Donnerstag, 21. März 2019

Ryū Murakami: In Liebe, dein Vaterland - Teil I: Die Invasion

Quelle: Pixabay/OpenClipart-Vectors
So viel ist sicher, aus einem Stoff, wie ihn der Roman "In Liebe, dein Vaterland" des Japaners Ryū Murakami beschreibt, werden in Hollywood die reißerischsten Action-Filme gedreht:
Eine nordkoreanische Soldatentruppe bringt das Baseball-Stadion der japanischen Stadt Fukuoka in seine Gewalt und nimmt somit mal eben 30.000 Geiseln. Bei den Hollywoods würde irgendwann eine heldenhafte Truppe, angeführt von einem kernigen Supermann, dem Ganzen ein Ende bereiten und die Geiseln befreien, natürlich nicht ohne spektakuläre Knalleffekte. Auf jeden Fall würden am Ende die Guten siegen. Denn die Guten siegen immer.
In "In Liebe, dein Vaterland (Teil I)" ist jedoch nicht ganz einfach zu entscheiden, wer hier die Guten sind. Daher lässt sich auch nicht vorhersagen, welchen Ausgang die Geiselnahme und die daraus resultierenden Folgen nehmen werden. Am Ende dieses Buches, welches das erste von zwei Teilen ist, sowieso nicht. Wir müssen schon bis zum Ende des zweiten Buchs (Der Untergang) warten, um zu wissen, wie die ganze Chose ausgehen wird.
Quelle: Septime

"Der Plan war unschlagbar und Pak Yong-su konnte seine Aufregung kaum zügeln. Die Landsleute im Süden würden verschont bleiben, und die Heimat auch. Der Krieg würde auf überseeischem Territorium stattfinden. Blut würde fließen und Städte würden zerstört, doch nur in jenem Land, das einst das Vaterland beherrscht, zahllose Menschen zwangsumgesiedelt und damit die Ursache für die Teilung geschaffen hatte. Im verhassten Japan."
Die Geiselnahme gehört im Übrigen zu einem Plan, der am Ende vorsieht, den Süden Japans in eine Provinz Nordkoreas zu verwandeln. Es bleibt also nicht bei der Handvoll Nordkoreaner, die sich in Fukuoka breit machen. Sie machen nur den Anfang. Kurz nach dem Überfall auf das Baseball-Stadion treffen auch schon die nächsten nordkoreanischen Spezialeinheiten ein und besetzen das Zentrum der Stadt. In verblüffender Geschwindigkeit richten sich die Truppen hier ein, stellen ihre Forderungen und diktieren den Verantwortlichen der Stadt, wie die Übernahme verlaufen soll. Die Politiker sind überfordert, ganz Japan ist überfordert. Denn dieses Land hat seit geraumer Zeit andere Probleme, insbesondere seitdem der ehemalige Freund USA sich von Japan abgewandt hat und mit China und Nordkorea sympathisiert. Japan steht am wirtschaftlichen Abgrund, was sich in extremem Ausmaß bei der Bevölkerung bemerkbar macht. Hinzu kommt, dass Japan mit der militärischen Präzisionsarbeit der Nordkoreaner überfordert ist. Japan ist nicht gewohnt, mit Militärschlägen konfrontiert zu werden. Die Zeiten, in denen das japanische Militär gefordert war, liegen schon Ewigkeiten zurück.
"Der Wunsch aufzugeben breitete sich wie ein Gestank nach faulen Eiern am Runden Tisch aus. Aufgeben bedeutete, sich einer überlegenen Macht zu unterwerfen und jeden Gedanken an Widerstand fallen zu lassen. An die Macht kam man durch Gewalt, und durch Gewalt hielt man sie aufrecht. Menschen, die lange im Frieden gelebt hatten und nicht an Gewalt gewöhnt waren, empfanden sie als unmenschlich und konnten sich nicht einmal vorstellen, wie es war, Gewalt ausgesetzt zu sein. Und wer keine Vorstellung von Gewalt hatte, konnte sie auch nicht anwenden."
Japans Politiker-Elite reagiert mit Hilflosigkeit auf die Bedrohung. Und was ein guter (japanischer) Politiker ist, der weist erstmal jegliche Verantwortung von sich und sucht sich mindestens einen Schuldigen, der bei etwaigen Fehlentscheidungen geopfert wird. Das Wohl der Bürger von Fukuoka steht hintenan. Zunächst gilt es, die eigene Haut und Polit-Karriere zu retten.

Die Besetzung der Stadt erfolgt anfangs relativ unspektakulär. Die Besatzer erweisen sich als sehr höflich und versuchen, die Unannehmlichkeiten für die Bevölkerung so gering wie möglich zu halten. Ein feiner Zug von ihnen, der von den Einwohnern wohlwollend registriert wird. Doch sollte man die Nordkoreaner nicht unterschätzen. Sie sind nämlich nicht zimperlich bei der Wahl ihrer Mittel, sobald sie auf den kleinsten Widerstand stoßen. 

Die Geschichte wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Murakami konzentriert sich dabei auf mehrere Gruppen, die an dem Szenario beteiligt sind. Diese Gruppen können nordkoreanische Militärgruppen, japanische Politiker, Journalisten etc. sein. Irritierend ist dabei eine Gruppe von kriminellen jungen Japanern, teilweise mit terroristischem Hintergrund. Diese Gruppe spielt zu Beginn des Roman eine Rolle, taucht aber später nicht mehr auf. Diese Japaner scheinen die Underdogs in der Geschichte zu sein. Eine Gruppe von kriminellen Außenseitern, die in der japanischen Gesellschaft keinen Fuß fassen konnten, aber das Zeug dazu haben, hinterher als Helden an dem Geschehen in Fukuoka mitzuwirken. So liefe das zumindest in Hollywood. Und man hofft, dass sich diese Entwicklung auch bei Murakami findet. Doch, ob es dazukommt, wird sich erst im zweiten Teil dieser Geschichte zeigen. Denn wie gesagt, diese Gruppe findet im Verlauf des ersten Teils nicht mehr statt, aber dennoch spürt man, dass sie eine besondere Bedeutung haben werden.

Der erste Teil endet mit dem Belagerungszustand in Fukuoka und dem Moment, wo die netten Besatzer zu Herrschern werden und nicht mehr so freundlich sind, wie sie ursprünglich waren.

Dieser Roman wird als Dystopie, Satire und Politthriller bezeichnet. Das kann ich nur unterschreiben, denn dieser Roman ist so vielschichtig, dass man ihn auf keinen Fall einem einzigen Genre zuordnen kann. Diesen Roman zu lesen verursacht Spannung, ungläubiges Kopfschütteln, aber auch Unwohlsein bei dem Gedanken wie schmal die Gratwanderung zwischen Fiktion und Realität ist. Auf jeden Fall ist er ein grandioser Roman mit einem ungeheuren Spannungsaufbau, der mich neugierig auf den 2. Teil macht.

Leseempfehlung!

© Renie