Der Ohrwurm "Ein Lied geht um die Welt" ist bereits über 80 Jahre alt. Der damalige Interpret dieses Liedes war ein "kleiner Mann, ganz groß": Joseph Schmidt, ein begnadeter Sänger in den 30er Jahren, der mit seiner Stimme die ganze Welt begeisterte. Und davon nicht nur die Frauenwelt, aber diese besonders.
Doch Joseph Schmidt hatte für die damalige Zeit einen Makel. Das war nicht seine geringe Körpergröße von 1,54 m - auch wenn dies selbst sein Selbstwertgefühl beeinträchtigte -, sondern Schmidt gehörte der falschen Religion an. Joseph Schmidt war Jude. Und so groß war die anfängliche Begeisterung der Nationalsozialisten für den Sänger dann doch nicht. Denn Josef Schmidt sollte - Promi-Status hin oder her - wie jeder andere Jude behandelt werden, sprich "Endlösung".
Es hat lange gedauert, bis Joseph Schmidt erkannt hat, dass seine einzigartige Stimme und seine Berühmtheit keinen Schutz vor Verfolgung boten. Im letzten Moment entschloss er sich zur Flucht aus Deutschland, besser noch aus Europa. Nachdem ihm die Ausreise von Frankreich nach Übersee verwehrt wurde - er hatte mit seiner Entscheidung zur Flucht zu lange gezögert - suchte er Schutz in der neutralen Schweiz.
"Hitlers Krieg verschlang alles, er hatte auch ihn schon verschlungen, seine Kräfte aufgezehrt, und die Nazis würden nicht ruhen, bis er, der Jude, endlich schwieg."
Quelle: Diogenes |
Lukas Hartmann erzählt in seinem Roman "Der Sänger" die Geschichte der Odyssee von Joseph Schmidt. Auch wenn er sich dabei auf den Sänger konzentriert und anhand von Josephs Träumen und Erinnerungsfragmenten ein Bild des Tenors zeichnet, steht am Ende doch das Flüchtlingsthema im Fokus. Denn es gibt erschreckende Parallelen zwischen dem Umgang mit Flüchtlingen damals wie heute.
Der Autor zeichnet dabei kein verklärtes Bild des Ausnahmemusikers. Ganz im Gegenteil. Joseph Schmidt zeigt gerade zu Beginn des Romans viele Facetten, die bei mir auf Ablehnung stießen. Er war ein schwächlicher Mensch, der in anderen Sphären zu leben schien. Er war nicht für die Realität gemacht, schien auch nicht alltagstauglich zu sein. Er benötigte Menschen, die sich um ihn kümmerten und ihm die lästigen Dinge des Alltags abnahmen. Dies waren insbesondere Frauen. Denn sein Ruhm und sein Schmalz in der Stimme machten sexy. Da schaute frau auch großzügig über seine geringe Körpergröße hinweg. Josephs Frauenverschleiß war nicht ohne. Pech, wenn eine von ihm ein Kind bekam. Aber dies war kein Problem, das sich nicht mit Geld lösen ließ. Davon abgesehen, dass Joseph menschlich nicht fähig gewesen wäre, die Vaterrolle zu übernehmen. Denn er war kaum in der Lage, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.
"Er war ja nicht bloß Sänger, sondern, wenn es sein musste, auch Schauspieler. Nicht auf der Bühne, die seine Kleinheit verriet, aber im Film, wo man das Publikum mit Tricks täuschen konnte, und im wirklichen Leben, wo er zu viele Frauen, die an seiner Berühmtheit teilhaben wollten, im Stich gelassen hatte."
Dieser Roman heißt nicht umsonst "Der Sänger". Denn Joseph Schmidt war Musik und lebte Musik. Sein Denken wurde von Musik bestimmt. Alles andere trat in den Hintergrund. Umso verstörender war es für Joseph, als er in die grausame Realität gezwungen wurde und feststellen musste, dass ihm seine Stimme und seine Musik nicht helfen konnten. Ganz im Gegenteil, der Promi-Status wurde von denjenigen, die über seine Rettung in der Schweiz entscheiden sollten, als Makel betrachtet. Die neutrale Schweiz machte keinen Unterschied zwischen prominentem Juden und "Otto Normal" Juden. Nicht zuletzt wollte die Schweiz sich ein Hintertürchen offenhalten, sollten die Deutschen doch einen Weg über die Alpen finden.
Bis zu diesem Zeitpunkt bin ich mit diesem Roman nicht warm geworden. Denn die Charaktereigenschaften, die Joseph Schmidt zugeschrieben werden, sind bei mir auf Ablehnung gestoßen. Doch Lukas Hartmann hat seinen Protagonisten Schmidt eine erstaunliche Entwicklung durchlaufen lassen. Auf einmal wird aus dem Ausnahmesänger ein armer kranker Flüchtling, der in erbärmlichen Verhältnissen in einem Schweizer Übergangslager leben muss.
"'Ich weiß nicht, ob ich noch an die Musik glauben soll. Sie war mein Leben, ihr habe ich alles untergeordnet. Wer lässt denn all das Üble zu, das uns zu wehrlosen Opfern macht?'"
Joseph Schmidt verliert im Verlauf der Handlung seine Identität. Nicht nur diejenigen, die über sein Leben und seine Zukunft entscheiden, sprechen ihm diese ab. Nein, auch "Der Sänger" gibt sich auf und sieht sich selbst nur noch als Flüchtling. Zwischendurch blitzen noch kleine Hoffnungsgedanken an eine Rückkehr zu seinem alten Leben auf. Doch Josef Schmidt scheint zu verlöschen.
Damit hat Lukas Hartmann einen Nerv bei mir getroffen, der mich zum Innehalten und Nachdenken gebracht hat. Joseph Schmidts Entwicklung vom Individuum zum Flüchtling steht stellvertretend für Menschen, die heutzutage auf der Flucht sind. Sie sind gezwungen ihr altes Leben hinter sich zu lassen, von dem auch kaum jemanden interessiert, wie dieses Leben ausgesehen hat. Stattdessen mutieren sie zu einer fremden Spezies... der Spezies "Flüchtling".
Man kann diesen Roman natürlich mit viel verklärter Nostalgie-Romantik betrachten. Für viele wird dies wahrscheinlich auch der Grund sein, dieses Buch zu lesen. Joseph Schmidts vergangener Promi-Status zieht immer noch beim Leser. Aber viel wichtiger ist für mich die Entwicklung dieses Romans: von einem biografischen Roman über einen prominenten Sänger hin zu einem zeitkritischen Roman, der die Flüchtlingsthematik in der Schweiz und natürlich Deutschland und sonst wo, eindringlich zur Sprache bringt.
Leseempfehlung!
© Renie