Dienstag, 30. Juli 2019

Dag Solstadt: T. Singer

Quelle: Pixabay/Sorbyphoto
Mit "T. Singer" hat der norwegische Schriftsteller Dag Solstadt eine rätselhafte Geschichte über einen rätselhaften Mann geschrieben. 
Er schildert das Leben seines Protagonisten T. Singer, an dem eigentlich so gar nichts besonderes ist, aber dennoch unendlich viele Rätsel aufgibt.

Anfangs präsentiert sich Singer als ewiger Student, der mehr oder weniger planlos vor sich hin studiert und in den Tag hineinlebt. Irgendwann gelangt er an einen Punkt, an dem er seinem Leben eine neue Wendung geben möchte. Er wird Bibliothekar und nimmt eine Stelle in Nottoden an, tiefstes dunkelstes Norwegen, irgendwo in der Telemark. Nottoden ist ein kleiner Ort, der nicht viel zu bieten hat. Vor zig Jahren hat der Norwegische Großkonzern Norsk Hydro Nottoden als Firmensitz auserkoren. Es gab ambitionierte Unternehmenspläne für Notodden, die jedoch alle im Sande verlaufen sind. Übrig geblieben ist nur ein nichtssagender Ort, der seinen Einwohnern nicht viel zu bieten hat. Doch die sind zufrieden. In Nottoden lernt Singer Merete kennen. Scheinbar verlieben sich die beiden ineinander. Denn man wird den Verdacht nicht los, dass die beiden nur die eigene Vorstellung von dem jeweils anderen lieben. Sie heiraten. Merete bringt ihre kleine Tochter Isabella mit in die Ehe. Kennenlernen werden sich Merete und Singer nie.
Quelle: Dörlemann
"Denn wir müssen zugeben, dass es zu diesem Zeitpunkt in der Erzählung rätselhaft anmuten kann, dass Singer in irgendeinem Roman eine Hauptfigur sein könnte, unabhängig vom Niveau, wir können aber darüber informieren, dass eben dieses Rätselhafte das Thema des zu realisierenden Romans ist."
Singer ist als Person nicht zu charakterisieren. Man erfährt, was er nicht möchte. Man erfährt jedoch noch nicht einmal im Umkehrschluss, was er möchte. Er scheint sich den Vorstellungen, die Merete von ihm hat, anzupassen. Aber warum er das macht, bleibt ein Rätsel. Die Ehe ist zum Scheitern verurteilt. Man wundert sich nicht. Und kurz bevor Singer und Merete sich scheiden lassen, stirbt sie bei einem Autounfall und lässt Singer als Witwer zurück. Ist mann ein Witwer, wenn die Scheidung schon beschlossene Sache war? Ist mann in der Verpflichtung ein Stiefvater zu sein, wenn die Stieftochter mit der Scheidung aus seinem Leben verschwunden wäre, und er auch vorher keinen Bezug zu dem Kind hatte? Singer weiss keine Antwort auf diese Fragen. Ich auch nicht. Er entschließt sich, Isabella bei sich zu behalten. Eine rätselhafte Entscheidung, denn ihn verbindet nichts mit dem Kind, außer den paar Jahren, die sie unter einem Dach gelebt haben. Er geht mit Isabella nach Oslo, wo er eine Stelle als Bibliothekar annimmt.
"Singer hielt ehrerbietig und ängstlich Abstand zu ihr. Was war das? Er fühlte sich überflüssig, doch gleichzeitig war er da, in derselben Wohnung wie das fünfzehnjährige Mädchen, das er versorgte."
In Isabella scheint Singer seine Meisterin gefunden zu haben. Sie steht ihm in Verschlossenheit in nichts nach, was ihn zu wurmen scheint. Denn er versucht sie aus ihrer Reserve zu locken. Nicht, dass er Gefühle für das Mädchen hegt. Warum er sich also um sie bemüht, bleibt ein weiteres Rätsel. Die beiden leben nebeneinander her. Singer scheint Isabella gleichgültig zu sein. Aus dem kleinen Mädchen wird eine junge Frau und sie verschwindet aus seinem Leben. Und was bleibt zurück? Singer. Nur wer Singer ist, bleibt bis zum Ende des Romans ein Rätsel.

