Donnerstag, 20. August 2020

Ryū Murakami: In Liebe, dein Vaterland - II: Der Untergang

Bis ins Jahr 1945 war die koreanische Halbinsel über 100 Jahre lang eine Kolonie Japans. Koreaner waren während dieser Zeit für die Besatzer Menschen zweiter Klasse und sind es leider bei vielen Japanern heute noch. In dem zweiteiligen Japan-Nordkorea Epos "In Liebe, dein Vaterland" von Ryū Murakami wird der Spieß umgedreht und Nordkorea ist plötzlich die Macht, die eine japanische Halbinsel besetzt und deren Bevölkerung in die Unterwerfung zwingt. 
In Anbetracht der Historie und dem schlechten Ruf, den Nordkorea in der Welt hat, wäre dies ein Schreckensszenario, das man sich durchaus vorstellen könnte, und das der Autor in seinem Zweiteiler genüsslich inszeniert hat.
In dem ersten Teil "In Liebe, dein Vaterland I. Die Invasion", den ich vor ein paar Monaten gelesen habe, konzentriert sich die Handlung auf die unmittelbaren Anfänge der Besatzung von Fukuoka durch eine militärische Eliteeinheit Nordkoreas. Nach einem offenen Ende dieses Teils, war ich natürlich gespannt, wie die weitere Entwicklung in Fukuoka sein würde. Und wie das bei Mehrteilern so ist, fragt man sich natürlich, ob die Fortsetzung genauso gut wie der erste Teil ist. Soviel vorweg: Der 2. Teil steht dem 1. Teil in nichts nach.
Eine nordkoreanische Militärtruppe besetzt also die japanische Halbinsel Fukuoka. Sie errichtet hier ihr Hauptquartier und bildet gleichzeitig die Vorhut für weitere 120.000 nordkoreanische Soldaten, die sich auf dem Seeweg nach Japan befinden. 
"Die Nordkoreaner schienen überhaupt sehr darauf zu achten, keine Ressentiments bei der Bevölkerung zu schüren. Nicht dass sie Waisenhäuser gestiftet, älteren Bürgern über die Straße geholfen oder Unkraut im Park gejätet hätten, doch beispielsweise achteten sie strikt darauf, ihr Lager sauber zu halten. Außerdem waren sie höflich und verstießen nie gegen die guten Sitten."
Zu Beginn des zweiten Teils "Der Untergang" erleben wir, dass mittlerweile der Alltag in Fukuoka eingekehrt ist. Die Bevölkerung ist bemüht, sich mit den Besatzern zu arrangieren. Bis auf wenige Ausnahmen in der Bevölkerung haben die wenigsten jedoch Grund, sich über die Nordkoreaner zu beschweren, sind diese doch ausgesprochen höflich und zurückhaltend im Umgang mit den Einheimischen - vorausgesetzt, dass man nach nordkoreanischen Regeln spielt. Der Feind scheint nicht Nordkorea sondern die eigene Regierung zu sein. Denn durch den fehlgeschlagenen Versuch der Regierungsbehörden, einen versteckten Angriff auf die Besatzer zu wagen, mussten Menschen sterben, darunter viele Einheimische.
Daraufhin wird man vorsichtig bei der Wahl der Mittel. Wer will schon Schuld am Tod der eigenen Landsleute haben? Die japanische Regierung stellt Fukuoka zunächst unter Blockade. Flug- und Schiffsverkehr sowie jeglicher Warenverkehr werden  eingestellt. Da es keine Alternativen für die Bewohner der isolierten Halbinsel gibt, lassen sich die Einheimischen auf Geschäftsbeziehungen mit den nordkoreanischen Besatzern ein. Denn diese müssen die Versorgung und Unterbringung der 120.000 Soldaten organisieren, die in Kürze eintreffen werden.
"Wieviele Handys würden sie wohl benötigen, wenn die 120.000 eintrafen. Bei der schwächelnden Wirtschaft Fukuokas würden sich eine Menge Händler die Hände reiben. 120.000 Zuwanderer würden die Nachfrage enorm steigern."
Nicht alle Einwohner Fukuokas wollen die Besatzung der Nordkoreaner hinnehmen. Und hier begegnen mir meine persönlichen Helden aus dem ersten Teil wieder: Eine Gruppe von Aussenseitern will den Kampf gegen die feindlichen Besatzer aufnehmen, wobei die Bezeichnung "Aussenseiter" nur eine harmlose Vorstellung über diese Gruppe suggeriert. Tatsächlich handelt es sich um Soziopathen, vorwiegend in jugendlichem Alter, die durch die direkte oder indirekte Beteiligung an unvorstellbar brutalen Verbrechen und den daraus resultierenden Konsequenzen eine sehr spezielle Kindheit verbracht haben. Das Verrückte an Murakamis Darstellung der einzelnen Charaktere dieser Gruppe ist, dass man trotz der individuellen Vorgeschichten ein hohes Maß an Empathie für diese Charaktere entwickelt - zumindest für die Jüngeren unter ihnen. Dies liegt nicht nur daran, dass sie als Underdogs dem nordkoreanischen Feind die Stirn bieten wollen. Tatsächlich stellt der Autor Ryū Murakami das Menschliche dieser Charaktere in den Vordergrund. Letztendlich haben wir es hier mit jungen Menschen zu tun, die ihre Kindheit unter extrem schlechten Bedingungen verbracht haben, und die als "Problemkinder" von der   Gesellschaft ins Abseits gestellt wurden. Nun haben sie sich in Fukuoka zu einer Gruppe zusammen gefunden, in der ihre persönliche Geschichte und Herkunft nur eine untergeordnete Rolle spielt. Hier steckt also hinter jedem Charakter ein Schicksal. Und genau das stellt Murakami in den Vordergrund.
"Endlich hatten sie ein äußeres Ziel, auf das sie all die zerstörerische Energie richten konnten, die in ihnen schlummerte. Woher dieser Drang zur Zerstörung kam, war unklar, aber Mori wusste, dass alle hier davon beherrscht waren."
Ryū Murakami schreibt nicht nur Romane, sondern er ist auch Regisseur und Drehbuch-Autor. Das merkt man diesem Buch an. Genau wie der 1. Teil ist "Der Untergang" unglaublich spannend und bietet genügend Potenzial, um einen Actiothriller daraus zu drehen. Der Sprachstil des Japaners ist dabei sehr visuell. Er lässt Bilder im Kopf des Lesers entstehen, die streckenweise sehr drastisch sind. Wie sich das für einen guten Actionstreifen gehört, knallt und scheppert es, dass es eine wahre Wonne ist. Explosionen, Schießereien, Blut und reichlich Tote und Verletzte ... hier hat Murakami alles in seinem Buch untergebracht, was das Action-Thriller-Herz begehrt. 

Dennoch sollte man nicht den Fehler begehen, diesen Roman auf Action, Mord und Totschlag zu reduzieren. Denn, genau wie der erste Teil, ist dieser Roman mehreren Genres zuzuordnen. Er ist eine anspruchsvolle Dystopie, die sich mit einer nahen Zukunft beschäftigt. Er ist Satire, die sich die japanische Gesellschaft vorknöpft und er ist Politthriller. Und auch hier gilt: Fiktion und Realität liegen sehr dicht beieinander.

Leseempfehlung!

© Renie






Und hier geht es zu meiner Buchbesprechung des ersten Teils: "In Liebe, dein Vaterland - Teil I: Die Invasion)