Quelle: Pixabay/TanteTati |
Wikipedia sagt: "Eine Literaturverfilmung, von der Literatur detaillierter als Filmadaption betrachtet, ist die Umsetzung einer literarischen Vorlage im Medium Film."
Zuerst kommt also der Roman und danach der Film. Der deutsche Regisseur und Schriftsteller Chris Kraus zäumt das Pferd jedoch scheinbar gern von hinten auf: erst der Film und dann der Roman. Sein erster Film "Scherbentanz" kam 2002 in die Kinos. Erst ein Jahr später veröffentlichte Chris Kraus den gleichnamigen Roman.
Protagonist und Ich-Erzähler dieses Romans ist Jesko, Anfang 30, Spross der deutschen Zementfabrikanten-Familie Solm, baltische Wurzeln, Mode-Designer mit Hang zum Tragen von Männerröcken, ein Zyniker wie er im Buche steht, das schwarze Schaf der Familie und todkrank.
Jesko hat nicht mehr lange zu leben, bestenfalls sind es noch Monate. Denn eine Krebserkrankung hat ihm einen Strich durch seine Zukunftspläne gemacht. Die bisherigen Therapieversuche sind gescheitert, eventuell könnte noch die Knochenmarkspende eines Verwandten sein Leben verlängern. Familie hat er reichlich, aber keiner scheint in das nötige Knochenmarkprofil zu passen.
"'Ein Meter achtzig. Ungefähr siebzig Kilo. Dünn. Schmächtig. Leukämie. Anfang dreißig. Hat Angst, dass sich die ganze Welt, wenn er die Deckung auch nur für eine Sekunde aufgibt, in ein Chaos verwandelt. Trägt Röcke. Aus Wut vielleicht. Von Beruf Schneider. Wäre lieber Coco Chanel oder so. ... Hält nette kleine Beobachtungen für das einzig Wichtige im Leben. Legt sich mit allen an, die anderer Ansicht sind. ...'"
Die Hoffnung von Jeskos Familie lastet nun auf Käthe, Jeskos Mutter. Die Sache hat nur einen Haken: Käthe ist seit Jahren von dem Familienpatriarchen Gebhard, der Jeskos Vater ist, geschieden. Zudem ist sie geistig nicht ganz auf der Höhe, weshalb ihr Verhalten unberechenbar ist und sie äußerst aggressiv werden lässt. Insbesondere Ex-Mann und Familienoberhaupt Gebhard musste schon einiges einstecken. Auch Jesko und sein älterer Bruder Ansgar hatten in ihrer Kindheit unter den Ausbrüchen von Käthe zu leiden, was nun die Entscheidung für Jesko, die Hilfe von Käthe in Anspruch zu nehmen, nicht einfach macht. Am Ende siegen Jeskos Lebenswille sowie Geld und Einfluss der wohlhabenden Familie, um Käthe auf dem Anwesen der Familie Solm einzuquartieren. Auch Jesko wird für die nächsten Wochen hier wohnen. Schließlich gilt es zu prüfen, ob Käthe überhaupt als Knochenmarkspender geeignet ist. In dieser Zeit des Wartens passiert so einiges in dieser Familie. Der Leser lernt nach und nach die einzelnen Familienmitglieder kennen und solche, die es werden wollen. Dabei stellt sich heraus, dass es Geheimnisse in dieser Familie gibt, über die man nicht sprechen möchte.
"Das Gehirn meiner Mutter ist einen anderen Weg gegangen. Es hat sich aus einen vielversprechenden mentalen Hyperzyklus in pure Materie zurückverwandelt, in ein heißes, klebriges Stück Teer, aus dem es kein Entrinnen gab für die wenigen Gedanken, die noch hinauswollten."
"Scherbentanz" ist Kopfkino pur. Denn man merkt diesem Roman an, dass hier ein Filmemacher am Werk war. Ich habe selten einen Roman gelesen, der dermaßen präzise Bilder vor dem geistigen Auge entstehen lässt. Die Geschichte birgt natürlich sehr viel Potenzial für eine Verfilmung: eine verkorkste und reiche Familie, die von ihren Geheimnissen aus der Vergangenheit eingeholt wird, schräge Charaktere, Emotionen, bissiger Humor und Tragik.
Die Charaktere in diesem Roman sind gewöhnungsbedürftig, teilweise sogar klischeehaft, was ich jedoch mochte, da die Klischees sehr originell rübergebracht werden. Der Protagonist und Ich-Erzähler Jesko ist natürlich besonders, da er sich im Verlauf der Handlung von einem todgeweihten, zynischen Ekel zu einem Charakter entwickelt, der sensibel und verletzlich ist, und völlig andere Seiten von sich zeigt, als man es ihm anfangs zugetraut hätte.
So schräg die Charaktere in "Scherbentanz" sind, so geradlinig ist der Sprachstil in diesem Roman. Ich mag es, wenn ein Autor nicht lange palavern muss, um Bilder in meinem Kopf entstehen zu lassen. Hier sitzt jeder Satz. Chris Kraus gelingt es, mit wenigen Worten, aber viel Wortwitz das Kopfkino zum Laufen zu bringen. Der schwarze Humor, der dem Leser dabei begegnet, trägt zur Unterhaltung bei. Dennoch verliert dieser Roman nie seine Ernsthaftigkeit.
Schön sind auch die Überraschungen in diesem Buch, welche häufig klitzekleine Momente sind (bspw. in einem Nebensatz), die jedoch einen umso größeren Effekt auf die Handlung haben. Das sorgt für Spannung, so dass in diesem Buch immer etwas los ist.
Fazit:
Eine schräge Geschichte mit schrägen Charakteren in einer geradlinigen Sprache erzählt. Ein unglaublich guter Roman!
© Renie