Habe ich dieses Buch gemocht? Ich weiß es nicht. Es ist schon ein großes Kunststück, einen Protagonisten zu schaffen, der so gar nicht zu charakterisieren ist. Doch genau das hat der Autor Dag Solstadt hinbekommen. Singer lässt sich nicht beschreiben - weder äußerlich noch innerlich. Er lässt sich bestenfalls erahnen, wobei jeder Wesenszug, den man Singer andichtet, von Zweifeln begleitet wird. Es herrscht eine große Distanz zwischen Leser und Singer, wozu der häufige Wechsel zwischen der Erzählperspektive Singers und einer auktorialen Erzählperspektive in diesem Roman noch beiträgt. Diese Distanz zum Protagonisten sowie der vergebliche Versuch, ihn zu charakterisieren machen diesen Roman zu etwas Besonderem: einem experimentellen Leseerlebnis, das den Leser fordert, da er stetig bemüht sein wird, das Rätsel um das Wesen des Protagonisten zu lösen.

© Renie


Samstag, 13. Juli 2019

Mathijs Deen: Unter den Menschen

Quelle: Pixabay/Skitterphoto
"Bauernsohn sucht Frau. Wohnt allein. 80 ha."
Der Bauernsohn, der hier eine Frau sucht, ist kein Exemplar der populären TV-Verkupplungsserie, auch wenn der Verdacht nahe liegt. Unser Bauer ist Jan. Sein Hof befindet sich an Hollands Nordseeküste, einsam gelegen, direkt hinter dem Deich. Manche bezeichnen diesen Ort als Idylle, für andere ist dies ein Ort, wo der Hund begraben liegt. 
Hier lebt Jan, ohne Hund und Katze und sonstigem Viehzeug. Aber dafür mit ganz viel Fläche, die es zu beackern gilt. Das ist sein Leben: Ackern. Seine sozialen Kontakte sind gleich Null. Es kann vorkommen, dass er wochenlang mit keinem Menschen redet. Er hat keine Verwandten mehr – seine Eltern sind vor einiger Zeit bei einem Autounfall ums Leben gekommen.
Zuviel Einsamkeit schlägt aufs Gemüt. Das erkennt auch Jan. Daher entschließt er sich, seinen desolaten Zustand mittels Kontaktanzeige zu verändern.
Quelle: mare
"Er schaltet den Fernseher wieder aus, legt sich aufs Sofa und versucht sich zu erinnern, wann er zum letzten Mal mit jemandem gesprochen hat, und über was. Ihm fällt nur der Fahrer ein, der die Rüben abgeholt, hat, und das war im November, vor gut einem Monat."
Doch er, der Eigenbrötler, der er mit den Jahren geworden ist, war zunächst nicht auf das vorbereitet, was da kommt: Wil, die auf seine Anzeige geantwortet hat, das Subjekt seiner Wahl, und die seinen Hof nun im Sturm okkupiert.

