Mittwoch, 15. April 2020

Antonio Moresco: Das kleine Licht

Quelle: Pixabay/Sonyuser

Ich kenne niemanden, der die Geschichte "Der kleine Prinz" von Antoine de St. Exupéry nicht mag. Spätestens bei dem Satz "Zeichne mir ein Schaf" bekommen die meisten einen verklärten Gesichtsausdruck vor lauter Rührung. Daher sind Titel und Buchbeschreibung von Antonio Morescos Roman "Das kleine Licht" für mich ein echter Marketing-Coup. Denn jedem, der von "Der kleine Prinz" angefixt wurde, wird auch dieses Buch ins Auge stechen. Titel und Buchbeschreibung sorgen dafür.
In "Das kleine Licht" lebt ein namenloser Ich-Erzähler in völliger Einsamkeit in einem verlassenen Bergdorf. Nachts beobachtet er auf der anderen Seite des Tals ein einzelnes Licht, dass jede Nacht zur selben Zeit angeht und die ganze Nacht brennt. Tagsüber erkennt der Mann auf die Entfernung, dass das Licht aus einer einzelnen Hütte inmitten der Wälder am gegenüberliegenden Berghang kommen muss. Den Mann, der die Einsamkeit gesucht und nicht erwartet hat, dass außer ihm menschliches Leben in den Bergwäldern existiert, lässt das Geheimnis um das Licht nicht los. Irgendwann macht er sich auf den Weg zu dieser Hütte. Er findet einen kleinen Jungen, der hier allein lebt und jede Nacht dieses Licht anzündet.
"Kein einziges Anzeichen menschlichen Lebens.
Erst als das Dunkel noch dicher wird und die ersten Sterne hell werden, scheint auf der anderen Seite der engen, steil abfallenden Schlucht auf einem flacheren, wie ein Sattel mitten in die Wälder eingegrabenen Stück des Bergzugs gegenüber jede Nacht, jede Nacht und immer zur gleichen Zeit unversehens ein kleines Licht auf."
An dieser Stelle endet jedoch die Ähnlichkeit zu "Der kleine Prinz". Denn ein Autor eines Kalibers von Antonio Moresco schreibt nun mal keinen Abklatsch. Und das ist gut so.

Der Roman erinnert an eine Dystopie. Wir erleben Zerstörung und Verfall. Die Orte sind verlassen, die Natur holt sich ihren Platz zurück. Die wenigen Menschen, mit denen der Ich-Erzähler in Berührung kommt, sind verwahrlost und scheinen ums Überleben zu kämpfen. Die Landschaft wird von Erdstößen heimgesucht. Unzählige Fragen tauchen auf, auf die es keine Antwort gibt: wer ist der Ich-Erzähler? Warum lebt er hier? Was ist die Ursache für den Verfall seiner Umgebung?
Und natürlich stellt sich die Frage, wie der kleine Junge in die einsame Hütte gekommen ist, ob sich jemand um ihn kümmert, und wie er allein zurechtkommt.

Gemeinsam mit dem Ich-Erzähler begibt man sich auf die Suche nach Antworten. Und dabei zieht man gedankliche Kreise, die sich zunächst um den kleinen Jungen in seiner Hütte drehen, aber dann immer größer werden und sich schließlich mit dem menschlichen Sein auseinandersetzen. Nun muss man wissen, dass der Autor in seiner Heimat und darüber hinaus bekannt dafür ist, sich in seinen Büchern, mit existenziellen Fragen zu beschäftigen. In "Das kleine Licht" thematisiert er den Kreislauf des Lebens, wobei Moresco die Grenzen zwischen Leben und Tod verschwimmen lässt. Das hört sich kompliziert, vielleicht abgehoben an. Aber wenn man Moresco liest, muss man sich darüber im Klaren sein, dass der Autor seine Leser zu gedanklichen Höchstleistungen herausfordert. Versüßt wird der gedankliche Kraftakt durch Morescos mikroskopische Sprache. Dabei lässt er Bilder entstehen, die an Präzision nicht zu überbieten sind und tatsächlich an einen Blick durch ein Vergrößerungsglas erinnern.
"Unentwegt sterben sie und entstehen sie neu und sterben sie wieder, jedes Ding in seinem eigenen Kreis des erschaffenen Schmerzes. Ihre Pflanzenzellen fahren fort, schweigend und verzweifelt zu kämpfen und sich zu vermehren und sich zu vervielfältigen, und so werden sie es weiterhin tun, auch wenn es die Menschen nicht mehr geben wird, wenn sie vom Angesicht dieses kleinen, in den Galaxien verlorenen Planeten verschwunden sein werden, es wird nur noch diese Drangsal der Zellen geben, die kämpfen und sich fortpflanzen, solange noch ein wenig Licht von unserem kleinen Stern ausgehen wird." 
Fazit:
Es ist nicht einfach, diesen Roman zu beschreiben. Die Geschichte wird mich durch ihre Rätselhaftigkeit noch eine Weile beschäftigen. Am Ende schwanke ich zwischen Ratlosigkeit und Faszination über die Einzigartigkeit dieser Geschichte. Denn eines ist sicher. Etwas Vergleichbares habe ich bisher noch nicht gelesen.

