Donnerstag, 17. August 2023

Tess Gunty: Der Kaninchenstall

Quelle: Kiepenheuer & Witsch

Die Gestaltung des Buchumschlags hätte mich vorbereiten müssen:
Diese Kombination aus niedlich-harmlosem Titel "Der Kaninchenstall" und psychedelisch-greller und farbenfroher Abbildung einer Wohnhausfront deutet auf einen Roman hin, der einiges an Überraschungen bereithalten könnte. Doch mit dem, was mir dann vor die Lesebrille kam, habe ich nicht gerechnet.

Tess Gunty erzählt in ihrem Debütroman „Der Kaninchenstall", für den sie prompt im Jahr seines Erscheinens (2022) den National Book Award erhielt, die Geschichte der Bewohner eines Hauses in Vacca Vale, einem fiktiven Ort inmitten der größten und ältesten Industrieregion Amerikas, dem sogenannten Rust Belt.
Dieses Haus ist nicht umsonst als „Der Kaninchenstall" bekannt. Denn die Bewohner leben hier eng an eng in ihren kleinen Appartements wie Kaninchen in ihren Verschlägen. Ab und zu läuft man sich im Kaninchenstall über den Weg. Aber im Großen und Ganzen lebt man isoliert.

Einer dieser Bewohner ist die 19-jährige Blandine, welche die Hauptfigur in diesem Buch ist und eine starke Affinität zu den Mystikerinnen der Geschichte hat. Ihr großes Vorbild ist Hildegard von Bingen. Gleich zu Beginn lesen wir, dass es ein blutiges Ende für Blandine nehmen wird. Was bis dahin in der Vergangenheit und insbesondere in den zwei Tagen vor dem blutigen Ereignis geschehen ist, erfahren wir durch weitere Charaktere, die entweder selbst im Kaninchenstall wohnen oder irgendeine Verbindung zu dessen Bewohnern haben. Zu behaupten, dass es sich bei diesen Charakteren um Menschen mit Ecken und Kanten handelt, wäre eine Untertreibung.

Denn die Figuren in diesem Roman haben psychische Probleme in unterschiedlichen Ausprägungen, die sie zu eigenwilligen Verhaltensweisen bringen, so dass man das Personal dieses Romans nicht anders als schräg bezeichnen kann. Blandine ist nur ein Beispiel für diese illustre Gesellschaft. Weitere Beispiele wären der 53-jährige Sohn einer Amerika weit bekannten und beliebten Schauspielerin, der seinen Mitmenschen auf – vorsichtig formuliert und spoilerfrei - kuriose und spektakuläre Weise begegnet und somit bei ihnen bleibenden Eindruck hinterlässt. Oder eine Mrs. Kowalski, die sich allein schon durch ihre Erwerbstätigkeit dem Leser ins Gedächtnis brennen wird: Sie arbeitet bei RESTINPEACE.com, einer Internet-Plattform für Nachrufe und Beileidsbekundungen. Hier prüft sie „Kommentare zu Nachrufen auf Kraftausdrücke, Urheberrechtsverletzungen und üble Nachrede, die die Toten verunglimpft.“ Man wäre überrascht, „…wie gemein manche Leute zu den Toten sind.“

Die Geschichte um den Kaninchenstall präsentiert sich von Anfang an als eine psychedelische Gemengelage aus schrägen Charakteren und einer verrückten Handlung, die unvorhersehbare Wendungen nimmt. Ähnlich turbulent ist auch der Aufbau dieses Romans sowie die wechselhafte Erzählweise: auktoriale und personale Erzähler, Rückblicke, Social Media Posts, Illustrationen anstelle von Text. Und immer wieder mehr oder minder versteckte Verbindungen zu Themen, welche eine Gesellschaft – in diesem Fall die amerikanische – in der heutigen Zeit auf Trab halten. Doch dieses Chaos ist gewollt, so dass es in diesem Roman definitiv nicht langweilig wird. Zudem beherrscht Tess Gunty dieses Chaos. Denn trotz des Durcheinanders lässt sich der rote Erzählfaden in diesem Roman bis zum Schluss erkennen und wird auch nicht lockergelassen.

Sollte man Tess Gunty eines ankreiden, dann ihre Ambition, Themen, die eine moderne Gesellschaft beschäftigen, nahezu lückenlos in ihrem Roman ansprechen zu wollen. Dies ist eine Eigenart, die sich gern bei zeitgenössischen amerikanischen Autoren finden lässt. Diese Kritikansammlung erinnert an das Abarbeiten einer Liste und erscheint mir zu oberflächlich. Ich würde mir hier eine Konzentration auf einzelne Themen wünschen und damit die Möglichkeit zu einer intensiveren Auseinandersetzung. Da jedoch „Der Kaninchenstall" an Originalität und schriftstellerischer Experimentierfreude nicht zu überbieten ist, lässt sich dieser, „All-you-can-criticize"- Ehrgeiz von Tess Gunty leicht verschmerzen.

Leseempfehlung!