Auch Wil hat ihr Päckchen zu tragen. Sie ist ein Mensch, der bis jetzt unter seiner Willenlosigkeit gelitten hat. Ihre Gutmütigkeit gegenüber anderen hat dazu beigetragen, dass sie immer für andere da war und sich nach deren Willen orientiert hat. Das hat ihr nicht gutgetan. Auf Anraten ihres Psychotherapeuten nimmt sie, die sich bis jetzt immer von anderen Menschen leiten ließ, ihr Leben nun selbst in die Hand. Der einzige Wille nach dem sie sich zukünftig richten wird, ist ihr eigener. Ihr schwebt ein Neuanfang irgendwo am Meer, in der Einsamkeit, vor. Und da kommt Jan mit seiner Kontaktanzeige ins Spiel. Sie zieht überfallartig bei ihm ein, was ihn doch sehr überfordert, zumal er auch wenig dabei mitzureden hat. Denn er hat zwar den Wunsch nach einem Zusammenleben mit einer Frau, weiß jedoch nicht, wie das geht. Denn Zusammenleben bedeutet Veränderung. Und damit kann er nur sehr schwer umgehen. In sehr langsamen Schritten lernen Wil und Jan aufeinander zuzugehen. Leider wählen sie dabei nicht den direkten Weg. Denn ihr Zusammensein birgt einiges an Konfliktpotenzial, das sie sich immer wieder voneinander entfernen lässt.
Der Roman behandelt also die Entwicklung der Beziehung von Jan und Wil, zweier Menschen, die nie gelernt haben, sich auf andere einzulassen. Die Handlung wird aus wechselnder Erzählperspektive erzählt, bestimmendes Thema ist dabei die Einsamkeit der Menschen. Jeder wirkt für sich isoliert. Gerade zu Beginn des Romans wird diese Isolation überdeutlich. Dazu trägt auch bei, dass außer den beiden so gut wie keine handelnden Figuren in dieser Geschichte stattfinden. Die Handlung wird von den beiden dominiert. Nur selten kommt es zu Interaktionen mit anderen Menschen, bspw. Dorfbewohnern, bei denen Wil aneckt. Oder Wils Mutter, die seit einem Schlaganfall geistig verwirrt ist und in der Vergangenheit lebt.
"'... du musst dir klarmachen, dass ich hier bin, um nicht nur in mein, sondern auch in dein Leben Ordnung zu bringen, dass ich es satthabe, mir von anderen vorschreiben zu lassen, was ich zu tun habe, und deshalb will ich, dass wir jetzt und hier an diesem Frühstückstisch über uns und den Hof verhandeln....'"
Das Zusammenleben von Wil und Jan ist ein ständiger Lernprozess, wobei Jan mit der Zeit den aktiveren Part bei der Annäherung zu Wil übernimmt. Es ist fast schon rührend, wie sehr er sich bemüht, das Zusammenleben mit Wil möglich zu machen. Die beiden scheinen mit der Zeit die Rollen zu tauschen. Wil, die anfangs den Hof im Sturm besetzt hat, verschließt sich mit der Zeit. Und Jan, der anfangs die Besatzungsphase von Wil fast stoisch erduldet hat, öffnet sich mit der Zeit. Denn er will, dass die Beziehung funktioniert. Eine wunderschöne Entwicklung, die der Autor seinen Protagonisten hier widerfahren lässt!
Trotz aller Einsamkeit und Traurigkeit über die Schwierigkeiten seiner Protagonisten, sich zu einem gemeinsamen Leben zusammenzuraufen, gelingt es dem Autor, eine gehörige Portion Situationskomik in dieser Geschichte unterzubringen. Es gibt diese Momente, die man sich bildlich vorstellen kann und in denen Dinge passieren, die zum Brüllen komisch sind. Dafür habe ich dieses Buch geliebt. Denn diese Kombination aus Einsamkeit, Traurigkeit und Situationskomik ist sehr gelungen und macht das Buch zu einem Spaß mit ernstem Hintergrund. Leseempfehlung!

© Renie


Samstag, 6. Juli 2019

Regina Scheer: Gott wohnt im Wedding

Quelle: Pixabay/sabinevanerp
"Ich bin das älteste Haus in der Straße. Irgendwo hinterm Leopoldplatz soll es noch ältere geben, aber das habe ich natürlich nicht gesehen. Ich habe überhaupt nur gehört, was hier auf meinem Hof, zwischen meinen Wänden geredet wurde, und nur gesehen, was da geschehen ist, und das reicht mir auch."
Regina Scheers Roman "Gott wohnt im Wedding" spielt, wie der Titel schon sagt, in Berlins Stadtteil Wedding, der sich in den letzten Jahren vom schmuddeligen Kiez zum Shabby chic Hipster Viertel gewandelt hat. Die Handlung des Romans konzentriert sich dabei jedoch auf die Zeit, als sich der Wedding gerade im Umbruch befand, also mehr shabby als chic war.