© Renie


Freitag, 10. April 2020

Christopher Kloeble: Das Museum der Welt

Quelle: Pixabay/Devanath

Der Roman „Das Museum der Welt“ von Christopher Kloeble kommt in einer bescheidenen Aufmachung daher: ein Buchumschlag mit einer schwarz-weißen Illustration, die Schrift auf dem Umschlag in braun und schwarz gehalten. Die Illustration erweist sich bei genauem Hinsehen als Gesicht eines Tigers. Das macht Sinn. Denn schließlich weiß ich, wo die Reise in diesem Buch hingeht - nach Indien. Und der Tiger gilt als das Nationaltier Indiens. Doch darüber hinaus gibt es keinen Hinweis auf das, was mich in diesem Roman erwarten wird: eine Farbexplosion an Eindrücken über eine Forschungsreise (1854 bis 1857) durch Indien, erzählt von einem Kind.
"Wenn man sich tatsächlich zwischen Wahrheit und Schönheit entscheiden muss, was spricht dann eigentlich gegen die Schönheit?"
Es ist die Geschichte des Waisenjungen Bartholomäus, Ich-Erzähler dieses Romans, der zu Beginn der Handlung mindestens 12 Jahre alt ist und in einem Waisenhaus in Bombay aufwächst. Das Heim wird von deutschen Priestern geführt. Einer davon ist Vater Fuchs, der Bartholomäus unter seine Fittiche nimmt. Der Junge ist sprachbegabt. Neben seiner Muttersprache und diversen indischen Dialekten spricht er Deutsch (Vater Fuchs sei Dank) und Englisch.
Zu dieser Zeit hat Großbritannien den indischen Subkontinent kolonialisiert. Dieses gigantische Land ist ein gefundenes Fressen für die britischen Kolonialherren, allen voran die East India Company, die zu diesem Zeitpunkt bereits seit über 200 Jahren Handel, Verwaltung und Militär in Indien kontrolliert. Natürlich alles im Namen der britischen Krone.
Im Auftrag der East India Company sollen die deutschen Forscherbrüder Schlagintweit eine Expedition zusammenstellen und den indischen Subkontinent bis in den letzten Winkel (und darüber hinaus) erforschen.
Und hier kommt Bartholomäus ins Spiel, der die Expedition als Übersetzer begleiten soll.

Die Expedition wird insgesamt 3 Jahre dauern. Von den 3 Brüdern Schlagintweit werden nur 2 lebend nach Europa zurückkehren.(Dies ist keine Spoilerei. Denn die Brüder Schlagintweits hat es wirklich gegeben. Genauso wie die Expedition stattgefunden hat. Und genauso, wie es fast jeden Charakter in diesem Roman tatsächlich gegeben hat. Nur Bartholomäus nicht. Der mindestens 12-Jährige mit den unglaublichen Sprachkenntnissen ist der Fantasie des Autors entsprungen.)
"Ich übersetze nicht nur Worte, sondern auch das Land." 
Bartholomäus berichtet also von den Geschehnissen vor und während der Expedition. Der Roman ist dabei in mehrere Teile gegliedert, angefangen in Bombay (Ausgangspunkt der Expedition). Danach folgen Abschnitte, die analog zu den Etappen der Expedition angelegt sind. 
In dem Ich-Erzähler Bartholomäus erlebe ich einen Protagonisten, der über seine Abenteuer und den Alltag der Expedition mit großer Naivität und Unschuld berichtet. Frei nach dem Motto: "Kindermund tut Wahrheit kund" strahlen seine Erzählungen dabei eine Weisheit aus, die mich in philosophische Betrachtungen versinken lässt.
"Robert sagt, vor ihm ist kaum ein Europäer in dieser Region gewesen. Vielleicht, denke ich mir, hat das ja einen Grund. Muss man denn unbedingt dorthin vordringen, wo noch keiner gewesen ist?"
Man mag diesen Roman als Erlebnisbericht zu der Expedition der Schlagintweits ansehen. Doch für mich steckt sehr viel mehr in diesem Buch. Für mich stehen das Aufeinanderprallen der unterschiedlichen Kulturen sowie der Kolonialismus im Vordergrund, betrachtet von einem Kind, das in seiner Unvoreingenommenheit und Naivität auf die Irrsinnigkeiten des (damaligen) Umgangs miteinander hinweist.

Dem Autor Christopher Kloeble ist mit "Das Museum der Welt" ein großer Wurf gelungen. Sein Roman steckt von der ersten Seite an voller Überraschungen. Mit der Wahl seines Protagonisten Bartholomäus hat sich Kloeble an eine große Aufgabe herangewagt: Als Erwachsener eine Kinderfigur zu gestalten, die zudem einer fremden Kultur angehört und auch noch Deutsch als Fremdsprache spricht, ist eine Herausforderung, die der Autor mit Bravour gemeistert hat. 
Hinzu kommt, dass sich Bartholomäus auf eine sehr spezielle Art ausdrückt. Seine Wortgewandtheit ist erstaunlich. Dennoch gibt es Momente, in denen er mit seiner Wortwahl vom üblichen deutschen Sprachgebrauch abweicht. Das kann sehr lustig sein. Doch viel bemerkenswerter ist, dass durch diesen speziellen Sprachgebrauch Bartholomäus' Gedanken eine Tiefgründigkeit erhalten, die einem erst beim "Stolpern" über diese Ausdrucksweise bewusst wird. Daher "Lesen - Innehalten - Genießen!" Es lohnt sich.

