Donnerstag, 29. September 2016

Benjamin Monferat: Welt in Flammen

Der Orient-Express – um kaum einen Zug ranken so viele Mythen wie um den legendären Luxuszug, der von 1883 an über Jahrzehnte Paris mit Istanbul (damals Konstantinopel) und anderen osteuropäischen Zielen verband. Der Orient-Express wurde gern als "König der Züge, Zug der Könige" bezeichnet. Die Reise im Orient-Express diente häufig als Inspiration zu verschiedensten Romanen und Verfilmungen, so auch bei dem Roman „Welt in Flammen“ von Benjamin Monferat.
Quelle: Rowohlt


Worum geht es in diesem Roman?
Es ist nicht irgendeine Reise, sondern die letzte Reise, auf die sich der Orient-Express begibt. Wir befinden uns im 2. Weltkrieg. Die Route des Orient-Expresses quer durch Europa wird aufgrund der Kriegswirren in Kürze eingestellt werden. Die Deutschen sind bereits in Frankreich einmarschiert und stehen kurz vor Paris. Am Bahnhof Gare de L'Est finden sich unzählige Charaktere ein, die die Fahrt im Orient-Epress aus den unterschiedlichsten Motiven antreten wollen. 
"Alexej sah starr gegen die Wand, auf die hellen Einlegearbeiten im dunklen Holz, die in jedem der Abteile minimal variierten, jede von ihnen ein Kunstwerk für sich. Verziert und gekünstelt. Der letzte Überrest der in Todeskrämpfen zuckenden Alten Welt. Der Orient Express war in Bewegung, versuchte der Vernichtung zu entkommen, die über Europa hereinbrach." (S. 277) 
In dem Zug befinden sich:
  • die Jüdin Eva, die diese Reise als letzte Chance ansieht, sich vor den Deutschen in Sicherheit zu bringen. Bis vor Kurzem war sie die Geliebte von Carol von Carpathien, einem Balkanfürsten, der sich mit seinem Tross ebenfalls im Zug befindet.
  • Carol von Carpathien, vertriebener König im Exil, der seine Geliebte Eva in Paris zurücklassen wollte, weil er seinen Königspflichten in seinem Land nachkommen muss. Die Chancen stehen gut, dass er den carpathischen Thron zurückgewinnt. Denn das Land steht kurz vor der Rückeroberung durch königstreue Gruppen.
  • die russische Adelsfamilie Romanow, vor einigen Jahren von den Kommunisten aus ihrer Heimat Russland vertrieben und seitdem ständig auf der Flucht, auf der Suche nach Asyl und nach neuer Macht.
  • der amerikanische Milliardär Paul, frisch verheiratet. Seine Ehefrau Vera ist deutlich jünger als er. Trotz Kriegswirren haben sich die beiden zu einer Lustreise im Orient-Express entschlossen.
  • ein amerikanischer Student mit deutschen Wurzeln (wobei die Wurzeln tiefer gehen als vermutet)
  • ein Engländer, very British, den man sich auch gut in einem Agatha Christie Film vorstellen kann
  • ein russischer Student
  • französische Diplomaten
  • ein Vertreter des Vatikans
  • ein Yogi
Ein Teil der Personen hat die Reise in Paris angetreten. Einige Personen steigen erst im Verlauf der Reise quer durch Europa hinzu. Tatsächlich sind einige der an Bord befindlichen Passagiere in der Geheimdienstbranche tätig: Russen, Engländer, Franzosen, Deutsche in geheimer Mission … nahezu jede europäische Organisation ist hier vertreten. Und alle verfolgen die unterschiedlichsten Verschwörungspläne. Manchmal lassen sich diese Pläne miteinander in Einklang bringen. Doch meistens sind sie kontrovers und sorgen für „Sprengstoff“.
"Niemand in diesem Zug war, was er zu sein schien, ganz gleich wie harmlos er wirkte." (S. 224)

Als Leser bekommt man es mit den verschiedensten Erzählperspektiven zu tun. Ein großer Teil der vorkommenden Protagonisten erzählt die Geschichte aus eigener Sicht. Dadurch kommt es zu ständigen und kurz aufeinanderfolgenden Wechseln zwischen den Perspektiven. Die Handlung erhält somit einen Sog, der den Leser förmlich mitreißt. Dabei ist die Spannung von der ersten Seite an sehr hoch und wird im Verlauf der Geschichte noch gesteigert.

