Freitag, 25. September 2020

Martina Altschäfer: Andrin

Carl Schuch: Stillleben mit Porree
Warnung! "Andrin" von Martina Altschäfer ist ein Roman, der Sehnsüchte weckt. Insbesondere, wenn man als Stadtkind durch den Alltag hetzt, dabei von Lärm, Gestank, Hektik und Stress geplagt wird und sich einfach nur nach einem Ort voll himmlischer Ruhe und Entschleunigung sehnt. In "Andrin" gibt es diesen Ort, der zu schön ist, um wahr zu sein.
Dieser paradiesische Ort heißt Voglweh und ist gar nicht weit entfernt. Nur ein Katzensprung Richtung Italien und irgendwo in den Schweizer Alpen findet man Voglweh. Oder Voglweh findet denjenigen, der mal eine Auszeit von Stress und Alltag benötigt.
Genau dies ist Susanne, Protagonistin dieses Romans, widerfahren. 

Susanne ist eine mehr oder weniger erfolgreiche Schriftstellerin aus der Großstadt. Sie ist "weniger erfolgreich", wenn es um die Veröffentlichung eigener Werke geht. Sie ist "mehr erfolgreich", wenn sie als Ghostwriterin Auftragsarbeiten erledigt. Insbesondere im Schreiben von Biografien zahlungskräftiger "Berühmtheiten" oder solchen, die meinen, eine zu sein, hat sich Susanne als sehr talentiert erwiesen. Doch ihr aktueller Auftrag bringt sie an ihre kreativen Grenzen. Tapetenwechsel und Auszeit müssen also her. Das meint insbesondere ihr Chef und Verleger, der keine Kosten und Mühen scheut, Susanne - eines seiner besten Pferde im Stall der Ghostwriter - auf die kreativen Sprünge zu helfen. So reist sie also mit dem Zug nach Italien. Doch auch ein Wunderwerk der Technik ist vor den Tücken der Natur nicht gefeit. Steinschlag bremst den Zug aus, woraufhin Susanne versucht, auf eigene Faust weiterzureisen. Und hier verliert sich zunächst ihre Spur für alle, die sie vermissen könnten.
Quelle: Mirabilis Verlag
Doch der Leser begleitet sie weiter auf ihrer Reise, die plötzlich anders als verläuft als geplant. 

Und jetzt kommt der Teil, der Sehnsüchte weckt: Susanne wird von einem älteren Herrn namens Andrin am Straßenrand aufgabelt. Er nimmt sie mit nach Voglweh. Hier lebt er seit ein paar Jahren mit seiner Frau Uta. Sie sind die einzigen Bewohner dieses Ortes. Die beiden versorgen sich selbst, leben von dem, was die Natur ihnen bietet. Und die Natur meint es dabei gut mit ihnen. Ihr Lebensrythmus richtet sich nach den Jahreszeiten, ihr Tagesablauf ist einfach strukturiert: Arbeiten in der Natur oder Instandhaltung der wenigen Gebäude, die es gibt; viel Schlafen und viel Essen. Das Leben, das sie führen ist luxuriös einfach. Es scheint Ihnen an nichts zu fehlen. Zumindest gibt es nichts, was sie vermissen. 
Susanne wird zunächst als Gast angesehen, doch nach und nach entwickelt sie sich zu einem festen Bestandteil der Gemeinschaft. Sie bringt sich in die täglichen Arbeiten ein, so gut es geht. Denn als Stadtkind sind ihre viele Arbeiten fremd und müssen erlernt werden. Gleichzeitig will sie die Zeit ihres Aufenthaltes nutzen, an ihrer aktuellen Auftragsarbeit weiter zu schreiben.
"Viele Dinge, die mich in dieser Zeit dringend hätten beschäftigen müssen, entglitten mir auf angenehme Weise, schwebten sanft wie Seifenblasen davon und schickten höchstens bei günstigstem Licht in dem verwirbelten Muster ihrer schlierigen Haut einen flüchtigen Gruß."
Das Leben gestaltet sich als paradiesisch. Doch das Paradies wäre kein Paradies, wenn es keine Schlange gäbe - natürlich im übertragenen Sinne. Denn worin genau die Bedrohung des paradiesischen Lebens in Voglweh besteht, ist kaum greifbar. Von Naturgewalten bis hin zur Mystik, die die Handlung des Romans an die Schwelle des magischen Realismus lenkt, ist alles möglich und obliegt der Fantasie des Lesers. Die Autorin macht das an dieser Stelle sehr geschickt. Sie kreiiert ein bedrohliches Szenario, das die Handlung unterschwellig begleitet, aber niemals in den Vordergrund rückt. Dadurch erzeugt sie eine ungeheuere Spannung, so dass der Leser damit rechnet, dass die Vertreibung aus dem Paradies Voglweh kurz bevor steht. Wie diese Vertreibung aussehen könnte, und ob sie überhaupt stattfindet, bleibt jedoch bis zum Ende offen.

Eines meiner Highlights in diesem Buch sind die täglichen gemeinsamen Abendessen der drei Protagonisten. Das mag sich im Moment banal anhören. Doch wer das erste Mal einer Mahlzeit in diesem Buch beigewohnt hat, wird definitiv verstehen, was ich meine.
Andrin ist ein kreativer Koch, dem es gelingt, aus den Lebensmitteln, die den drei Bewohnern zur Verfügung stehen, und die sie größtenteils selbst anbauen, kulinarische Köstlichkeiten zu zaubern. Die Zubereitung der Mahlzeiten wird akribisch geschildert. Zutaten und Menüfolgen sind sehr besonders. Es geht dabei nicht allein um notwendige Nahrungsaufnahme, sondern der Genuss steht im Vordergrund. Wenn man bedenkt, dass Voglwehs Bewohner nicht viel Abwechslung im Alltag haben, scheint die Schlemmerei einen Ausgleich zu bieten. Diese Abschnitte über die gemeinsamen Essen haben dafür gesorgt, dass mir regelmäßig das Wasser im Mund zusammen gelaufen ist.
"Die Teigtaschen, die ihre außergewöhnliche Farbe einigen Tropfen einer Rote-Bete-Reduktion verdankten, waren mit einer Steinpilzfarce gefüllt. Für die Sauce hatte er Butter zerlassen und mit dem Sud aus leicht gegorenem Fichtennadelextrakt cremig aufgeschlagen. Das Gericht, das ein Topping aus gerösteten Steinpilzbröseln krönte, schmeckte nach Wald. Der ganze Teller duftete nach Moos, nach Pilzen und Tannenzapfen, und nach der Erde, wenn nach einer langen Regennacht die Sonne morgens den Boden wieder wärmt."
Die Appetitlichkeit dieser Momente wird sicherlich durch den Sprachstil der Autorin gefördert. Zeichnet sich dieser Stil von Beginn an durch Spritzigkeit und Lebendigkeit aus, entwickelt er in den Passagen rund ums Essen eine wahre sprachliche Schwelgerei. Die Autorin Martina Altschäfer scheint ein Genussmensch zu sein, denn selten sind Speisen und deren Herstellung mit soviel Fantasie und Poesie geschildert worden.

Mein Fazit zu diesem Roman:
Die Geschichte ist originell, weckt Sehnsüchte und ließ mich vom Alltagsstress in Tagträume hinabgleiten. Ich wurde also in einen literarischen Kurzurlaub geschickt und habe mich dabei prächtig erholt. Nur schade, dass auch der schönste Urlaub irgendwann vorbei ist.

Leseempfehlung! Unbedingt!

© Renie