Fazit:
Ein wundervoller Roman. Christopher Kloeble lässt den Leser die koloniale Welt Indiens durch die Augen eines unvoreingenommenen Kindes betrachten. Und man nimmt dem Autoren diese Sichtweise ab. Der historische Bezug zu den Brüdern Schlagintweits und ihrer Expedition bietet dabei einen hochinteressanten Rahmen. Und wem das noch nicht genug ist, kann dieses Buch auch als Spionageroman lesen. Was für eine Wundertüte von einem Buch!
Leseempfehlung!


© Renie




Freitag, 3. April 2020

Helena von Zweigbergk: Totalschaden

Quelle: Pixabay/kolyaeg
"Ich sehe fünf tote Hasen, und ich versuche zu lächeln."
Dies ist der erste Satz des Romans "Totalschaden" der Schwedin Helena von Zweigbergk. Ein Hase ziert auch das Cover dieses Buches. Hasen scheinen hier also eine entscheidende Rolle zu spielen. Zumindest sind sie in "Totalschaden" schuld daran, dass in dem Haus von Agneta und Xavier ein Feuer ausbricht, das für eben diesen Totalschaden sorgt. Das Haus ist nicht mehr bewohnbar. Nun müssen sich Agneta und ihr Mann entscheiden, ob sie das Haus wieder aufbauen oder einen kompletten Neuanfang wollen.
Eigentlich waren auch nicht die Hasen schuld an diesem Totalschaden, sondern Agneta, die in einem Moment der Unachtsamkeit, bei dem Versuch, aus den toten Hasen eine kulinarische Köstlichkeit zuzubereiten, das eigene Heim abgefackelt hat. Und da steht sie nun als diejenige, die ihren Lieben Heim und Elternhaus genommen hat. Und während sie mit ihrem Schicksal hadert und sich in Selbstmitleid und Selbstvorwürfen suhlt, erkennt sie, dass das verbrannte Haus vermutlich nicht der einzige Totalschaden in ihrem Leben sein könnte.
Quelle: Nagel & Kimche
"Mit den Jahren hat unsere Streitlust nachgelassen, und seit die Kinder aus dem Haus sind, brausen wir allenfalls mal kurz auf. Der Gedanke, uns richtig zu streiten, ist schon fast absurd. Wir leben mit der unausgesprochenen Übereinkunft, dass die Zeit unserer Kämpfe vorüber ist. Wir lassen die Dinge kommen und gehen. Es ist ein ruhiger, angenehmer Frieden und eigentlich nichts, was wir infrage stellen wollen."
Agneta und Xavier sind seit über 20 Jahren Jahren verheiratet und Eltern von mittlerweile erwachsenen 3 Töchtern. Die Ehe verlief bisher sehr harmonisch. Denn Routinen und Gewohnheiten bestimmten den Ehealltag und ließen das Zusammenleben entspannt vor sich hindümpeln.
Als Xavier, der 14 Jahre älter als Agneta ist, in den Ruhestand tritt, funktioniert die Harmonie in der Ehe auf einmal nicht mehr. Vielleicht hat sie auch schon vorher nicht mehr funktioniert. Agneta ahnt, dass die bisher von ihr geschätzten Routinen und Gewohnheiten nicht mehr ausreichend sind. Noch will sie es nicht wahrhaben. Durch den Hausbrand wird das Ehepaar jedoch aus seinem bisherigen Alltag gerissen. Agneta und Xavier werden durch dieses einschneidende Erlebnis gezwungen, ihre Ehe und ihr bisheriges Zusammenleben in Frage zu stellen, was für alle - Töchter inbegriffen - schmerzhaft ist.

Helena von Zweigbergk hat diesen Roman aus der Perspektive von Agneta geschrieben. Dabei konzentriert sich die Handlung auf den Zeitpunkt des Brandes und auf die Wochen danach. Der Roman ist in drei Teile gegliedert, welche die Entwicklung von Agneta aufzeigen. Und diese Entwicklung ist extrem: 
- von der anfangs perfekten Agneta, die ihre Energie dahingehend investiert hat, Mutter einer heilen Familie zu sein und für eine Wohlfühlatmosphäre in einem heimeligen Zuhause zu sorgen;
- über die krisenuntaugliche und vor Selbstmitleid zerfließende Heulsuse, die ihre Lieben mit ihren kaum versiegenden Tränenfluten an den Rand des Wahnsinns treibt;
- bis hin zu einer Agneta, die wie Phönix aus der Asche aus diesem Drama wieder aufersteht und ihr Leben selbst in die Hand nimmt, nachdem sie ausreichend ihre Wunden geleckt hat.
"Kann eine Familie funktionieren, ohne dass jemand die Rolle auf sich nimmt, die ich innehatte? Oder verstehe ich am Ende meine eigene Rolle und Bedeutung falsch? Male ich ein sentimentales Bild von mir als Königin unseres Heims, des Reichs der Familie? Bin ich nur noch eine staatenlose königliche Hoheit, die sich selbst und ihrer Umgebung verzweifelt einzureden versucht, dass es irgendwo auch für sie einen Platz gibt?" 
Agneta ist in diesem Roman also extrem wandelbar, was vielleicht in dieser Ausgeprägtheit befremdlich erscheinen mag. Aber außergewöhnliche Situationen bringen außergewöhnliche Eigenschaften in einem Menschen zutage, weshalb man der Autorin die drastische Entwicklung ihrer Protagonistin am Ende abnimmt.

