Dienstag, 27. Oktober 2020

Sue Monk Kidd: Das Buch Ana


Jesus Christus war verheiratet? Eine verrückte Idee, aber dennoch nicht abwegig. Denn Kleriker, Historiker und Wissenschaftler können schließlich auch irren. Außerdem haben Frauen in Religion und Geschichte schon immer eine untergeordnete Rolle gespielt. Daher würde mich nicht wundern, wenn eine mögliche Ehefrau von Jesus, bestenfalls nur "ferner liefen" in der Bibel erwähnt würde. Und wenn bekanntlich hinter jedem starken Mann eine starke Frau steht, könnte dies auch für Jesus gegolten haben.
Diese Überlegungen bilden die Grundlage für den Roman "Das Buch Ana" der amerikanischen Autorin Sue Monk Kidd, in welchem das Leben der Jüdin Ana beschrieben wird - der fiktiven Ehefrau von Jesus Christus.

Das Buch beginnt im Jahr 16 n. Chr.. Ich-Erzählerin Ana ist 14 Jahre alt. Sie lebt mit ihrer wohlhabenden Familie in Sepphoris in Galiläa. Der Vater ist oberster Schriftgelehrter und Berater des Herrschers Herodes Antipas. Im Unterschied zu den meisten Mädchen dieser Zeit hat Ana lesen und schreiben gelernt. Das Schreiben bietet ihr die Möglichkeit, Gedanken festzuhalten, die eine Frau nicht haben dürfte. Sie schreibt Geschichten über Dinge, die sie beschäftigen, und über die sie ansonsten mit keinem reden könnte. Denn es gibt nur sehr wenige Themen, mit denen sich eine Frau befassen sollte. Und diese Themen beschränken sich auf Ehe, Haushalt und Fortpflanzung. Das ist Ana zu wenig. Natürlich hält sie ihre Geschichten unter Verschluss. Ihr Vater hat ihr zwar die Möglichkeit geboten, Lesen und Schreiben zu lernen. Doch je näher sie dem heiratsfähigen Alter kommt, umso weniger werden diese Fähigkeiten von ihren Eltern geduldet.
"Eine halbe Millionen Schriftrollen und Kodizes waren in diesen heiligen Hallen untergebracht, und bis auf einige wenige waren sie alle von Männern verfasst. Was wir von der Welt wussten, das hatten Männer geschrieben."
Ana begegnet einem einfachen Mann aus dem Volk, der durch sein Charisma bleibenden Eindruck bei ihr hinterlässt. Es ist Jesus, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Rolle spielt, die er einmal spielen wird. Anas Eltern haben Pläne für die Zukunft ihrer Tochter, die jedoch nicht dem entsprechen, was Ana möchte. Das Schicksal und Anas eigenwillige Persönlichkeit tragen dazu bei, dass Jesus und Ana heiraten. Von da an lebt Ana im Familienclan ihres Mannes. Anfangs hat die Tochter aus vornehmen Haus Schwierigkeiten, sich in ihr neues bescheidenes Leben einzufinden. Doch der willensstarken Frau gelingt es, ein fester Bestandteil dieser Familie zu werden. Ana, die von Kindheit an, die untergeordnete Rolle der Frau innerhalb der Gesellschaft instinktiv in Frage gestellt hat, hat in Jesus einen Ehemann gefunden, dem dieses Rollendenken völlig fremd ist und der Ana als gleichberechtigt behandelt. Die Beiden sind Seelenverwandte.
Jesus' Lebensweg wird irgendwann diejenige Richtung nehmen, die uns aus dem Neuen Testament bekannt ist. Doch Ana wird ihn dabei nur aus der Ferne unterstützen können. Denn ihr Selbstbewusstsein und ihre starke Persönlichkeit haben dazu beigetragen, dass sie sich Feinde gemacht hat. Sie ist gezwungen, das Land zu verlassen. Erst Jahre später werden die Beiden sich wiedersehen - allerdings unter entsetzlichen Umständen.
"So war das, seit wir verheiratet waren - diese Hingabe an Gott, diese Labsal -, und ich hatte mich nie daran gestört, doch als ich ihm heute nachblickte, wie er im Dämmerlicht davonging, begriff ich, was ich bislang übersehen hatte. Gott war der Boden unter seinen Füßen, er war der Himmel über ihm, er war die Luft, die er atmete, und das Wasser, das er trank. Und genau das versetzte mich in Unruhe."
Die Faszination an diesem Buch macht zweifelsohne die, für ihre Zeit ungewöhnliche Protagonistin Ana aus. Sie verkörpert in diesem Roman ein Frauenbild, das es zu dieser Zeit eigentlich gar nicht hätte geben dürfen: eine Feministin in einer von Männern dominierten Welt. Dabei hatte sie in dieser Rolle denkbar schlechte Voraussetzungen. Denn Frauenrechte gab es nicht. Frauen wurden als Besitz betrachtet, der ausschließlich dem Wohle des Mannes sowie der Fortpflanzung diente. Insofern ist eine Protagonistin wie Ana, die von klein auf bemüht ist, ihren eigenen Weg zu gehen und auf Augenhöhe und gleichberechtigt mit ihrem Mann zu leben, etwas sehr besonderes und Grund genug, sich für diesen Roman zu interessieren.

Sue Monk Ki erzählt die Geschichte von Ana vor dem Hintergrund des Neuen Testaments. Dabei verknüpft sie die Handlung um Ana mit den bekannten Überlieferungen um das Leben von Jesus Christus.  Die Geschehnisse sind daher bekannt, Protagonisten aus der Bibel finden auch in "Das Buch Ana" einen Platz. So ist z. B. Judas in diesem Roman der Bruder von Ana. 

"Das Buch Ana" ist ein spannender Frauenroman. Bis auf wenige Ausnahmen kommen Männer in dieser Geschichte nicht gut weg. Leider fällt mir die Einschätzung schwer, ob die Autorin einen trivialen oder einen anspruchsvollen Roman geschrieben hat. Von der Thematik her, ist dieser Roman sicherlich anspruchsvoll. Doch gab es Momente, in denen mich die Protagonistin eher an eine Heldin aus einer trivialen Romanreihe erinnert hat. Dazu hat mit Sicherheit der Sprachstil der Autorin beigetragen, der sehr lebhaft ist, aber auch blumig. Und an manchen Stellen einfach zu blumig.
"Wahrlich, ich sage euch, es gibt Zeiten, da sind Worte so glücklich, am Leben zu sein, dass sie auf ihren Tafeln und Schriftrollen lachen und tanzen und springen. So war das auch mit den Worten, die ich schrieb. Sie feierten, bis der Morgen graute."

Mein Fazit:
Dieser Roman konnte mich nicht völlig überzeugen. Die Grundidee, Jesus Christus eine selbstbewusste Ehefrau an seine Seite zu stellen, ist hervorragend. Die Geschichte dieser Frau ist packend erzählt. Die Überlieferungen aus dem Neuen Testament aus Sicht einer Frau zu schildern, war hochinteressant. Doch leider gab es einige triviale Momente in diesem Buch, die meine Freude an diesem Roman gemindert haben.

© Renie