Im Mittelpunkt steht ein Haus und seine Bewohner. Einer der Protagonisten ist tatsächlich dieses Haus – ein heruntergekommenes Mehrfamilienhaus, gebaut im Jahre 1890. Es hat schon einiges in seinem bisherigen Dasein gesehen, u. a. zwei Weltkriege, und natürlich auch unzählige Menschen, die hier ein- und wieder weggezogen sind. Momentan besteht der große Teil der Bewohner aus Sinti- und Roma-Familien, die versuchen, in Deutschland Fuß zu fassen. Es sind maßgeblich Frauen, die in diesem Haus eine Rolle spielen. Allen voran die alte Gertrud, die fast schon ein Jahrhundert in diesem Haus lebt. Keine andere weiß mehr über die Geschichte des Hauses und dessen Bewohner als sie.
Quelle: Penguin
"Von den Leuten hier ist wohl kaum einer im Wedding geboren, vielleicht die kleinen Kinder oder manche der Mütter; die meisten tragen die Landschaften, aus denen sie kommen, noch in den Augen, in den Gesten, in der Schwere ihrer Körper. Sie sind hierher verschlagen worden, durch Kriege, durch Armut, auf der Suche nach einem besseren Leben, und vielleicht ist das hier jetzt ihr Zuhause."
Gleich zu Beginn fällt die Vielschichtigkeit des Romans auf. Regina Scheer packt die unterschiedlichsten Themen an, allen voran ... Judentum während des Nationalsozialismus, die Entwicklung des Lebens in Israel, die jüngste Geschichte der Sinti und Roma, der Wandel des Wedding unter dem Einfluss von Immobilienhaien, die Zusammengehörigkeit der Einwohner, Wedding als Dorf.
Dabei konzentriert sich die Autorin auf die einzelnen Lebenswege der Bewohner des Hauses, die von diesen Themen beeinflusst werden bzw. worden sind. Das kann sehr spannend sein: Gertrud hat beispielsweise ein Geheimnis, dass sie mit Leo, einem jüdischen Bekannten aus der Zeit des Nationalsozialismus, verbindet. Leo konnte damals dem Holocaust entkommen, indem er nach Israel ausgewandert ist. Jetzt, nach über 70 Jahren, taucht er wieder in Berlin auf, um den Nachlass seiner verstorbenen Frau zu regeln. Dabei wandelt er auf den Pfaden seiner Erinnerung, die ihn unweigerlich zu dem alten Haus in der Utrechter Straße im Wedding führen und somit vor Gertruds Tür. 
Leider kann die Schilderung dieser Lebenswege beim Lesen auf Dauer ermüden. Aufgrund der Vielzahl von Charakteren innerhalb der Sinti- und Roma-Familien können ihre Darstellungen sehr ausufernd sein. Sicherlich eröffnet die Autorin dem Leser einen Blick auf die Probleme, die sich einer Flüchtlingsfamilie in Deutschland stellen, angefangen bei den Vorurteilen und Steinen, die diesen Menschen in den Weg gelegt werden, während sie versuchen, sich in Deutschland eine Existenz aufzubauen. Leider ist man jedoch schnell durch die Vielzahl der Charaktere überfordert, deren Schicksale sich teilweise ähneln. Daher droht am Ende Langeweile, so dass hier weniger mehr gewesen wäre.

Der Roman ist auch ein Stück deutsche Zeitgeschichte, die auf kleinem Raum im Wedding stattgefunden hat. Hier werden viele Geschehnisse und historische Personen benannt. Doch auch hier wird man förmlich von der Flut der Ereignisse, Personen und Jahreszahlen erschlagen. Daher ist auch hier der Grat zwischen Faszination und Langeweile ein sehr schmaler.