Helena von Zweigbergk erzählt die Geschichte von Agneta und Xavier mit großer Leichtigkeit und Ironie. Diese Ironie wird durch einen Sprachstil, der reich an kuriosen Metaphern ist, verstärkt. Dadurch wird dieser problembehaftete Roman zu einer unterhaltsamen und witzigen Lektüre, die insbesondere für den langjährig verheirateten Leser den einen oder anderen Wiedererkennungsmoment parat hat.

Leseempfehlung!

© Renie

Mittwoch, 11. März 2020

Jonathan Coe: Middle England

Quelle: Pixabay/pixel2013
"'... Manche Leute finden ja, wir sind eine ganze Nation harmloser Spinner.'"
"..., die Hecken am Straßenrand, die Pubs, die Gartenzentren, die Mini-Märkte, also alles, was das moderne England so kennzeichnete."
"'Nostalgie ist die englische Krankheit. ... Die Engländer sind von ihrer verdammten Vergangenheit besessen - und wir haben gesehen, wohin das führt. ...'"
Dies sind die Worte eines Mannes, der es wissen muss. Denn er ist Brite. Manche würden ihn als Nestbeschmutzer bezeichnen, hält er doch mit seinen fast schon gehässigen Äußerungen über seine Landsleute nicht hinter dem Berg. Es geht um Jonathan Coe.
In seine Büchern beschäftigt sich der britische Autor, gern mit den Briten und dessen Alltag. Dabei ist er für seinen gnadenlos bissigen Humor in seiner Heimat berühmt berüchtigt.
Quelle: Folio Verlag

Auch sein aktueller Roman „Middle England“ ist eine Gesellschaftssatire auf das englische Königreich, geschildert am Beispiel von mehreren Protagonisten, die miteinander verwandt, befreundet oder bekannt sind. Die Handlung findet während der Jahre 2010 bis 2018 statt. Schauplätze sind vorwiegend Birmingham, welches das Zentrum der West Midlands ist (mittiger geht fast nicht in UK) sowie London. Gemessen an den aktuellen Ereignissen um den Austritt der Engländer aus der EU, kann man diesen Roman durchaus als Pre-Brexit-Roman bezeichnen. Zumindest wird hier im Detail durchleuchtet, wie es zu dem Brexit kommen konnte.

Die Handlung ist geprägt vom Alltag der Protagonisten. Das hört sich erstmal unspektakulär an. Doch man lernt schnell, dass das Leben die besten Geschichten schreibt. Und vor allem die Lustigsten. Lustig zumindest für den Außenstehenden. Denn die Protagonisten in diesem Roman erweisen sich alle als tragische Gestalten, denen das Leben in der britischen Gesellschaft ein Schnippchen schlägt. Dabei werden sie von Coe dermaßen klischeehaft überzeichnet dargestellt, dass ich manches Mal schallend gelacht habe. 
Die Charaktere bilden dabei einen Querschnitt durch die britische Gesellschaft inklusive sämtlicher politischer Ausrichtungen.
"'Es gibt im ganzen Land höchstens zwölf Leute, die verstehen, wie die EU funktioniert, oder gar, wie ihre Bestimmungen mit dem globalen Wirtschaftssystem verzahnt sind. Du verstehst es nicht, und ich verstehe es erst recht nicht, und wenn du glaubst, dass die Menschen in drei Monaten besser Bescheid wissen werden, lebst du im Wolkenkuckucksheim. Die Menschen werden so abstimmen, wie sie es immer tun - mit dem Bauch. ...'"
Jonathan Coe ist ein Meister der Satire. Das „Opfer“ seiner Satire ist die britische Gesellschaft, deren Entwicklung in Zeiten des Pre-Brexit der Autor akribisch herausarbeitet. Als Europäer, der das Theater um den Brexit bestenfalls in der Presse mitverfolgt hat, bekommt man einen ungefähren Eindruck, welcher gesellschaftliche Wandel in Großbritannien stattgefunden hat.
Anfangs konzentriert sich dieser Roman auf das Leben und den Alltag in Großbritannien, doch je näher wir uns in der Handlung dem tatsächlichen Beschluss zum Austritt aus der EU nähern, umso politischer wird der Roman. Denn Coe bindet politische Ereignisse und Stimmungen in die Handlung ein. Seine Protagonisten bekommen direkt oder indirekt mit, welche Auswirkungen der Brexit auf ihr Leben haben wird. 
Insofern bezeichne ich den satirischen Roman „Middle England“ als visionäres Lehrstück zum Thema „Brexit“, das einen Höllenspaß macht – vorausgesetzt, man ist kein Engländer. Denn Jonathan Coe zerpflückt in seinem Buch gnadenlos die englische Seele. Und das kann fies wehtun.
"'Wir sind komplett und hoffnungslos am Arsch. Es ist ein einziges Chaos. Alle rennen herum wie kopflose Hühner. ... Niemand hat damit gerechnet. Niemand war darauf vorbereitet. Niemand weiß, was ein 'Brexit' eigentlich ist. Niemand weiß, wie das geht. Vor eineinhalb Jahren nannten das alle noch 'Brixit'. Niemand weiß, was 'Brexit' bedeutet.'"
Ich habe diesen Roman mit großem Vergnügen gelesen. Die von mir zitierten Textpassagen aus dem Roman beweisen es: Jonathan Coe geht erbarmungslos mit der britischen Gesellschaft um. Als Nicht-Brite kann man darauf nur mit Schadenfreude reagieren. Doch Vorsicht, lieber Leser: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen!

