Mittwoch, 9. Oktober 2019

Antonio Muñoz Molina: Schwindende Schatten

Quelle: Pixabay/PublicDomainPictures
Am 4. April 1968 erschoss James Earl Ray im amerikanischen Memphis den Bürgerrechtler Martin Luther King. Rays anschließende Flucht führte ihn nach Lissabon, der Hauptstadt Portugals, die er als Zwischenstation nutzen wollte, um sich in eine der portugiesischen Kolonien in Afrika abzusetzen und somit vor dem Gesetz unterzutauchen. Der spanische Autor Antonio Muñoz Molina verbrachte etwa 40 Jahre später den ersten von mehreren Aufenthalten in Lissabon. Inmitten der Schaffensphase seines Romans "Der Winter in Lissabon" zog es ihn ebenfalls in Portugals Hauptstadt. Hier wollte er seinen Roman unter dem Einfluss des Flairs dieser Stadt mit der richtigen Würze versehen. Dieser Besuch hat gerade mal schlappe 3 Tage gedauert. 

In seinem aktuellen Roman "Schwindende Schatten", um den es in meiner Buchplauderei geht, erzählt er zum Einen James Earl Rays Geschichte, zum Anderen gewährt er einen tiefen Einblick in seine eigene schriftstellerische Arbeit sowie sein Seelenleben. Ray und Molina sind also die Protagonisten dieses Romans. Sie sind sich nie begegnet und haben keine Gemeinsamkeiten - abgesehen von dem Aufenthalt in Lissabon. Was hat Molina bewogen, sich auf diese schriftstellerische Verrücktheit einzulassen? Wie passen die unterschiedlichen Themen zusammen? Ein faszinierendes Rätsel, das durch den Roman „Schwindende Schatten“ hoffentlich gelöst wird.
Quelle: Penguin
"Für jemand, der von der Mitte des Platzes oder von den Kolonnaden aus um diese menschenleere Zeit zum Fluss hin schaut, muss ich eine einsame Silhouette sein, vollkommen abstrakt, die Hieroglyphe einer menschlichen Erscheinung, ein Schatten. Mit einem Mal kommt mir der Gedanke, dass vielleicht auch er einmal eine solche Silhouette war, eines Morgens im Mai vor fünfundvierzig Jahren, in dieser unveränderlichen Landschaft des leer gefegten viereckigen Platzes, der Bögen aus weißem Stein, gegenüber der Fluss, das Bronzepferd auf dem Sockel und der König mit dem Helmbusch, ..." 
Die beiden Geschichten werden parallel erzählt. Netterweise hält sich Molina an eine strikte Aufteilung seiner Kapitel: die ungeraden Kapitel behandeln sein Schriftstellerleben inkl. Schaffenskrisen. Die geraden Kapitel schildern die Flucht von Ray nach seiner verstörenden Tat. Insbesondere mit diesem Part hat mich Molina geflasht. Er lässt Ray selbst erzählen. Dabei taucht der Leser in die Gedankenwelt eines psychisch labilen Mannes. Man bekommt eine ungefähre Ahnung, was Ray dazu getrieben hat, das Attentat zu verüben. Eine schwere Kindheit, eine rassistisch geprägte Umgebung, kriminelle Veranlagung, Haftstrafen etc. etc. etc. Die Gedankenwelt des Ray ist jedoch schwer zu verstehen. Denn im Großen und Ganzen wird man das Gefühl nicht los, dass er sich seine eigene, leider völlig irrationale, Realität geschaffen hat, in der er nach seinen eigenen moralischen Grundsätzen lebt. Er ist auf der Suche nach Anerkennung und Berühmtheit, die ihm das Verbrechen, das er begangen hat, verschaffen soll. Armer Wicht! Denn er überschätzt sich selbst, dichtet sich Fähigkeiten an, die er im Leben nicht besitzt bzw. besaß. Soviel zum interessanten Teil dieses Buches.
"Jeden Sonntag suchte er um neun Uhr abends eine Bar, die einen Fernseher hatte, um sich die Sendung FBI: Die zehn meistgesuchten Verbrecher anzusehen. Auf dem Höhepunkt der Sendung wurde rückläufig die Liste der zehn in den Vereinigten Staaten meistgesuchten Verbrecher präsentiert. Jeden Sonntag erwartete er, seinen Namen und sein Foto vom Haftbefehl auf der Liste zu entdecken."
Molina hat sein Schriftstellerdasein und die damit verbundenen Schaffenskrisen zum Anlass genommen, aus dem Schriftsteller-Nähkästchen zu plaudern. Schade, dass ihm diese Plauderei nicht gelungen ist. Denn leider fühlt man sich oft gelangweilt, zumal der Autor seine ganze Energie auf die Beschreibung eben dieser Schaffensprozesse verwendet. Dabei steht ihm seine Detailverliebtheit im Weg. Denn akribisch genau seziert er die Prozesse, beschreibt sein Gefühlsleben als Schriftsteller in einer Intensität, die mir stellenweise zuviel war. Stilistische Mittel wie Endlos-Aneinanderreihungen und verschachtelte Sätze, machen das Lesen nicht einfach. Dennoch blitzt zwischendurch immer wieder das schriftstellerische Können von Molina durch. Es gab tatsächlich Sätze, die mich innehalten ließen. Molina ist nicht umsonst ein angesehener Schriftsteller in Spanien, der bereits einige wichtige Literaturpreise absahnen konnte. Insofern schwankt man bei der Lektüre dieses Romans zwischen Faszination über die verquere Gedankenwelt eines Mörders und Langeweile bei der Schilderung des Schriftstellerdaseins eines bekannten Autors. Man kommt nicht umhin, zwischendurch immer wieder die Frage nach den Parallelen zwischen den beiden Handlungssträngen zu stellen. Eine Antwort wird man nicht so ohne weiteres erhalten, auch wenn man sich noch so sehr Mühe gibt.
"Ein Roman ist ein Geisteszustand, ein warmes Interieur, in das man sich zurückzieht, solange man schreibt; wie ein Kokon, den man Faser für Faser von innen webt und in den man sich einschließt, die Außenwelt jenseits dieser lichtdurchlässigen Hülle nur noch als vage Helligkeit wahrnehmend."
Mit der Zeit verwischt die strikte Unterteilung der beiden Handlungsstränge. Der Roman, der Anlass für den ersten Besuch von Molina in Lissabon war, ist mittlerweile geschrieben. Der Autor reist jedoch später wieder dorthin, um über den Aufenthalt von Ray in Lissabon zu recherchieren und daraus eine Geschichte entstehen zu lassen. Der Roman wird zu einem Matrjoschka-Buch - will heißen: Ich habe ein Buch ("Schwindende Schatten") über ein Buch ("Ein Winter in Lissabon") gelesen. Dann habe ich ein Buch ("Schwindende Schatten") über ein Buch (die Entstehung von "Schwindende Schatten"), über ein Buch (Rays Geschichte), in dem der Protagonist (Ray) ein Buch (im Gefängnis) schreibt, gelesen. Und ich bin sicher, dass ich irgendein Buch vergessen habe. Verwirrend!

Fazit:
Ich schwanke zwischen Langeweile und Faszination. Auf jeden Fall ist dieser Roman eine interessante Leseerfahrung und Herausforderung an den anspruchsvollen Leser.

© Renie