Ich möchte jedoch nicht außer Acht lassen, dass bei allem Erzählten immer eine große Portion Empathie der Autorin durchschwingt. Denn Regina Scheer legt den Fokus auf die Menschen und das Menscheln. Die Bewohner des Stadtteils Wedding kümmern sich umeinander, sehen sich als verantwortlich für ihre Mitbewohner. Das ist ein sehr wohltuender Aspekt an diesem Buch, der natürlich auch eine Verbindung zu dem Titel des Romans herstellt.

Mein Fazit:
In diesem Roman hat mir der Spannungsbogen gefehlt. Regina Scheer konzentriert sich auf die Lebenswege der Protagonisten, die mit Sicherheit jeder für sich sehr interessant sind, doch in der Masse zuviel. Die empathische Art der Autorin berührt an vielen Stellen. Natürlich war auch die ausgefallene Idee, ein Haus zu einem Protagonisten zu machen, ein sehr gelungene Überraschung. Doch am Ende wäre weniger mehr gewesen. Denn der Stoff, den sie hier zu Papier gebracht hat, hätte mindestens für einen weiteren Roman gereicht. 

© Renie

Mittwoch, 3. Juli 2019

Lukas Hartmann: Der Sänger

Der Ohrwurm "Ein Lied geht um die Welt" ist bereits über 80 Jahre alt. Der damalige Interpret dieses Liedes war ein "kleiner Mann, ganz groß": Joseph Schmidt, ein begnadeter Sänger in den 30er Jahren, der mit seiner Stimme die ganze Welt begeisterte. Und davon nicht nur die Frauenwelt, aber diese besonders.
Doch Joseph Schmidt hatte für die damalige Zeit einen Makel. Das war nicht seine geringe Körpergröße von 1,54 m - auch wenn dies selbst sein Selbstwertgefühl beeinträchtigte -, sondern Schmidt gehörte der falschen Religion an. Joseph Schmidt war Jude. Und so groß war die anfängliche Begeisterung der Nationalsozialisten für den Sänger dann doch nicht. Denn Josef Schmidt sollte - Promi-Status hin oder her - wie jeder andere Jude behandelt werden, sprich "Endlösung".
Es hat lange gedauert, bis Joseph Schmidt erkannt hat, dass seine einzigartige Stimme und seine Berühmtheit keinen Schutz vor Verfolgung boten. Im letzten Moment entschloss er sich zur Flucht aus Deutschland, besser noch aus Europa. Nachdem ihm die Ausreise von Frankreich nach Übersee verwehrt wurde - er hatte mit seiner Entscheidung zur Flucht zu lange gezögert - suchte er Schutz in der neutralen Schweiz.
"Hitlers Krieg verschlang alles, er hatte auch ihn schon verschlungen, seine Kräfte aufgezehrt, und die Nazis würden nicht ruhen, bis er, der Jude, endlich schwieg."
Quelle: Diogenes
Lukas Hartmann erzählt in seinem Roman "Der Sänger" die Geschichte der Odyssee von Joseph Schmidt. Auch wenn er sich dabei auf den Sänger konzentriert und anhand von Josephs Träumen und Erinnerungsfragmenten ein Bild des Tenors zeichnet, steht am Ende doch das Flüchtlingsthema im Fokus. Denn es gibt erschreckende Parallelen zwischen dem Umgang mit Flüchtlingen damals wie heute.