Leseempfehlung!

© Renie


Dienstag, 10. März 2020

Martha Hall Kelly: Und am Ende werden wir frei sein

Quelle: Pixabay/CarlottaSilvestrini
Drei Frauen, drei Schicksale, ein Krieg und die Zeit danach. Darum geht es in dem Roman „Und am Ende werden wir frei sein“ der Amerikanerin Martha Hall Kelly.
Ihr Roman beruht auf wahren Begebenheiten. Reale Personen lieferten die Vorlage für Charaktere in diesem Buch.

Die Handlung setzt im Jahr 1939 ein. Der Ausbruch des 2. Weltkrieges steht kurz bevor. In New York lebt Caroline Ferriday, Schauspielerin ohne Engagement, Tochter aus gutem Hause und Mitglied der gehobenen Gesellschaft. Sie arbeitet ehrenamtlich im französischen Konsulat und hilft französischen Familien bei der Einreise in die USA. Immer mehr Franzosen verlassen ihre Heimat. Denn Europa steht kurz vor Ausbruch des Krieges. Die Spendenlust der High Society von New York ist groß. Charity gehört zum guten Ton.
Quelle: Limes Verlag
"Sie betrachtete die Möglichkeit, sich wohltätig zu engagieren, wie andere eine Kuchenplatte."
Zur gleichen Zeit im polnischen Llubin erleben die 16-jährige Kasia und ihre Familie den Einmarsch der Deutschen. Ihr Alltag ist plötzlich von Angst und Drangsalierung durch die deutschen Besatzer geprägt. Immer mehr Menschen werden deportiert. Auch Kasia sowie ihre Mutter und Schwester werden eines Tages in einen Zug nach Ravensbrück verfrachtet. Die Frauen haben keinen Schimmer, was sie hier erwarten wird.

In Deutschland lebt indessen Herta Oberheuser. Sie wächst in Düsseldorf auf und lässt sich zur Ärztin ausbilden. Der Nationalsozialismus hat bei ihr ganze Arbeit geleistet. Herta hat sich das nationalsozialistische Gedankengut bedingungslos zu eigen gemacht. Doch eine Sache geht ihr gegen den Strich. Als Frau darf sie den Beruf des Arztes nicht in der kompletten Bandbreite ausüben wie ein Mann. Ihre Karrieremöglichkeiten sind dadurch beschränkt. Da bietet sich die Gelegenheit, in der Forschung im Lager Ravensbrück zu arbeiten. Dass sie mit ihren Forschungen Verbrechen an der Menschlichkeit begeht, ignoriert sie völlig. Ganz im Gegenteil: Herta "forscht" aus rassenideologischer Überzeugung. 
"Die Operationen fanden zum Wohle Deutschlands statt."
Die Handlungen dieses Buches gehen über das Ende des 2. Weltkrieges hinaus. Diesen Fortgang braucht der Leser auch. Denn zum Einen ist die Frage noch nicht beantwortet, wann und wie die separaten Handlungsstränge der drei Frauen zusammenkommen werden: Abgesehen vom Aufeinandertreffen von Herta und Kasia in Ravensbrück gibt es keinen gemeinsamen Nenner, erst recht nicht mit der Geschichte von Caroline in New York.
Zum Anderen will man Antworten auf die Frage nach den Motiven einer Herta. Man kann die Beweggründe für ihre Handlungen in Ravensbrück einfach nicht nachvollziehen, will aber dennoch Hertas Unmenschlichkeit verstehen können.
Nach Kriegsende wird Herta wird in den sogenannten Ärzte-Prozessen 1947 in Nürnberg zur Rechenschaft gezogen und verurteilt. (wikipedia: Ravensbrück-Prozesse

Quelle: Wikimedia Commons
"Der See war zornig. Schaumgekrönte Wellen jagten über die Oberfläche. Wurde er vom Wind aufgewühlt oder vom Zorn der Menschen, deren Asche wir ins Wasser gekppt hatten, damit sie am Grund des Sees versickerte? Welchen Vorwurf würde man mir machen? Ich hatte die Stelle einer Lagerärztin aus purer Notwendigkeit angenommen. Es war zu spät für die Verlorenen, die mit ihren knochigen Fingern auf mich zeigten und Zeugnis gegen mich ablegen wollten."
Martha Hall Kelly geht in der Geschichte um die drei Frauen jedoch noch weiter. Ihr Roman endet in den 50er Jahren. Am Ende fügen sich schließlich die Handlungsstränge zusammen.
Denn Caroline engagiert sich mittlerweile in einer französischen Organisation, die sich nach dem Krieg mit der Betreuung Überlebender der Konzentrationslager befasste (ADIR). Durch eine Hilfsaktion, die sie ins Leben ruft, erwirkt sie, dass die Opfer der menschlichen Experimente in Ravensbrück, darunter auch Kasia und ihre Schwester, in die USA reisen dürfen. Sie werden dort medizinisch betreut, um die Schäden an Körper und Seele zu mildern.

