Wer ist Sam Millar?
Sam Millar, Jahrgang 1955, ist der Kopf hinter einem der größten Raubüberfälle der Geschichte.
Nach langen Jahren im Gefängnis lebt er heute in Belfast, wo er neben Kriminalromanen mit True Crime den Thriller seines Lebens geschrieben hat, für den er mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet wurde. (Quelle: Atrium Verlag)
Quelle: Atrium Verlag/Politycki & Partner |
Sam Millar hat einen großen Teil seines Lebens mit diesem autobiografischen Thriller verarbeitet … und zu verarbeiten gab es einiges. Seine Geschichte beginnt in seiner Kindheit in Belfast. Er wächst in einer trostlosen Atmosphäre auf, wird tagtäglich mit dem Hass zwischen Katholiken und Protestanten konfrontiert. Als er 17 ist, findet ein unbeschwerter Ausflug mit seinem Bruder ein fürchterliches Ende in Derry. Sie erleben den schrecklichen Angriff englischer Soldaten auf friedliche Demonstranten, bei denen 13 Menschen erschossen werden. Dieser Tag geht später als „Bloody Sunday“ in die Geschichte ein. Dieses Erlebnis hat den weiteren Werdegang von Sam Millar geprägt. Er sympathisiert mit der IRA, die den Kampf gegen die Briten verschärft. Durch einen dummen Zufall wird Sam verhaftet. Ohne ein anständiges Gerichtsverfahren kommt Sam mit 17 Jahren erstmalig nach Long Kesh, dem gefürchteten Gefängnis vor den Toren von Belfast.
"Insgeheim wollte ich Rache dafür, nur deshalb im Kesh gelandet zu sein, weil ich Ire war. Wenn die Briten die Frechheit besaßen, mich in meinem eigenen Land einzusperren, nur weil ich ein Patriot mit republikanischem Hintergrund war, konnte ich mich auch wie einer benehmen. Die Rache würde mein sein. Ich wollte ein Stachel im Fleisch der britischen Regierung sein und den Wichsern Manieren beibringen." (S. 86 f.)
In Long Kesh beginnt eine Leidenszeit, die so unvorstellbar ist, dass man sich fragt, wie ein Mensch so etwas überleben kann. Sam’s Gefängnisalltag wird bestimmt von Misshandlungen, Folter, Demütigungen, Angst. Er und seine Mitgefangenen leben unter menschenunwürdigen Bedingungen und sind der Willkür der Gefängniswärter ausgesetzt. Und trotzdem schaffen Sie es, den Kampf der IRA mit ihren eigenen Waffen zu kämpfen. Ihr Wille ist ihre stärkste Waffe. Trotz aller Schikanen, Brutalität und Psychoterror schaffen sie es, ihren Gegnern die Stirn zu bieten und lassen sich nicht brechen.
"Eine andere Tür wurde aufgerissen, ein weiterer Häftling nach draußen geschleift, und wir alle hatten nur noch einen Gedanken: Bin ich der Nächste? Was machen die mit mir? Warum schert sich keine Sau darum, was hier mit uns passiert?..." (S. 130)
Nach Beendigung seiner Haftzeit geht Sam Millar in die USA. Während der Jahre, die er im Casino-Milieu arbeitet, reift in ihm eine irrwitzige Idee: er plant einen der größten Raubüberfälle in den USA und zieht diesen auch mit Unterstützung einiger Komplizen durch.
Aber jeder noch so perfekte Plan, hat irgendwo einen Haken. Sam und seine Komplizen fliegen auf. Es kommt zur Gerichtsverhandlung. Am Ende wird Sam zu 5 Jahren Haft verurteilt. Seine eigentliche Beteiligung am Raub kann man ihm nicht nachweisen. Nach dem Ende seiner Haftzeit kehrt er zurück nach Belfast.
"Wenn man nicht den Verstand verlieren will, musste man stets allem wenigstens einen positiven Aspekt abgewinnen." (S. 109)
Als ich diesen autobiografischen Thriller beendet hatte, kam es mir vor, als hätte ich 3 unterschiedliche Bücher gelesen, wobei jedes Buch für sich großartig und spannend geschrieben ist. Aber trotzdem unterscheiden sie sich sehr deutlich voneinander.
Der 1. Teil behandelt das Leben in Nordirland bis hin zu Sam’s Aufenthalt in Long Kesh. Hier hat es mir häufig die Sprache verschlagen, denn Sam Millar beschreibt seinen Gefängnisaufenthalt mit vielen schonungslosen Details. Er verschweigt nichts. Beim Lesen überkommt einen Wut und Fassungslosigkeit über die Aneinanderreihung von Grausamkeiten. Die Verzweiflung der Inhaftierten ist kaum auszuhalten. Bemerkenswert ist an dieser Stelle der Sprachstil von Sam Millar. Er beschreibt die Zustände sehr nüchtern. Aber gleichzeitig bringt er Kontraste rein, schildert schöne Momente und lässt zwischendurch Humor und Sarkasmus durchblitzen. Das ist wahrscheinlich die einzige Möglichkeit gewesen, den entsetzlichen Verhältnissen in Long Kesh zu begegnen und nicht verrückt zu werden. Genauso wie dieser Sprachstil den Leser davor bewahrt den Roman vor lauter Entsetzen in die Ecke zu pfeffern.
