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Die Autorin Nina Jäckle hatte eine Oma, was an sich nicht ungewöhnlich ist. Denn jeder hat (te) mindestens eine Oma. Aber die wenigsten Omas waren in jungen Jahren Tänzerin, und die wenigsten Enkel schreiben ein Buch über ihre Oma. Nina Jäckles Oma war die Tänzerin Tamara Danischewski. Insofern ist der Roman "Stillhalten" ein sehr persönliches Buch, schildert er doch einen Großteil des Lebens eines Familienmitgliedes der Autorin. Tamara Danischewski wäre wahrscheinlich schon längst in Vergessenheit geraten, wenn nicht dieser Roman und ein besonderes Gemälde wären.
Schlägt man das Buch auf, blickt man auf das Porträt "Bildnis der Tänzerin Tamara Danischewski mit Iris", gemalt von Otto Dix, in der Zeit als sie als junges Mädchen ihre Leidenschaft - das Tanzen - lebte. Und sofort existiert eine Verbindung zwischen dem Leser und Tamara.
"Ein Duplikat des Bildes hängt über Tamaras Schreibtisch. In diesem Bild ist alles enthalten, was an Bedeutendem geschehen ist, gleichsam alles das, was daraus noch hätte entstehen können, jedoch nicht entstanden ist." (S. 10 f.)
Auf dem Bild ist Tamara 21 Jahre alt. Entstanden ist es in den 30er Jahren in Dresden, wo sie Tanz studierte. Der Anfang ihrer tänzerischen Laufbahn war vielversprechend. Sie galt als sehr talentiert. Das Tanzen war ihr Leben und ihre Leidenschaft. Der Maler Otto Dix war von dem Mädchen und ihrer Ausstrahlung fasziniert. Er schien zu erkennen, dass Tamara die Verkörperung des Ausdruckstanzes war. Abends trat Tamara in einem Kabarett auf, um Studium und Lebensunterhalt für sich und ihre Mutter zu finanzieren. Einen Ehemann und Vater schien es in dem Leben von Mutter und Tochter nicht zu geben. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten, sah sich der Maler Dix gezwungen, das Land zu verlassen. Die Bilder des Kriegsgegners Dix wurden schnell zur entarteten Kunst erklärt.
Durch die politische Entwicklung in Deutschland, geriet Tamara an einen Scheideweg. Sie musste sich entscheiden zwischen Versorgung in politischen Zeiten der Unruhe und glanzvoller Karriere einer Tänzerin. Der Versorgungsgedanke siegte, wozu ihre Mutter einen großen Teil beigetragen hatte. Tamara heiratete einen Mann, der Verbindungen zur neuen Macht in Deutschland hatte. In der Ehe mit ihm wurden ihr und ihrer Mutter ein sorgenfreies Leben ermöglicht, auch wenn die Welt um sie herum fast unterging. Jahre später, fast schon im letzten Abschnitt ihres Lebens angelangt, findet sich Tamara in einem großen Haus, irgendwo auf dem Land in der Einsamkeit wieder. Und sie wird bis an ihr Lebensende die Entscheidung, die sie in jungen Jahren getroffen hat, bedauern.
"Immer wieder stellt sich Tamara die Frage, ob dieses Stück Himmel, dieser kleine Ausschnitt vom Ganzen, der sich ihr vom Fenster ihres Zimmers aus bietet, ausreichend gewesen ist, ob er am Ende ausreichend gewesen sein wird, ob sie nicht mehr vom Himmel, mehr vom Leben verdient hätte." (S. 16 f.)
