Montag, 13. Januar 2020

Daniel Mendelsohn: Eine Odyssee

Quelle: Pixabay/olleaugust
Der amerikanische Autor Daniel Mendelsohn ist Professor für Altphilologie. In seinem Buch "Eine Odyssee" geht es, wie der Titel schon sagt, um das klassische Heldenepos aus der Antike. 

Odysseus brauchte 10 Jahre um aus dem Trojanischen Krieg nach Hause zu kommen. Während dieser 10 Jahre erlebte er mehr oder weniger spektakuläre Abenteuer. Am Ende kehrte er mit Hilfe der Götter in seine Heimat Ithaka zurück, wo sich seine Frau Penelope in seiner Abwesenheit diverser Annäherungsversuche seiner Konkurrenten erwehren musste. Ihre Ehre konnte sie retten. Sie konnte jedoch nicht vermeiden, dass sich Odysseus' Konkurrenten an Ithakas Hof einquartiert und durchgeschnorrt haben. Als Odysseus wieder in seine Heimat zurückkehrte, machte er kurzen Prozess mit den Schnorrern.
Dies ist meine persönliche Schmalspur-Version der Odyssee, die es im Original insgesamt auf 24 Gesänge (Strophen) und 12110 Verse bringt.

Worum geht es sonst noch in Daniel Mendelsohns "Eine Odyssee"?
Der Autor gibt ein Seminar über die Odyssee. Überraschenderweise wird auch sein Vater Jay, 81 Jahre und pensionierter Mathematiker, an diesem Kurs teilnehmen.
Das Seminar geht über mehrere Wochen, ist aber der Anfang eines Jahres, das Vater und Sohn einander näher bringen wird. Leider ist es auch das letzte Jahr im Leben von Jay Mendelsohn.
Quelle: Siedler
"Eine lange Reise, die wir beide einmal unternommen haben. Im Interesse von Präzision, auf die mein Vater großen Wert legte, sollte ich sagen, dass die Reise, die wir gemeinsam unternahmen, eine Heimkehr war. Die Geschichte beginnt mit einem Sohn, der aufbricht, seinen Vater zu retten, aber die Heimreise endet, wie das bei Reisen manchmal eben passiert, mit einem noch viel größeren Drama als demjenigen, das alles in Gang gesetzt hat."
Ich gestehe, ich hatte es in meinem bisherigen Leseleben nicht so sehr mit Sachbüchern. Was hat mich also dazu gebracht, zu diesem Buch zu greifen? 
Zunächst bin ich nicht nur Sachbuch-Muffel sondern auch ein Kulturbanause, wenn es um die alten Griechen geht. Wie vermutlich viele andere, habe ich nur ein rudimentäres Wissen, was die griechischen Klassiker angeht. Mein Interesse an den Klassikern ist groß, mein Respekt vor der Lektüre von Klassikern ist noch größer. Daher fand ich den Gedanken ganz charmant, ein Buch von einem Altphilologen zu lesen, der mir die Geschichte von Odysseus ein Stück näher bringt. Hinzu kam die Aussicht auf eine Verbindung zwischen dem antiken Heldenepos und dem Leben von heute. Denn Daniel Mendelsohn stellt in seinem Buch Parallelen zwischen dem alten Griechen und dem Leben seines Vaters Jay sowie der Vater-Sohn-Beziehung (Jay/Dan) her.

Wie hat Daniel Mendelsohn die beiden Aspekte umgesetzt?

Die Odyssee
Bei Daniel Mendelsohn würde ich auch gern in der Vorlesung sitzen. Er hat eine lebhafte Art, die Odyssee zu erläutern bzw. Interpretationsansätze zu vermitteln. Er weist auf viele sprachliche Eigenheiten hin, genauso wie auf Verbindungen zu anderen klassischen Werken der griechischen Antike. Zugegeben: Das kann manchmal zu einem Informations-Overflow führen. Gerade am Anfang des Buches, versucht man möglichst viel Wissen in sich aufzusaugen. Man sollte beim Lesen jedoch die Schwäche zulassen, nur ein Teil dessen zu verarbeiten, was man tatsächlich an Informationen mitbekommt. Denn machen wir uns nichts vor. Die Odyssee existiert seit etwa 3000 Jahren. Viele Gelehrte haben sich aufgrund unterschiedlicher Interpretationsansätze an die Köpfe gekriegt. Da kann man als Leser dieses Buches doch nicht erwarten, dass man das, wofür andere Jahre lang studiert haben, innerhalb von knapp 350 Seiten verinnerlicht. Mut zur Wissens-Lücke! Denn am Ende dieses Buches hat man immer noch reichlich Input zur Odyssee bekommen, dass man die Lektüre dieses Buches als Bereicherung empfindet.
"Der beste Pädagoge ist derjenige, der einen für Dinge begeistern kann, die er schön findet, sodass das Gefühl für die Schönheit dieser Dinge ihn überdauern wird. Und weil dem ein Bewusstsein von der Endlichkeit des Lebens zugrunde liegt, sind gute Lehrer gute Vaterfiguren."
Eine andere Form der Bereicherung erhält man durch die Darstellung der

