Sonntag, 17. Februar 2019

Dörte Hansen: Mittagsstunde

Quelle: Pixabay/Alexas_Fotos
"Niemand konnte leiser essen und Treppen geräuschloser hinaufschleichen als Kinder, die in Nordfriesland aufgewachsen waren. Wenn es etwas gab, was den Menschen hier oben heilig war, dann war es ihre Mittagsstunde."
In Dörte Hansens Roman „Mittagsstunde“ ist gleichnamige Errungenschaft der Zivilisation ein wichtiger Aspekt des Landlebens. Wir befinden uns in Geestdorf Brinkebüll, Nordfriesland. 
Dieser Ort vermittelt jenes Landleben, welches es in den letzten Jahrzehnten in so vielen Landstrichen in Deutschland existiert hat. In Brinkebüll herrschen eigene Gesetze des Miteinanders, an die sich alle halten, ob sie wollen oder nicht. Gerade in den 60ern und 70ern war es schwer, sich gegen die Eigendynamik des Dorflebens zur Wehr zu setzen. Entweder man fügte sich oder wurde wie eine Persona non grata behandelt.
Die Bewohner von Brinkebüll lieben und hassen sich. Hier wird getratscht, was das Zeug hält, selbstverständlich hinter vorgehaltener Hand. Schließlich weiß man, was sich gehört. Hier finden sich sämtliche Aspekte eines Zusammenlebens: Nettigkeit, Neid, Missgunst, Hilfsbereitschaft, Ablehnung.
Quelle: Randomhouse/Penguin
"Man kam mit vielen Dingen durch in Brinkebüll. Man konnte seine Kinder schlagen, die Frauen seiner Nachbarn schwängern oder das Vieh im Stall verkommen lassen. Es kamen trotzdem alle, wenn sie eingeladen wurden. Aßen, tranken, tanzten, schunkelten."
Was wäre ein Dorf ohne seinen Mittelpunkt. Nicht in seltenen Fällen war dies die Dorfkneipe. So auch in Dörte Hansens Roman. Der "alte Dorfkrug" ist der Dreh- und Angelpunkt ihrer Geschichte.
Betrieben wird die Kneipe von Sönke und Ella. Tochter Marrit hilft mit, wie es ihr gefällt. Und gefallen tut es ihr nicht in dem Maße, wie Sönke und Ella sich dies erhoffen. Denn Marrit ist in ihrer Entwicklung zurückgeblieben. Sie lebt in ihrer eigenen gedanklichen Welt und lässt nur selten zu, dass andere daran Anteil nehmen. Einer, der zuviel Anteil daran nahm, war irgendein Vermesser, der in Sachen „Flurbereinigung“ (ein Fluch, der viele Landstriche seinerzeit in Deutschland traf) in Brinkebüll verweilte. Neun Monate später bringt Marrit einen Jungen zur Welt: Ingwer. Aufgrund ihrer geistigen Situation ist sie nicht in der Lage, sich um ihren Sohn zu kümmern. Sönke und Ella ziehen ihren Enkel groß.

Die Handlung verläuft auf unterschiedlichen Zeitebenen. Einerseits lernen wir die Vergangenheit von Ingwer und dessen Angehörigen in Rückblenden kennen. Und andererseits erleben wir Ingwer als Erwachsenen um die 50, wie er seine gebrechlichen und alten Großeltern in Brinkebüll unterstützt. Sein Lebensmittelpunkt hat sich mittlerweile in die Stadt verlagert. Er lebt seit 25 Jahren in Kiel in einer Dreier-WG. Nach dem Abitur hat er ein Archäologie-Studium begonnen – sehr zum Unverständnis von Sönke, für den es selbstverständlich war, dass sein Enkel die Gaststätte übernehmen wird. Doch Ingwer ist mittlerweile Hochschullehrer in Kiel. Zeitlebens hat er seine Herkunft als Makel empfunden. Umso verwunderlicher ist es, dass er nach Jahrzehnten in der Stadt an einem Punkt angelangt ist, wo er sein Leben, wie es bisher verlaufen ist, in Frage stellt. Er entschließt sich zu einem Sabbatjahr, das er in Brinkebüll zur Unterstützung seiner Großeltern verbringen wird.
"Er wollte es. Er holte sich hier etwas ab, was ihm noch fehlte. Einen Nachschlag Brinkebüll. Er fand Dinge wieder, die er noch gebrauchen konnte, manches hatte er schon fast vergessen. Die Gerüche und Geräusche dieses Hauses. Das Gefühl für dieses Dorf, das viel mehr von ihm wusste als er selbst."
Der Leser begleitet Ingwer und die Seinen während dieses Jahres. Dörte Hansen lässt dabei immer wieder Erinnerungen an die Vergangenheit des Dorfes und seiner Einwohner einfließen. So macht sich der Leser ein Bild über die einzelnen Charaktere: Wortkarg, kühl, unnahbar und stur, mit einem Hang zum Skurillem. Und gerade diese Skurriliät macht die Charaktere wieder sympatisch.

Wortkargheit macht auch vor der Ehe nicht halt, wie Ingwers Großeltern beweisen. Sie sind seit 70 Jahren verheiratet und hatten sich nie viel zu sagen. Sie sind sich scheinbar fremd, leben halt zusammen. Damals galt eine Ehe noch als Bund fürs Leben. Es gibt nur ganz wenige Momente, die verdeutlichen, dass irgendwo doch ein kleines bisschen Liebe  und enge Verbundenheit zwischen den beiden vorhanden ist. So selten diese Momente auch sind, strahlen sie doch eine große Wärme aus.

Das Dorfleben ändert sich mit den Jahren. In dem einstigen Idyll schleicht sich der Fortschritt ein, angefangen mit besagter Flurbereinigung in den 60er Jahren, bei der viele kleine Gemeinden auf der Strecke geblieben sind.
Trotz aller Traurigkeit über die Veränderungen auf dem Land begleiten den Leser Erinnerungen an die eigene Kindheit, was eigentlich merkwürdig ist. Denn nicht jeder Leser ist auf dem Land groß geworden. Aber es gibt nun mal im Brinkebüller Dorfleben Verhaltensmuster, die auch früher in Städten zu finden waren. Das sind Kleinigkeiten des Alltags, so z. B. das Grüßen auf der Straße, der Sonntagsfrühschoppen, den Gästen gekauften Kuchen vorzusetzen ist verpönt und natürlich besagte Mittagsstunde, in der die Mittagsruhe einzuhalten ist. 

Fazit
Die Entwicklung des Dorfes über die Jahre wird von Dörte Hansen grandios dargestellt, von der Idylle, über die Folgen des Fortschritts bis hin zur heutigen Tendenz "Zurück zur Natur und dem Natürlichen". Selbstverständlich habe ich aufgrund meiner eigenen Erinnerungen vieles durch die rosa-rote Brille betrachtet und dadurch den vermittelten Wohlfühlfaktor sehr genossen.
Denn Dörte Hansen schildert das Dorfleben liebevoll, aber ehrlich, mit all seinen Sonnen- und Schattenseiten. Dabei verwendet sie einen Sprachstil, der kaum zu beschreiben großartig ist. Sie lässt wunderschöne und berührende Bilder im Kopf entstehen, die einen auf eine faszinierende Lesereise mitnehmen.
Leseempfehlung!

© Renie