Die Autorin hat sich über lange Zeit mit der Recherche zu diesem Roman befasst. Sie ist zu den Schauplätzen gereist, hat mit Zeitzeugen gesprochen und einiges an Material gesichtet, das sich mit Ravensbrück und seinen Insassen befasst. Viele der Protagonisten in ihrem Roman sind realen Personen nachempfunden. Allen voran Caroline, die als Caroline Ferriday ihr Leben tatsächlich so gestaltet hat, wie die Autorin es beschreibt. Anfangs scheint das Leben der Figur Caroline oberflächlich zu verlaufen. Als Dame der gehobenen Gesellschaft lebt sie ein Leben inmitten von Parties, Galas, Kaffeekränzchen und Restaurauntbesuchen. Auch wenn ihre Events unter dem Deckmantel der Wohltätigkeit laufen, steht das Vergnügen im Vordergrund. Dieser Handlungsstrang bildet daher einen krassen Gegenpol zu den Geschichten um Kasia und Herta. Zunächst habe ich Carolines Auftritt als störend empfunden, war jedoch mit Fortschreiten der Handlung froh, dass die Autorin mir einen Ausflug in die Oberflächlichkeit gönnte. Denn sobald sich die Geschichte nach Ravensbrück verlagerte, war ich froh, eine Atempause von den geschilderten Grausamkeiten in Aussicht zu haben. 
"Stundenlang beobachtete ich den Vogel, dem Luzia und ich am ersten Tag im Revier beim Nestbau zugeschaut hatten. Ich fand ihn niedlich, bis ich bemerkte, dass der kleine Zaunkönig sein neues Zuhause mit weichen Büscheln aus Menschenhaar auspolsterte und blonde, rotbraune und rote Strähnen zwischen die Zweiglein flocht."
Martha Hall Kelly hat sich bei der Darstellung ihrer Protagonistin Caroline einen literarischen Freiraum gegönnt, indem sie ihr einen Seelenverwandten hinzugeschrieben hat: Paul Rodierre, den es nie gegeben hat. Zwischen Caroline und Paul bahnt sich eine enge Verbindung an, die das normale Maß einer Freundschaft übersteigt. Sagen wir, dass Caroline und Paul Seelenverwandte und füreinander bestimmt sind, allen Widrigkeiten zum Trotz. Diese Verbindung wird bis zum Ende des Romans anhalten - mal mehr, mal weniger eng. Ob sie sich am Ende kriegen, ist irrelevant. Gegen die schriftstellerische Freiheit der Autorin ist nichts einzuwenden. Doch mich hat die Art der Darstellung der Caroline/Paul Beziehung gestört: zu viel Flirterei und Liebesgeplänkel, zu viel Herzschmerz, zu viele Zufälle und zu häufig stellt sich die Frage „Kriegen sie sich oder kriegen sie sich nicht?“.
Ich habe diesen Part des Romans als störend empfunden. Wollte die Autorin ihren Roman mit diesem Ausflug in die romantische Gefühlswelt einem breiteren Publikum schmackhaft machen? Sie selbst begründet die fiktive Beziehung zwischen Caroline und Paul mit der Verdeutlichung des engen Bezugs von Caroline zu Frankreich bzw. der Dramatisierung der damaligen Ereignisse in diesem Land. Beides nehme ich ihr nicht ab. Der gewünschte Effekt ist bei mir zumindest nicht eingetreten. Denn Carolines Bezug zu Frankreich ist nebensächlich und die historischen Ereignisse sind an Dramatik sowieso nicht zu überbieten. Daher bedeutete der Caroline/Paul-Teil für mich leider eine Deklassierung dieses ansonsten sehr gelungenen Romans.

Mein Fazit:
Es gibt ein Haar in der Suppe: die romantische Darstellung der Beziehung zwischen den Protagonisten Caroline und Paul waren mir zu trivial und stufen diesen Roman leider ein wenig herab. Trotzdem ist dieser Roman absolut lesenswert. Denn allein schon die fesselnden Geschichten der drei Frauen, die hier erzählt und auf wahren Begebenheiten basieren, machen diesen Roman zu etwas so Besonderem, dass ich am Ende auch über die gefühlsduselige Romantik hinwegsehen kann.
Lesempfehlung!

© Renie





Freitag, 6. März 2020

Terézia Mora: Auf dem Seil

Quelle: Pixabay/Pixaline
„Eigentlich“ ist ein Wort, das man eigentlich nicht verwenden sollte. Erst recht nicht in der Kommunikation und am besten gar nicht in einer Rezension. Wenn man "eigentlich" googelt, erhält man neben den Links auf die gängigen Nachschlageportale der deutschen Sprache auch Hinweise auf Portale der Anti-"eigentlich"-Fraktion. Deren Bedenken können sein:
- "eigentlich" hat "Chamäleoncharakter", weil es Aussagen mehrdeutig macht
- "eigentlich" führt zu Unklarheit, lässt Interpretationsspielraum
- "eigentlich" kann abwertend sein
- Wer "eigentlich" benutzt, drückt sich vor klaren Aussagen
Nach Abwägung dieser Bedenken kann man nur zu dem Schluss kommen, dass "eigentlich" ein "Giftpfeil der Kommunikation" ist.

