Freitag, 11. Januar 2019

Silke Knäpper: Das Lieben der Anderen

Quelle: Pixabay/jarmoluk
Dieser eine Buchstabe, der den Unterschied macht, kann kein Zufall sein. "Das Leben der Anderen" - wer denkt nicht an den deutschen Spielfilm aus 2006, wenn er den Titel des Romans von Silke Knäpper liest: "Das Lieben der Anderen"
Wie im Film geht es in diesem Roman um Überwachung, Kontrolle und einen unfassbaren Eingriff in die Privatsphäre.
Das wäre aber auch schon die einzige Gemeinsamkeit. Denn die Person, die sich in Silke Knäppers Roman anmaßt, das Leben eines Anderen zu kontrollieren, tut dies nicht, weil sie, von wem auch immer, dazu aufgefordert wurde und dafür bezahlt wird, sondern weil sie von einer fixen Idee besessen ist.
Quelle: Klöpfer und Meyer
"Das Leben der anderen war erfüllt, dachte Helen, und aufregend. Bunt. Nicht so blass wie ihr eigenes Dasein, das ihrem schmächtigen Körper glich, so hager und androgyn, unweiblich, flachbrüstig, ohne Höhen und Tiefen."
Helen ist Durchschnitt: Sie hat ein durchschnittliches Aussehen, lebt ein durchschnittliches Leben, ist unsichtbar. Sie wird von Anderen nicht wahrgenommen. Ihr bisher einziger Lebensgefährte hat sie vor Jahren verlassen. Freunde hat sie keine. Sie arbeitet als Erzieherin in einem Kindergarten - von irgendetwas muss der Mensch schließlich leben. Es gibt nichts, was ihr Leben besonders macht. Da wird sie eines Tages Zeugin eines Selbstmordes, bleibt aber dabei anonym. Claire, eine Frau aus der Nachbarschaft, die alles hat, was Helen nicht hat, bringt sich um. Und von einem Moment auf den anderen, schlüpft Helen in die Rolle der Toten. Wie das geht? Unauffällig und zunächst subtil. Keiner findet heraus, dass Helen den Haustürschlüssel von Claire an sich genommen hat. Sie stöbert in Claires Leben herum und redet sich mit der Zeit ein, dass sie einen Anspruch auf deren Leben hat, inklusive Lebenspartner Simon, der als Psychotherapeut eine eigene Praxis betreibt. Anfangs versucht Helen, Simon als Patientin zu erobern. Dieser hat zwar während seiner Ehe mit Claire bei anderen Frauen nichts anbrennen lassen. Helen hält er jedoch auf Distanz. Warum sollte er sich auch auf sie einlassen. Sein Ehrenkodex als Therapeut verbietet es ihm. Außerdem ist sie nicht sein Typ. Doch irgendetwas hat sie an sich ...
"Aber irgendetwas beunruhigte ihn an dieser Patientin. ... Er suchte nach Worten, um die seltsame Anziehung zu umschreiben, die Helen auf ihn ausübte. Ungreifbar, ätherisch, androgyn. Kontrolliert, auch das. Dabei ängstlich-nervös und zart. Sie hatte etwas Klirrendes an sich, etwas Zerbrechlich-Kaltes."
Silke Knäpper lässt die Handlung aus 2 Perspektiven ablaufen. Zum Einen kommt man in den Genuss der verqueren und irrationalen Sichtweise von Helen, die sich immer mehr in das fremde Leben und die (nicht vorhandene) Beziehung zu Simon hineinsteigert. Dem gegenüber steht die Rationalität von Simon, die im Verlauf der Handlung in Hilflosigkeit und Verzweiflung mündet. Auch wenn man sein notorisches Fremdgehen während seiner Ehe nicht gut heißen kann, bleibt er doch das Stalking-Opfer einer Verrückten.

Silke Knäppers Roman hat das Potenzial zu einem Psychothriller. Der Roman ist zwar in keiner Weise reißerisch, doch trotzdem herrscht eine Spannung, die es in sich hat. Die Darstellung der Entwicklung von Helen ist bemerkenswert. Vom anfänglichen Durchschnitts-Mauerblümchen zur selbstbewussten, aber verblendeten und fanatischen  Frau. Dieses Selbstbewusstsein besitzt sie jedoch nur, weil sie in die Rolle und das Leben einer Toten geschlüpft ist. Man wird erstaunt sein, zu welchen Gedankengängen die besessene Helen fähig ist, um Simon zu erobern. Man wird aber genauso erstaunt sein, zu welchen Rachehandlungen sie fähig ist, sobald sie erkennt, dass Simon, das Objekt ihrer Begierde, partout nicht zu ihrem Glück zu zwingen ist.

"Das Lieben der Anderen" ist ein spannender Roman über ein Thema, das jeden treffen kann, ob man möchte oder nicht.
Leseempfehlung!

© Renie