Die Beziehung zu ihrem Ehemann ist von großer Distanz geprägt. Der Mann geht seiner eigenen Wege. Mal ist er zuhause, mal nicht. In dem großen und reichen Anwesen, in dem das Ehepaar lebt, scheint sie nur ein weiterer kostbarer Gegenstand zu sein. Den einzigen Kontakt zur Außenwelt hat sie über die Haushälterin und den Gärtner. Der einzige Freund, den sie hat, ist ein alter, unbrauchbarer Jagdhund, der dank Herrchens Gunst sein Gnadenbrot erhält. Ich konnte mir nicht helfen, aber ich habe während der Lektüre dieses Romanes immer eine Symbolik in dem Hund gesehen. Fast schien es, als ob das Dasein des Hundes ein Spiegelbild des Lebens von Tamara darstellt.
In einem Interview mit der Autorin Nina Jäckle habe ich gelesen, dass sie das Buch als Schriftstellerin und nicht als Enkelin geschrieben hat. Nun ja, diese beabsichtigte Trennung ist glücklicherweise nicht ganz gelungen. Denn in dieser melancholischen Geschichte schwingt viel Zärtlichkeit mit. Die Darstellung des Charakters der Tamara - insbesondere in den späteren Jahren - kann man fast schon als liebevoll bezeichnen. So kann man einen Menschen nur beschreiben, wenn man eine enge Beziehung zu ihm hat. Natürlich entwickelt sich beim Leser dadurch viel Empathie für Tamara. Die Handlung wechselt zwischen Szenen der Vergangenheit und dem Jetzt, unterbrochen von Erinnerungen und Gedankengängen von Tamara. Schnell wird klar, dass die ehemalige Tänzerin in der Vergangenheit gelebt hat und im Jetzt nur noch existiert.
"Genauso wird Grausamkeit erst möglich, denn sobald man das Leid verschweigt, ist Mitleid nicht mehr erforderlich." (S. 167)
Das Porträt, das Otto Dix seinerzeit von ihr gemalt hat, ist mittlerweile berühmt und reist durch die Welt, von Ausstellung zu Ausstellung, von Museum zu Museum. Tamara erhält regelmäßig Ansichtskarten von den Museen, in denen ihr Bild gerade ausgestellt wird. So "lebt" das Bild dasjenige Leben, das sich Tamara einst erträumt hat. Die Ansichtskarten machen ihr einmal mehr deutlich, dass ihr Leben auf falschen Entscheidungen und vertanen Chancen aufgebaut ist.
Fazit:
Dieser wunderschöne stille Roman strahlt viel Melancholie aus. Nina Jäckle hat einen sehr poetischen Sprachstil, der einfach nur gut tut. Es ist ein sehr persönliches Buch über eine Frau, die eine falsche Entscheidung getroffen hat und dadurch ihr Leben in die falsche Bahn gelenkt hat. Leseempfehlung!
© Renie
Über Nina Jäckle:
1966 in Schwenningen geboren, wuchs in Stuttgart auf, besuchte Sprachschulen in der französischen Schweiz und in Paris, wollte eigentlich Übersetzerin werden, beschloss aber mit 25 Jahren lieber selbst zu schreiben, erst Hörspiele, dann Erzählungen, dann Romane.
Ihre ersten Bücher erschienen im Berlin Verlag: »Es gibt solche«, »Noll«,»Gleich nebenan« und »Sevilla«. Bei Klöpfer & Meyer erschienen 2010 mit großem Erfolg ihre Erzählung »Nai oder was wie so ist«, 2011 ihr Roman »Zielinski« und 2014 der Roman »Der lange Atem«. Sowohl »Zielinski« als auch »Der lange Atem« wurden ins Spanische übersetzt.
Nina Jäckle erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, beispielsweise den Karlsruher Hörspielpreis, das große Stipendium des Landes Baden-Württemberg, das Heinrich-Heine-Stipendium, das Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds. Sie erhielt im Dezember 2014 den Tukan-Preis der Stadt München, 2015 den Italo-Svevo-Preis für ihr Gesamtwerk und den Evangelischen Buchpreis für ihren Roman »Der lange Atem«. Nina Jäckle ist Stipendiatin der Villa Massimo in Rom 2016/17. (Quelle: Klöpfer und Meyer)