Montag, 13. August 2018

Erich Hackl: Am Seil

Quelle: Pixabay/Pexels
Es gibt da diese Bücher, die klein und unscheinbar daher kommen, sich aber als literarische Naturgewalt erweisen. "Am Seil" von Erich Hackl ist solch ein Buch. Man wundert sich, dass in gerade mal 117 Seiten soviel Inhalt und Aussagekraft steckt.
Erich Hackl ist ein Autor, der sich Geschichten erzählen lässt - wahre Geschichten. Die Geschichtenerzähler sind in ihrem Leben durch ein besonderes Ereignis geprägt worden. Erich Hackl führt Gespräche mit diesen Menschen, interviewt sie. Und am Ende schreibt er ein Buch über diese besondere Geschichte. So auch in dem vorliegenden: "Am Seil".
Der Mensch, der sich erinnert ist Lucia Heilmann, Jüdin, die ihre Kindheit während der  Nazizeit in Wien verbracht hat. Sie ist mit dem Leben davongekommen. Genau wie ihre Mutter Regina. Wenn Reinhold Duschka nicht gewesen wäre, hätten Mutter und Tochter das gleiche Schicksal erlitten wie Millionen andere Juden, die dem Naziterror zum Opfer gefallen sind.
"..., daß Regina und Lucia auf Reinholds Gegenwart und auf seine Gesundheit angewiesen waren. Stieß ihm etwas zu, waren sie verloren. Regina kannte niemanden, der sie dann bei sich aufgenommen oder anderswo untergebracht hätte, ..."
Quelle: Diogenes

Wer war Reinhold Duschka?

Niemand besonderes. Ein Jedermann, Kunsthandwerker in Wien, passionierter Bergsteiger, lose befreundet mit Regina. Ein Merkmal zeichnet ihn besonders aus: er ist selbstlos. Als Regina eines Tages auf der Flucht vor den Nazis mit ihrer kleinen Tochter Lucia bei ihm vor der Tür steht, gewährt er ihnen ohne zu zögern Schutz. Er versteckt sie über einen Zeitraum von 4 Jahren in seiner Werkstatt. Sie leben auf engem Raum. Reinhold kümmert sich fast 24 Stunden am Tag um die beiden. Ständig droht die Gefahr, von den Nazis entdeckt zu werden. Reinhold geht das Risiko ein.
"'Es war für Dich selbstverständlich und gar nicht erwähnenswert, daß du in einer Zeit der Unmenschlichkeit Deinen Anspruch als Mensch gelebt hast...'" (S. 101)
Die Geschichte, die Erich Hackl hier nacherzählt, basiert auf den Erinnerungen an eine Zeit, die Lucia als Kind erlebt hat. Dementsprechend spiegelt sich hier die Sichtweise eines Kindes wieder, d. h. die Ereignisse, wie Lucia sie als Kind wahrgenommen hat. Reinhold war ihr Held. Liebevoll versuchte er Lucia trotz der angespannten Situation bei Laune zu halten.
Erfahrungsgemäß gibt es Lücken in der Erinnerung eines Kindes. Diese Lücken macht Erich Hackl kenntlich. Er und Lucia stellen in ihren Gesprächen Vermutungen an, die aber auch als solche deutlich werden.
Der Schreibstil gibt den Interviewcharakter wieder, wirkt häufig sehr nüchtern. Doch Hackl gelingt das Kunststück, trotz aller Nüchternheit eine große Emotionalität beim Leser hervorzurufen. Das ist ganz großes Erzählkino.

Fazit:
Ein kleine, grandios erzählte Geschichte, mit ganz viel wichtigem Inhalt, über einen stillen unscheinbaren Helden, der mit seiner Selbstlosigkeit und Zivilcourage, damals wie heute ein Vorbild ist. Leseempfehlung!

© Renie




Über den Autor:
Erich Hackl, geboren 1954 in Steyr, hat Germanistik und Hispanistik studiert und einige Jahre lang als Lehrer und Lektor gearbeitet. Seit langem lebt er als freier Schriftsteller in Wien und Madrid. Seinen Erzählungen, die in 25 Sprachen übersetzt wurden, liegen authentische Fälle zugrunde. ›Auroras Anlaß‹ und ›Abschied von Sidonie‹ sind Schullektüre. Unter anderem wurde er 2017 mit dem Menschenrechtspreis des Landes Oberösterreich ausgezeichnet. (Quelle: Diogenes)