Vater-Sohn-Beziehung
Jay war zeitlebens ein verschlossener und ernsthafter Mensch, der seinen Söhnen (Dan hat noch einen Bruder) einen Mordsrespekt, wenn nicht sogar Angst eingeflößt hat. Stärke zeigen, in allen Lebenslagen. Diesen Anspruch hatte Jay nicht nur an sich, sondern natürlich auch an seine Mitmenschen. Seine Verächtlichkeit gegenüber Schwäche konnte sehr verletzend sein, wobei er seinen Söhnen gegenüber jedoch nie ausfallend geworden ist. Seine Kritik war eher eine stille und zurückhaltende, die aber gerade deswegen umso heftiger spürbar war.
Jay ist ein Bücherwurm. Es gab quasi nichts, was er sich nicht selbst aneignen konnte. Und darauf war er stolz. Nur bei einem Punkt hatte er Nachholbedarf: das Erlernen von Latein und das Lesen der griechischen Klassiker. Wie sein Sohn Dan hat Jay schon früh sein Interesse an der Altphilologie entdeckt. Aus unbekannten Gründen schlug er jedoch den Weg der Mathematik ein - an und für sich kein falscher Weg, denn auch hier hat er großes Talent. Umso mehr freut es ihn, dass Dan sich für den Studienzweig der Altphilologie entscheidet.
Nun taucht also der Vater bei seinem Sohn in der Vorlesung auf. Eine unangenehme, wenn nicht gar peinliche Situation für den Sohn. Von Woche zu Woche sitzt ihm also sein Vater wortwörtlich im Nacken - auf einem Stuhl in einer Ecke des Seminarraums verfolgt Jay die Vorlesung. Dabei hält er nicht mit Kritik hinter dem Berg. Nicht an der Unterrichtsmethodik seines Sohnes sondern an Odysseus, dem Helden selbst.
"Mein Vater machte ein Gesicht, als hätte er die Dinge bessser im Griff gehabt als Odysseus, als hätte er die zwölf Schiffe mit ihren Besatzungen heil nach Hause gebracht. Du gibst also zu, sagte er, dass er alle Männer verloren hat? 

Ja, sagte ich, fast trotzig. Ich kam mir wie ein Elfjähriger vor, und Odysseus war ein frecher Klassenkamerad, zu dem ich halten würde, auch wenn das hieß, dass ich mit ihm bestraft würde."
Jay liefert interessante Denkansätze und trägt somit zur Diskussion der Studenten über den Lernstoff bei. Dan kann einfach den Missmut über die Teilnahme seines Vaters an seinem Seminar nicht ablegen, obwohl er häufig durch dessen Beiträge überrascht wird. Im Verlauf des Seminars entdeckt Dan viele Facetten an seinem Vater, die ihm bis dato nicht bewusst waren. Und so zeichnet sich ab, dass die bisherige Vater-Sohn-Beziehung neu definiert wird.

Dazu trägt auch eine gemeinsame Kreuzfahrt bei, welche die beiden im Anschluss an das Seminar unternehmen werden. Die Grundidee für diese Reise war zunächst, die Seminarinhalte mit Leben zu füllen, indem man die Originalschauplätze der Odyssee besucht. Doch tatsächlich wird diese Reise ein weiterer Beitrag, um die Vater-Sohn-Beziehung in einem völlig anderen Licht aufleben zu lassen.

Die Parallelen, die Daniel Mendelsohn zwischen der Odyssee und einem persönlichen Teil seines Lebens herstellt, sind in diesem Buch überall zu finden. Jay ist Dans Odysseus. Jays Leben im Ganzen, aber auch das letzte Jahr, indem sich Vater und Sohn näher kommen, ist die Odyssee. Es gibt Charaktere in der Odyssee, die auf Protagonisten im Leben von Dan und Jay adaptiert werden können.
Der grobe Aufbau der Odyssee sowie stilistische Mittel finden sich in der Erzählung über die Vater-Sohn-Beziehung wieder.
Mendelsohn zieht seine Kreise in der Erzählung. Er kommt vom "Hündchen" aufs "Stöckchen". Zu manchen Gegebenheiten holt er weit aus, kramt in der Vergangenheit, findet aber immer den Weg zurück in das Seminar über die Odyssee und der Beschreibung des letzten Lebensjahres seines Vaters.
"Der Zukunft können wir uns nur zuwenden, wenn wir uns mit unserer Vergangenheit versöhnt haben."
Fazit:
Ich bin restlos begeistert von diesem Buch. Es ist lebhaft geschrieben. Durch den steten Wechsel zwischen den Erläuterungen zur Odyssee und der Vater-Sohn-Beziehung kommt es zu keinerlei Ermüdungserscheinungen innerhalb des wissenschaftlichen Teils, was ich anfangs befürchtet hatte. Tatsächlich habe ich zwischenzeitlich vergessen, dass es sich um ein Sachbuch handelt. Es gab Entwicklungen in der Geschichte um die Vater-Sohn-Beziehung, in der ich die Fantasie des Autors bewundert habe. Aber von wegen Fantasie. Dies ist eine Geschichte aus dem echten Leben und für mich der Beweis, dass das Leben die schönsten Geschichten schreibt.

Leseempfehlung!

© Renie