Es gibt Fragen, die möchte man sich nicht stellen. Es sind "Was wäre, wenn"- Fragen wie "Was wäre, wenn ich morgen vom Auto überfahren werde?"; "Mit dem Flugzeug abstürze?"; "Oder einem Terroranschlag zum Opfer falle?"; "Oder jemand, der mir nah steht, von einem Moment auf den anderen nicht mehr da ist?" Oder, oder, oder ...
Diese aufwühlenden Fragen und damit verbundenen Gedanken verursachen großes Unbehagen. Denn wer beschäftigt sich schon gern mit dem Tod. Dennoch kann man sich nicht von diesen Gedanken freisprechen, denn sie sind immer latent vorhanden - mal mehr, mal weniger ausgeprägt. Und irgendwann kommt jeder in die Situation, in der er sich mit der Frage konfrontiert sieht: "Was wäre, wenn ich oder jemand, der mir nah steht, nicht mehr wäre?"
Und um diese und ähnliche Fragen geht es in dem Roman "Nach Mattias" des niederländischen Autors Peter Zantingh.
Derjenige, der hier gerade gestorben ist, ist Mattias. Wir wissen nicht, wie alt Mattias war, als er starb, können aber den Aussagen über ihn entnehmen, dass er in den Zwanzigern oder Dreißigern war. Wir wissen auch zunächst nicht, warum oder woran Mattias gestorben ist. Das ist auch nicht wichtig. Die Konsequenz für Mattias ist dieselbe. Viel wichtiger ist, was sein Tod bei den Leuten auslöst, die ihn liebten, die ihm zumindest nah waren oder auch nur flüchtig mit ihm zu tun hatten.
Quelle: Diogenes |
"Ein guter Freund liest mit gesenktem Blick etwas vom Blatt ab. Immer voller Pläne, sagt er. Er hatte immer was Großes vor. Vielversprechendes, Termine. Immer wieder mit was Neuem befasst.Ein Zweiter übernimmt, als dem Ersten die Stimme versagt. Er liest: Er wollte was. Wenn es ihm zu lange dauerte, wurde er ungeduldig. Scharrte mit den Hufen. Kommt, ihr Loser. ...Sie möchte sich erheben. Nein. So war er nicht."
Am Beispiel von acht Charakteren, denen jeweils ein oder zwei Kapitel in diesem Buch gewidmet sind, erleben wir, wie diese Menschen mit dem Verlust von Mattias umgehen bzw. was die Trauer mit ihnen macht. Wir erfahren, welches Leben sie führen oder geführt haben - mit und ohne Mattias. Allen voran sind dies Mattias' Lebensgefährtin, sein bester Freund, seine Großeltern und seine Mutter, aber auch irgendjemand, den Mattias irgendwoher kannte. Natürlich überwiegen in diesem Buch Traurigkeit und Betroffenheit. Doch gleichzeitig wird man hier auch Hoffnung finden. Denn ein Verlust kann auch einen Neuanfang bedeuten.
Die zentralen Fragen, die sich bei der Lektüre dieses Romans stellen, sind:
Welche Spuren hinterlässt ein Mensch? Welche Erinnerungen an diesen Menschen bleiben bestehen? Was bewirkt der Verlust eines Menschen bei den Hinterbliebenen?
Dies sind Fragen, die sich unmöglich allgemeingültig beantworten lassen. Anhand der Art und Weise wie Peter Zantinghs Protagonisten gelebt haben und "Nach Mattias" leben werden, entwickeln sich jedoch Denkansätze, die den Leser zur Selbstreflexion bewegen. Und dadurch wird dieser Roman zu einem sehr persönlichen und aufwühlenden Buch für den Leser.
Dieses Buch kann wehtun, denn die Geschichten der einzelnen Charaktere kratzen an der eigenen Seele. Peter Zantingh hat mit seinen unterschiedlichen Protagonisten einen Querschnitt aus dem sozialen Umfeld eines jeden Lesers geschaffen. Daher ist es fast nicht zu vermeiden, dass man sich selbst anstelle des einen oder anderen Charakters sieht. Und man stellt sich die "Was wäre, wenn"- Fragen, die man am liebsten nicht stellen würde, weil sie einen Tabu-Bereich des eigenen Inneren betreffen. Und allein die Vorstellung des Verlusts eines lieben Menschen ist unerträglich.
"Nein, das Schwerste von allem, ..., sei der Verlust von Erinnerungen. Weil ich heute mit dem Akt des Erinnerns den schwarzen Schleier der Gegenwart über sie legte. Und der bleibe: Beim nächsten Mal sei es schon eine Erinnerung an diese Erinnerung, eine Kopie einer Kopie. Bis eines Tages alle Formen und Farben weg seien."
Und jetzt werde ich persönlich, was ich sonst in meinen Buchbesprechungen vermeide. Aber hier geht es nicht anders:
Mich hat dieser Roman bis ins Mark erschüttert. Ich bin in einem Alter, das man optimistisch als die zweite Hälfte des Lebens bezeichnet (pessimistisch gesehen ist es wohl eher das letzte Drittel). Hinzu kommt, dass mir meine Gesundheit vor ein paar Jahren einen üblen Streich gespielt hat, was mir damals die eigene Sterblichkeit mehr als bewusst gemacht hat. (Zurückgeblieben sind Gott sei Dank nur ein paar seelische Narben). Daher taucht die Frage ohne Antwort, wieviel Zeit mir mit meinen Lieben "theoretisch" noch bleiben "könnte" (ein Hoch auf den Konjunktiv!), immer wieder auf. Doch ein Gutes hat diese Frage. Gepaart mit meiner persönlichen Erfahrung ist sie ist für mich eine Mahnung, bewusster zu leben und ich sehe mich in der Pflicht - sowohl mir, auch meinen Lieben gegenüber -, jede Minute des Lebens zu genießen, als wäre es die Letzte.
Und diesen Gedanken nehme ich auch aus "Nach Mattias" mit.
Mein Fazit:
Ein Buch, das wehtut, auf das man sich einlassen muss, das aber am Ende sehr viel zu geben hat! Leseempfehlung!
© Renie
Buchbotschafterin (aus Überzeugung) für den Roman "Nach Mattias"