Aus dem Polnischen von Friedrich Griese
Mit einer Einleitung der Halbschwester Zahava (Laskier) Scherz
und einem Nachwort von Mirjam Pressler
In der Einleitung erzählt Zahava (Laskier) Scherz die Geschichte des Tagebuchs.
Als sie vierzehn Jahre alt war, fand sie ein verstecktes Fotoalbum ihrer Eltern. Ein Mädchen, acht Jahre jung, fiel ihr besonders auf, weil es ihr ähnelte. Sie sprach ihren Vater auf dieses Foto an. So erfuhr sie das erste Mal von Rutka und Heniuś, seinen Kindern und seiner Frau Dorka, die im Holocaust umgekommen war.
Im Jahr 2006 erfuhr Zahava, dass ein Tagebuch ihrer Halbschwester Rutka aufgetaucht sei, das 62 Jahre von der jetzt 82-jährigen nichtjüdischen Polin Stanislawa Sapińska versteckt wurde.
Stanislawa kannte Rutka als junges Mädchen. Sie wusste, dass Rutka ein Tagebuch schrieb, sie erfuhr, dass Rutka über den Kriegsverlauf und über das Schicksal der deportierten Juden gut informiert war. Sie ging davon aus, dass Rutka im Untergrund tätig war. Rutka hätte ihr auch gesagt, dass sie den Krieg nicht überleben würde und so vereinbarten sie ein Versteck für das Tagebuch, sodass Stanislawa es später herausholen und aufbewahren konnte.
Das hat auch funktioniert, da Stanislawa nach dem Krieg in Rutkas Wohnung einzog. Ihrer Familie erzählte Stanislawa erst von dem Tagebuch, als sie 80 Jahre alt wurde. Ihr Sohn war der Meinung, dass es in ein Museum gehört und gab es an das städtische Museum. Nach ein paar Nachforschungen kam man so auf Zahava, die sich ihrerseits nun auch auf Rutkas Spuren machte.
Die Polen nennen Rutka "die polnische Anne Frank", viele polnische Homepages berichten über ihr Leben, junge Leute schreiben Gedichte über sie.
Der Vater wollte mit der Familie nach Palästina gehen. Doch der Zweite Weltkrieg durchkreuzte seine Pläne und wie viele andere, hat er die künftige Entwicklung nicht vorhergesehen.
Im August 1943 wurde die gesamte Familie nach Auschwitz deportiert. Seine Frau Dorka, die Kinder Rutka und Heniuś und seine Mutter Dorka kamen sofort in die Gaskammern. Er selbst wurde zu einem Muselmann (ein am Lagerleben zerbrochener Mensch). Wegen seines Berufes kam er noch in das Konzentrationslager Sachsenhausen und musste dort an der geheimen "Operation Bernhard" mitarbeiten. Die amerikanischen Truppen rückten immer näher, die Wachmannschaften und Soldaten flohen, bevor sie alle Häftlinge ermorden konnten.
Der erste Tagebucheintrag von Rutka stammt vom 19.1.43, vier Jahre schon lebt sie in dieser Hölle, wo ein Tag dem anderen gleicht. Sie liest gerne gute, philosophische Bücher, möchte tief in diese eintauchen.
Die ersten Einträge lesen sich wie die eines jungen Mädchens. Sie ärgert sich über Freunde oder Bekannte, geht zum Fotografen, um Bilder von sich machen zu lassen. Sie denkt über ihr Aussehen nach. Hält sich für hübsch, aber auf Bildern schaut sie hässlich aus.
Und plötzlich fragt man sich, ob dies noch dasselbe Mädchen ist, die hier schreibt:
Ich bin schon derart "vollgesogen" von den Gräueln des Krieges, dass die schlimmsten Nachrichten keinerlei Eindruck auf mich machen [...] Was wird das bloß, lieber Gott. Ach Rutka, jetzt bist du wohl ganz und gar verrückt geworden, du rufst Gott an, so als gäbe es ihn. Der Funken Glaube, den ich einmal besaß, hat sich inzwischen gänzlich verloren, wenn es Gott gäbe, würde er bestimmt nicht erlauben, dass man Menschen bei lebendigem Leib in den Ofen stößt, dass kleinen Kindern mit dem Karabiner der Kopf zertrümmert wird oder dass man sie in einen Sack stopft und vergast...
Rutka scheint hin und her gerissen. Sie macht sich Gedanken über ihren ersten Kuss, den sie noch nicht erhalten hat. Über Gefühle, die sie nicht näher beschreiben kann. Halt wie ein juunges Mädchen. Dann wieder, wenn sie über die Gräuel des Ghettos berichtet, klingt sie abgeklärt, wie eine Erwachsene. Sie möchte arbeiten.
Kommunistin sein und nicht arbeiten, das passt nicht zusammen.
Wer die polnische Sprache beherrscht, kann Rutkas Tagebuch auch im Original lesen, denn die Seiten sind in diesem Buch mit abgebildet.
Ich höre von immer mehr Menschen: Es ist genug, ich kann nichts mehr hören, lesen oder sehen vom 2. Weltkrieg. Es ist doch schon so lange her.
Miriam Pressler bringt es in ihrem Nachwort auf den Punkt:
Sechs Millionen ermordeter Juden ist eine abstrakte Zahl, so kalt und distanziert wie eine statistische Aufzählung, und je öfter man sie hört, umso geringer wird das Erschrecken. Dabei ist es dieses Erschrecken, das wir unbedingt brauchen, damit wir lernen, Gefahren rechtzeitig zu entdecken und beginnenden Fremdenhass im Keim zu ersticken. Wir dürfen Ereignisse, die vielleicht jedes für sich unbedeutend zu sein scheinen, nicht mehr vernachlässigen, wir müssen auch die möglichen Folgen bedenken. Deshalb ist es notwendig, auch ein so kurzes, fragmentarisches Tagebuch eines unbekannten jüdischen Mädchens zu veröffentlichen, das zum Opfer von Ausgrenzung und Verfolgung wurde.
Miriam Pressler bringt uns Rutka in ihrem Nachwort noch einmal ganz nahe. Und wie Miriam Pressler, wünsche auch ich diesem Büchlein noch sehr, sehr viele Leser. Damit nichts vergessen wird. Damit wir uns immer erinnern.