Der Autor zeichnet dabei kein verklärtes Bild des Ausnahmemusikers. Ganz im Gegenteil. Joseph Schmidt zeigt gerade zu Beginn des Romans viele Facetten, die bei mir auf Ablehnung stießen. Er war ein schwächlicher Mensch, der in anderen Sphären zu leben schien. Er war nicht für die Realität gemacht, schien auch nicht alltagstauglich zu sein. Er benötigte Menschen, die sich um ihn kümmerten und ihm die lästigen Dinge des Alltags abnahmen. Dies waren insbesondere Frauen. Denn sein Ruhm und sein Schmalz in der Stimme machten sexy. Da schaute frau auch großzügig über seine geringe Körpergröße hinweg. Josephs Frauenverschleiß war nicht ohne. Pech, wenn eine von ihm ein Kind bekam. Aber dies war kein Problem, das sich nicht mit Geld lösen ließ. Davon abgesehen, dass Joseph menschlich nicht fähig gewesen wäre, die Vaterrolle zu übernehmen. Denn er war kaum in der Lage, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.
"Er war ja nicht bloß Sänger, sondern, wenn es sein musste, auch Schauspieler. Nicht auf der Bühne, die seine Kleinheit verriet, aber im Film, wo man das Publikum mit Tricks täuschen konnte, und im wirklichen Leben, wo er zu viele Frauen, die an seiner Berühmtheit teilhaben wollten, im Stich gelassen hatte."
Dieser Roman heißt nicht umsonst "Der Sänger". Denn Joseph Schmidt war Musik und lebte Musik. Sein Denken wurde von Musik bestimmt. Alles andere trat in den Hintergrund. Umso verstörender war es für Joseph, als er in die grausame Realität gezwungen wurde und feststellen musste, dass ihm seine Stimme und seine Musik nicht helfen konnten. Ganz im Gegenteil, der Promi-Status wurde von denjenigen, die über seine Rettung in der Schweiz entscheiden sollten, als Makel betrachtet. Die neutrale Schweiz machte keinen Unterschied zwischen prominentem Juden und "Otto Normal" Juden. Nicht zuletzt wollte die Schweiz sich ein Hintertürchen offenhalten, sollten die Deutschen doch einen Weg über die Alpen finden.
Bis zu diesem Zeitpunkt bin ich mit diesem Roman nicht warm geworden. Denn die Charaktereigenschaften, die Joseph Schmidt zugeschrieben werden, sind bei mir auf Ablehnung gestoßen. Doch Lukas Hartmann hat seinen Protagonisten Schmidt eine erstaunliche Entwicklung durchlaufen lassen. Auf einmal wird aus dem Ausnahmesänger ein armer kranker Flüchtling, der in erbärmlichen Verhältnissen in einem Schweizer Übergangslager leben muss.
"'Ich weiß nicht, ob ich noch an die Musik glauben soll. Sie war mein Leben, ihr habe ich alles untergeordnet. Wer lässt denn all das Üble zu, das uns zu wehrlosen Opfern macht?'"
Joseph Schmidt verliert im Verlauf der Handlung seine Identität. Nicht nur diejenigen, die über sein Leben und seine Zukunft entscheiden, sprechen ihm diese ab. Nein, auch "Der Sänger" gibt sich auf und sieht sich selbst nur noch als Flüchtling. Zwischendurch blitzen noch kleine Hoffnungsgedanken an eine Rückkehr zu seinem alten Leben auf. Doch Josef Schmidt scheint zu verlöschen.
Damit hat Lukas Hartmann einen Nerv bei mir getroffen, der mich zum Innehalten und Nachdenken gebracht hat. Joseph Schmidts Entwicklung vom Individuum zum Flüchtling steht stellvertretend für Menschen, die heutzutage auf der Flucht sind. Sie sind gezwungen ihr altes Leben hinter sich zu lassen, von dem auch kaum jemanden interessiert, wie dieses Leben ausgesehen hat. Stattdessen mutieren sie zu einer fremden Spezies... der Spezies "Flüchtling".

Man kann diesen Roman natürlich mit viel verklärter Nostalgie-Romantik betrachten. Für viele wird dies wahrscheinlich auch der Grund sein, dieses Buch zu lesen. Joseph Schmidts vergangener Promi-Status zieht immer noch beim Leser. Aber viel wichtiger ist für mich die Entwicklung dieses Romans: von einem biografischen Roman über einen prominenten Sänger hin zu einem zeitkritischen Roman, der die Flüchtlingsthematik in der Schweiz und natürlich Deutschland und sonst wo, eindringlich zur Sprache bringt.
Leseempfehlung!

© Renie