Der Roman steckt zudem voller Überraschungen. Die Handlungsverlauf nimmt häufig Wendungen an, an die man im Traum nicht gedacht hat. Manchmal wirken diese Wendungen konstruiert und künstlich herbeigeführt. Aber das verzeiht man gern, weil dies der Spannung und Unterhaltung keinen Abbruch tut. An den spannendsten Stellen gibt es öfter einen fiesen Cut, im Sinne von "Fortsetzung folgt". Aber "fies" natürlich deshalb, weil die Spannung so extrem hoch ist und man unbedingt wissen möchte, wie es weitergeht. Natürlich wird der Handlungsfaden ein paar Seiten weiter wieder aufgenommen ;-)

Alles in allem lässt sich dieser Roman mit seinen mehr als 750 Seiten als echten Schmöker bezeichnen, den man nicht aus der Hand legen möchte.
"'Europa fliegt uns um die Ohren, und Sie machen sich noch immer Gedanken, ob wir pünktlich sind?'" (S. 621)
Dieser Roman unterhält nicht nur durch seine Spannung sondern auch durch das große Stück Zeitgeschichte, das hier vermittelt wird. Die letzte Fahrt des Orient-Express findet vor dem Hintergrund des politischen Chaos statt, das seinerzeit in Europa und dem Rest der Welt geherrscht hat. Das fundierte Wissen, das Benjamin Monferat zum Zusammenspiel zwischen den einzelnen Beteiligten unterschiedlicher politischer Gesinnung vermittelt, ist exzellent recherchiert. Gleichzeitig gewährt er dem Leser die Möglichkeit, in die faszinierende Welt des Orient-Expresses abzutauchen. In der Autorenbeschreibung im Klappentext findet sich der Hinweis, dass Monferats Großvater während des Dritten Reiches an dem Bau von Luxuswaggons beteiligt war. In der Familie scheint es also eine Affinität zur Eisenbahn zu geben. Diese Affinität kommt in diesem Roman deutlich zum Ausdruck. Die Beschreibung der technischen Gegebenheiten und der Abläufe in der Arbeitsroutine im Orient-Express wirken sehr authentisch. Zudem gibt es Beschreibungen zum Streckenverlauf, die fast schon etwas Romantisch-Nostalgisches haben.
Darüberhinaus war Monferats Großvater im Widerstand gegen das deutsche Regime tätig. Die eine oder andere Erinnerung an diese Zeit hat mit Sicherheit ihren Weg in diesen Roman gefunden.

Fazit:
Dieser Roman ist sehr spannend und kurzweilig. Im Mittelpunkt stehen die Charaktere mit ihren unterschiedlichsten Schicksalen. Die Fahrt im Orient-Express zu wählen, um diese Charaktere miteinander zu verknüpfen ist eine großartige Idee, die von Benjamin Monferat auch hervorragend umgesetzt wurde. So ist ihm mit diesem Roman eine großartige Mischung aus Historienroman und Thriller gelungen, die fesselnde Unterhaltung garantiert.

© Renie


Welt in Flammen von Benjamin Monferat, erschienen bei Rowohlt
Erscheinungsdatum: November 2015
ISBN: 978-3-499-26843-4




Über den Autor:
Benjamin Monferat ist ein Pseudonym, hinter dem sich der deutsche Autor Stephan M. Rother verbirgt. Als Schriftsteller und Historiker hat er sich ganz der Geschichte verschrieben – in all ihren Bedeutungen. Neben einem Kleinbahnhof an der innerdeutschen Grenze aufgewachsen, gehört das Schnaufen historischer Dampflokomotiven zu seinen ältesten Erinnerungen. Die Lebensgeschichte seines Großvaters, der im Dritten Reich am Bau luxuriöser Salonwagen beteiligt war und gleichzeitig tätigen Widerstand gegen das Regime übte, war einer der Impulse, aus denen heraus «Welt in Flammen» entstand. (Quelle: Rowohlt)