Nun zu dem Roman, den ich eigentlich besprechen will: "Auf dem Seil" von Terézia Mora
Ich kann es drehen wie ich es will. Doch nachdem ich "Auf dem Seil" von Terézia Mora gelesen habe, komme ich nicht daran vorbei, in meiner Rezension das Wörtchen "eigentlich" zu benutzen - mehrfach.
Quelle: Luchterhand

Darius Kopp, ehemals IT-Experte aus Berlin, hat sich nach dem Tod seiner Frau von seinem bisherigen Leben verabschiedet. Über mehrere Monate reist er durch Europa. Am Ende strandet er in Sizilien, die Asche seiner Frau im Gepäck. Der Roman setzt ein, als Darius bereits seit einigen Monaten in Sizilien lebt. Er hält sich durch Jobs über Wasser, ist menschenscheu und antriebslos geworden. Das Nötigste reicht ihm zum Leben. Er will mit seinem vergangenen Leben abschließen und hat den Kontakt zu seinen Freunden und Verwandten abgebrochen. Eigentlich. Denn eines Tages steht seine Nichte vor der Tür. 
"Die Anwesenheit eines Anderen bracht die Zeit wieder in Gang."
Die 17-Jährige ist von zu Hause abgehauen und hat sich dabei an ihren Onkel erinnert. Als schwarze Schafe der Familie haben sie vermutlich einiges gemeinsam. Aus einem spontanen Kurzbesuch wird ein längerer Aufenthalt, während dessen die Nichte es schafft, ihren verschlossenen Onkel aus seiner Lethargie herauszureißen. Er entwickelt so etwas wie Verantwortungsgefühl für sie - auch, wenn er es eigentlich nicht wahrhaben will. Am Ende begleitet er sie wieder zurück nach Deutschland, wo er in langsamen Schritten wieder zurück in sein altes Leben zurückkehrt.

"Auf dem Seil" ist der letzte Teil einer Trilogie. Der Protagonist Darius Kopp präsentiert sich in diesem Teil als ein verschlossener Typ. Da ich die beiden vorherigen Teile nicht gelesen habe, kann ich nicht beurteilen, wie dieser Charakter in den anderen beiden Romanen angelegt war. Hier ist er der, vom Schicksal erschütterte Mann, der sämtliche Einflüsse, die von Außen kommen, auf ein Mindestmaß reduziert hat. Er versucht, sich auf sich selbst zu besinnen. Kommunikation ist ihm ein Gräuel geworden. Daher spricht er nicht viel. Und wenn er spricht, meint er eigentlich etwas anderes als das, was er ausspricht. Oder er lässt Gedanken einfach unausgesprochen. Diese Eigenart seiner Kommunikation macht die Autorin deutlich, indem sie den Part des "Übersetzers" übernimmt, bzw. Kopps unausgesprochenen Gedanken zitiert. Als Leser betrachtet man die Geschichte daher aus 2 Blickwinkeln. Zum Einen aus der Position, die Darius' jeweiliges Gegenüber einnimmt, zum Anderen aus Darius' Gedankenwelt heraus.
"Guter, alter, stinkender Raps.
Habe ich das laut gesagt? Offenbar ja, denn Olli und auch Lore schauten irritiert.
Verzeihung, sagte Darius Kopp, der sich mit einem Mal in sehr guter Laune wiederfand. ... (Ich rede wie ein geselliger, vielversprechender Mensch.)"
Eigentlich ist dieser stilistische Kniff, den die Autorin gewählt hat, eine faszinierende Besonderheit dieses Romans. Doch tatsächlich wird die permanente Anwendung dieses Kniff mit der Zeit sehr ermüdend. Denn in diesem Roman gibt es so gut wie keine Satzzeichen der wörtlichen Rede. Das macht es mühsam, den Unterschied zwischen dem, was Darius sagt und dem, was Darius denkt, auszumachen. Im echten Leben habe ich Schwierigkeiten mit Menschen, die nicht sagen, was sie denken. Daher hat es mich in diesem Buch natürlich auch gestört. Eigentlich muss ich mich nicht mit einem Protagonisten solidarisieren oder schlimmer noch identifizieren. Wenn mir ein Protagonist "unsympatisch" ist, hat er zumindest Ecken und Kanten, an denen ich mich stoßen kann. Doch die Autorin macht Darius Kopp durch den stilistischen Kniff der unausgesprochenen Gedanken zu einem - im wahrsten Sinne des Wortes - nichtssagenden Protagonisten.

Fazit:
Eigentlich ist die Geschichte eines Aussteigers, der wieder ins Leben zurückkommt gut. Denn die Entwicklung des Protagonisten von eben diesem Aussteiger zu einem Mann, der wieder am Leben teilnimmt, ist gut umgesetzt. Doch da ich meine Schwierigkeiten mit der Kommunikationsfähigkeit des Protagonisten hatte, konnte mich "Auf dem Seil" als ein Roman der "unausgesprochenen Gedanken" eigentlich nicht wirklich überzeugen.