"Das Wetter draußen war herrlich: zum Weinen schön. Man wusste, Gott meinte es gut mit einem. Verschiedene Gerüche stiegen mir in die Nase, als ich zwischen den Gitterstäben des Fensters hinaussah: flüssiger Teer, der im sanften Windhauch abkühlte; eine leichte, vage Note von Waschpulver; Spiegeleier in einer Pfanne. Ich bildete mir ein, ich könnte Mister Softy hören, und stellte mir vor, wie alle Kinder mit glücklichen Grinsegesichtern für ein Eis Schlange standen." (S. 114)
Im 2. Teil reist Millar nach Beendigung seiner Haft in die USA. Er berichtet von seiner Arbeit in den Spielcasinos und langsam reift in ihm der Plan, Brinks auszurauben. (Brink's ist übrigens ein weltweit tätiges Werttransportunternehmen). Ich habe nicht verstanden, was Sam Millar dazu bewogen hat, diesen Raubüberfall zu planen und durchzuführen. Zumal sich Millar in diesem Teil auch völlig anders präsentiert als im 1. Teil. Auf einmal treten bei ihm kriminelle Energien zutage, die ich ihm in Long Kesh völlig abgesprochen hätte. Man kann nur spekulieren, was ihn dazu gebracht hat: War es der Reiz des großen Geldes? Verändert sich durch einen derart traumatischen Gefängnisaufenthalt die Einstellung zu Recht und Unrecht? Ich bin mir nicht sicher.
"Es kann einfach nichts schiefgehen, wenn man einen perfekten Plan hat. Das klappt immer. Bis man feststellt, dass der Plan doch nicht ganz so perfekt war ..." (S. 281)
Der 3. Teil behandelt den Prozess nach Sam's Verhaftung wegen des Raubüberfalls. Mit diesem Teil hat Sam Millar einen Justiz-Thriller par excellence geschrieben. Er konzentriert sich dabei auf die Prozessbeteiligten und deren Taktiererei während des Prozesses. Dieser Teil ist sehr unterhaltsam und gewährt den Leser einen interessanten Blick hinter die amerikanischen Justiz-Kulissen.
Durch Sam Millar lernt man etliche der Charaktere kennen, die seinen bisherigen Lebensweg begleitet haben. Dabei präsentiert er diese Charaktere auf unterschiedliche Art. Seinen Mitgefangenen in Long Kesh begegnet er mit tiefstem Respekt vor ihrem unbeugsamen Willen. Für das Gefängnispersonal hat er nichts als Verachtung übrig. Und seine Freunde in Amerika betrachtet er meistens mit einem Augenzwinkern, so dass für den Leser eine besondere Nähe zu diesen Charakteren entsteht. Insbesondere seinen kriminellen Freunden lässt man dadurch vieles durchgehen. Kriminelle Machenschaften verlieren dadurch ihren Ernst.
"Ronnie betrachtete sich selbst als Menschenfreund in zerlumpten Hosen, als einen modernen Robin Hood, der glaubte, dass man den Reichen nehmen und den Armen geben sollte. Manchmal blieb diese Philosophie jedoch etwas vage und es fiel ihm schwer, zwischen den Armen generell und sich selbst zu unterscheiden." (S. 209)
Fazit:
Sam Millar hat mit diesem autobiografischen Thriller einen großen Teil seines ungewöhnlichen Lebens verarbeitet. Er konzentriert sich dabei knallhart auf die Fakten, die er in einem unvergleichlichen Sprachstil präsentiert. Er kombiniert Nüchternheit, die in der Darstellung nichts beschönigt mit Humor und Sarkasmus. Dieses Buch ist einzigartig. Nichts in diesem Buch ist erfunden. Alles hat so stattgefunden. Und man stellt fest, dass nur das echte Leben die spannendsten Geschichten schreiben kann.
Ich habe dieses Buch während einer Leserunde bei Whatchareadin gelesen, an der auch Sam Millar teilgenommen hat. Er war absolut offen für die Fragen der Teilnehmer und hat allen aufrichtig Rede und Antwort gestanden. Die Insider-Informationen, die man dadurch insbesondere über den Nordirland-Konflikt erhalten hat, waren unbezahlbar. Ich habe selten eine Leserunde erlebt, bei der solch ein reger Austausch stattgefunden hat. Viele der Teilnehmer - dazu gehöre auch ich - werden sich auch weiterhin mit den Büchern von Sam Millar auseinandersetzen. Dafür ist sein Schreibstil und sein Sinn für Spannungsaufbau zu besonders, als dass man an seinen Büchern vorbeigehen könnte.
© Renie
ISBN 978-3-85535-513-6