch anführen könnte, dann schaute er Steiner direkt in die Augen:' Und wissen Sie was? Aber das sage ich Ihnen im Vertrauen. Ich übe mich darin, einen Orgasmus herbeizuführen, der nur aus der Kraft meiner Gedanken ausgelöst wird. ... , das wäre dann der letzte Beweis für die Überlegenheit des Imaginären über das Reale, nicht wahr.'" (S. 111 f.)
Philipp Burkhart ist der Intellektuelle der Familie. Mit seinem abgeschlossenen Philosophiestudium passt er eigentlich so gar nicht in ein Wirtschaftsunternehmen. Und doch hat der Vater ihm die Hälfte der Konzernleitung übertragen. Philipp ist überheblich und abgehoben. Durch seine philosophische Ausbildung fühlt er sich anderen, insbesondere seinem Bruder Thomas gegenüber überlegen, woraus er auch keinen Hehl macht. Seine Selbstdarstellung lässt den Verdacht aufkommen, dass in ihm ein Narziss schlummert.

Thomas Burkhart ist ein bodenständiger Mensch. Er kennt keinen Standesdünkel - und wenn, gelingt es ihm, dies nicht zu zeigen. Ihm ist daran gelegen, seine Mitarbeiter kollegial und auf Augenhöhe zu behandeln. Dabei scheint er jedoch sehr unsicher zu sein. Er hat Schwierigkeiten, mit Druck und Stress umzugehen. Er ist auch nicht in der Lage, sich seinem Bruder Philipp gegenüber zu behaupten, der ihn seine intellektuelle Überlegenheit ständig spüren lässt. Thomas hat dem leider nichts entgegenzusetzen.
"Steiner ließ sich in ein hellbraunes Fauteuil plumpsen, Thomas nahm ihm gegenüber Platz. Er legte sein Kinn seitlich auf seine rechte Hand - jene Hand, die sich bei der Begrüßung wie ein Stück kalter schlabberiger Fleischkäse angefühlt hatte und die Steiners sanftem Druck kaum Widerstand leistete -, was eine schlaffe Beugung seines gesamten Rumpfes nach sich zog und seinem Körper ein krummes, bogenartiges, defensives Gepräge verpasste." (S. 129)
Der Aufbau dieses Erstlingswerks von Adrian Stokar ist ungewöhnlich. Den Leser erwarten unterschiedliche Wechsel in Erzählstil, Zeitebenen und Erzählperspektiven. Großen Raum in diesem Roman nehmen die Interviews des Journalisten Steiner mit den Burkharts ein. Gleichzeitig widmet der Autor einige Kapitel der Charakterisierung der Geschwister Burkhart. Dadurch gewinnt der Leser ein ausführliches Bild über das Leben in einer Industriellenfamilie. Aber der Autor konzentriert sich nicht nur auf die Familie Burkhart, sondern gewährt auch dem Charakter des Journalisten Steiner einige Anteile in seinem Roman: Steiner auf Recherchereise in Berlin, Steiner mit seiner Tochter auf Wochenendausflug, Steiner und sein Kumpel und Kollege Schmid.
Irgendwann kommt der Moment der Auflösung des Burkhartschen Familiengeheimnisses: Im Interview mit dem Patriarchen Burkhart erzählt dieser, was bei dem damaligen Autounfall wirklich geschah, und wer der geheimnisvolle Beifahrer war.
"' ... Es ist doch faszinierend, wie intellektuelle Brillanz in null Komma nichts in Wahnsinn kippen kann.'" (S. 196)

Fazit:
Ich hatte meine Schwierigkeiten mit diesem Roman. Adrian Stokar versucht zuviele Ansätze in seinem Roman zu einem Ganzen zu machen. Sein Roman bewegt sich in unterschiedlichen Themengebieten: Familiengeschichte, Politik, Wirtschaftsskandal, Beziehungskrisen, Nationalsozialismus und einige mehr. Ich hatte jedoch den Eindruck, dass Adrian Stokar diese Themen nur oberflächlich ankratzen kann. Unverständlich war für mich auch, warum Stokar sich zwischenzeitlich auf den "privaten" Steiner konzentriert. Genauso wie der Charakter Schmid - Steiners Kumpel und Kollege - sowie Schmids Eheprobleme in diesem Roman völlig deplatziert sind, weil sie keinen Einfluss auf die eigentliche Geschichte nehmen. Diese Ausflüge in andere Handlungsstränge waren mir zu viel und haben mich nur von der eigentlichen Geschichte um das Geheimnis des Schweizer Industriellen abgelenkt. Daher sind meine Erwartungen an dieses Buch leider nicht erfüllt worden.

© Renie

ISBN: 9783038200352


Über den Autor:
ADRIAN STOKAR, geboren 1963, lebt und arbeitet in Zürich. Studium der Pädagogik, politischen Wissenschaft und Soziologie an der Universität Zürich. Ehemals Dozent und Verleger, heute freischaffender Lektor und Autor. Im Rotpunktverlag erschien 2011 der literarische Wanderführer »Dem Süden verschwistert«. Adrian Stokar lebt in Zürich. Weitere Informationen zu Adrian Stokar unter www.adrianstokar.ch