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"Die Zeit, von der man denkt, dass man sie sich von vorne aus der Zukunft holt, dann lebt man sie, und dann kommt sie auf den riesigen Berg Vergangenheit, der abgetan hinter einem liegt und verrottet, diese Zeit gibt es so nicht."
In Birgit Vanderbekes Roman "Alle, die vor uns da waren" geht es um ebendiese Zeit.
Die Autorin tritt den Beweis an, dass alles, was in der Vergangenheit passiert, einen Einfluss auf Gegenwart und Zukunft hat. Genauso, dass "Alle, die vor uns da waren", uns unser Leben lang begleiten - in welcher Form auch immer.
Dieser Roman ist der letzte Teil ihrer autobiografischen Trilogie. In Band 1 "Ich freue mich, dass ich geboren bin" behandelt Birgit Vanderbeke die Flucht ihrer Familie aus der DDR und die erste Zeit in der BRD. Band 2 "Wer dann noch lachen kann" beschreibt ihre unvorstellbar traumatische Kindheit. Mit dem letzten Band "Alle, die vor uns waren" konzentriert sie sich auf ihre jüngste Geschichte.
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Angefangen mit dem Auszug von Zuhause und dem Sich Lösen vom Einfluss ihres Vaters, beschreibt sie ihr Leben. Einen wichtigen Teil nimmt dabei ihr fast schon liebevoller Blick auf ihre Freunde und Bekannten ein und deren Einfluss auf ihren persönlichen Werdegang. Allen voran Heinrich Böll, der sie einlädt, zusammen mit ihrem Mann Gianni in Bölls irischem Ferienhaus zu leben. Er bietet ihr dadurch eine unschätzbare Rückzugsmöglichkeit und Gelegenheit, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen: Die Flucht aus der DDR, die Kindheit unter ihrem dominanten Vater, die ersten Schritte im Westen und die Unterstützung durch die Freunde.
"Es ist ganz erstaunlich, wie wenig man davon weiß, was wann wie gelaufen ist und warum. Manchmal bekommt man so Pi mal Daumen noch etwa die Reihenfolge hin, obwohl das auch schon tückisch sein kann und sich urplötzlich umdreht. Und plötzlich ist alles vertauscht und verdreht und passt überhaupt nicht mehr zusammen, weil aus Ursachen Wirkungen geworden sind und umgekehrt."
Doch Birgit Vanderbeke konzentriert sich in ihren Schilderungen nicht nur auf ihr eigenes Leben, sondern sie blickt über ihren persönlichen Tellerrand hinaus. Denn in diesem 3. Teil ihrer Autobiografie nutzt sie die Gelegenheit, ihre Sorgen hinsichtlich der Entwicklung unserer Gesellschaft und der Umwelt in Worte zu kleiden. So kommt es zu einem Rundumschlag, der viele Themen, die unsere heutige Gesellschaft beschäftigen, anstupst. Insofern wird aus der Autobiografie ein gesellschaftskritischer Roman. Das erscheint im Kontext mit den anderen beiden Romanen der Trilogie nicht stimmig. Die Autorin scheint zuviel zu wollen. Denn sie packt unzählige Themen an, die sie jedoch nur kurz andeutet. Dadurch vermisse ich in diesem Roman leider diejenige Intensität, die mich in dem 2. Teil ihrer autobiografischen Serie ("Wer dann noch lachen kann") berührt hat.
"Ich war etwas zerschlagen und zerschunden aus meiner Kindheit rausgekommen, fühlte mich benommen und hatte keine Ahnung, warum manche zerschlagen und zerschunden werden und andere nicht."
Was Birgit Vanderbeke jedoch immer lesenswert macht, ist ihr unnachahmlicher Sprachstil. Man stelle sich vor, man sitzt mit einer guten Bekannten bei einem Kaffee und plaudert über Gott und die Welt. Man kommt von Hund auf Stöckchen. Die Unterhaltung verläuft unkompliziert. Man spricht, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Diese Stimmung vermittelt mir Frau Vanderbeke in ihren Büchern, so auch in diesem. Da wechseln Trivialitäten mit Tiefgründigem. Doch das ist nicht schlimm. Ganz im Gegenteil, vermittelt diese Art der Erzählung doch eine große Vertrautheit. Daher ist es immer ein großes Vergnügen, einen Roman von Birgit Vanderbeke zu lesen. So auch dieses Mal. Denn wenn sie mich mit "Alle, die vor uns da waren" inhaltlich nicht überzeugen konnte, ist es am Ende ihr Sprachstil, der mich diesen Roman genießen ließ.
Leseempfehlung!
© Renie