© Renie

Donnerstag, 5. März 2020

Hans-Willi Schroiff: Tod im Schacht

Ich lebe im Ruhrgebiet. Daher bin ich ein bisschen Stolz auf die Bergbau-Tradition in dieser Region, die bis ins 13. Jahrhundert zurückgeht. Noch älter ist das sogenannte Aachener Revier, indem bereits ein Jahrhundert zuvor Kohle abgebaut wurde, und das somit zu einem der ältesten Steinkohlereviere Europas zählt. Inmitten des Aachener Reviers liegt Kohlscheid - Heimat von Hans-Willi Schroiff, der aus Verbundenheit zu diesem Ort den historischen Krimi "Tod im Schacht" geschrieben hat.

Die Handlung dieses Kriminalromans ist im Januar des Jahres 1878 angesiedelt. In Kohlscheid sind zwei merkwürdige Todesfälle aufgetreten. Das zuständige Kommissariat in Aachen schickt den preußischen Beamten Friedrich von Bodmer zur Aufklärung dieser Todesfälle nach Kohlscheid. Die Ermittlungen scheinen komplizierter zu sein, als ursprünglich angenommen. Und natürlich wird es nicht bei den beiden Mordopfern bleiben.
"Da schickte ihm Soiron statt eines kooperativen Vertreters seiner Zunft diesen preußischen Spürhund ins Haus, der ihm keineswegs geneigt schien, die Dinge nach dem rheinischen Prinzip des 'Leben-und-leben-lassens' zu regeln, sondern mit preußischer Akribie und Systematik das System gehörig in Unordnung bringen würde."
Der Autor Hans-Willi Schroiff hat mit "Tod im Schacht" einen soliden Krimi geschrieben. Ein stetig ansteigender Spannungsbogen, ein geheimnisvoller Plot, der eine oder andere Cliffhanger, geheimnisvolle Verwicklungen und am Ende ein Showdown - gäbe es ein Lehrbuch für Krimi-Schreibende, würde ich sagen, der Autor, hat sich eng an dieses Lehrwerk gehalten. Doch Schreiben nach Lehrbuch lässt nicht viel Platz für Überraschungen. Insofern sind Aufbau und Handlungsverlauf vorhersehbar. Das tut der Spannung jedoch keinen Abbruch und soll daher mein einziger Kritikpunkt bleiben.
Denn die eigentliche Stärke dieses Romans liegt in der Gestaltung der Charaktere sowie der Schilderung des Lokalkolorit.

In seinem Vorwort schreibt Hans-Willi Schroiff, dass er mit "Tod im Schacht" eine Hommage an seine Heimat schaffen wollte. Und das ist ihm definitiv gelungen. Er führt uns durch vermutlich jedes damalige Sträßchen und Gässchen dieses Ortes. Seine Protagonisten, allen voran ein kauziger Kohlscheider Polizist namens Amkreutz, sind einzigartige Originale, manche an der Grenze zur Skurrilität. Dorfpolizist Amkreutz hat die Aufgabe, den vornehmen und arrogant wirkenden Städter von Bodmer bei dessen Ermittlungen vor Ort zu unterstützen. Das Zusammenspiel der beiden ist sehr gelungen dargestellt. Zwei Kulturen prallen damit aufeinander. Der leicht hochnäsige und versnobbte Preusse hat es mit der rustikalen Landbevölkerung zu tun.
"Dieser Amkreutz, dachte von Bodmer, ist ja wirklich ein Unikum. Vor allem seine typisch rheinische Angewohnheit, jedes mögliche Thema mit allen denkbaren Trivialitäten endlos zu dehnen und dem Gesprächspartner einen Schwall von Nichtigkeiten aufzudrängen. Aber hier im Rheinland war offensichtlich die Fähigkeit zum ziellosen, assoziativen Schwadronieren den Menschen angeboren - und bei Amkreutz handelte es sich definitiv um eine genetisch besonders intensiv ausgestattete Spezies."
Hinzu kommt, dass einige der Protagonisten im Dialekt sprechen. Manche mehr, manche weniger. Bei den Beiträgen der Hardcore-Dialektiker liefert der Autor die Übersetzung gleich mit, so dass auch ein "preußischer" Leser, der des Kohlscheider Dialektes nicht mächtig ist, nicht resignieren muss.

Hans-Willi Schroiff scheint sich eng an die historischen Vorgaben zu halten. Ich vermute, dass seine Recherche für diesen Roman sehr zeitintensiv war. Doch der Aufwand hat sich gelohnt. Der Autor vermittelt einen lebensechten Zeitgeist, so dass man sich als Leser mit Leichtigkeit in die damalige Zeit zurückversetzt sieht.

Mein Fazit:
"Tod im Schacht" ist ein Kriminalroman wie er im Lehrbuch steht. Der Fokus liegt in diesem Roman auf der Gestaltung der Charaktere und dem Schauplatz. Hans-Willi Schroiff wollte mit diesem Roman eine Hommage an seine Heimat schreiben. Das ist ihm definitiv gelungen.

© Renie

"Tod im Schacht" von Hans-Willi Schroiff
ISBN: 978-3-9820213-4-8