Sonntag, 22. August 2021

Kate Grenville: Ein Raum aus Blättern

Mr. und Mrs. John Macarthur wanderten 1788 von England nach Australien aus. John war ein britischer Offizier, der dem Ruf der Krone folgte und seinen Dienst in der frisch errichteten Strafkolonie New South Wales antrat. Über die Jahre machte John Karriere als Soldat, Politiker und Unternehmer. Er gilt heute in Australien als Begründer der Schafzucht. 

Von Mrs. John Macarthur, die ihren John als Elizabeth Veale kennenlernte, ist nicht viel bekannt. Was für eine Frau Elizabeth war oder hätte gewesen sein können, erzählt der Roman "Ein Raum aus Blättern" der australischen Autorin Kate Grenville.
Dabei lässt sie Elizabeth ihre eigene Geschichte erzählen. Mit Anfang 80 blickt diese auf ihr Leben zurück: einer Kindheit in Südengland, die Heirat mit John als sie 21 war, die 6 Monate dauernde Seereise nach Australien und ihre Anfänge auf dem, zur damaligen Zeit noch unerschlossenen Kontinent.

Frau sein in Großbritannien zur Zeit von Jane Austen war alles andere als romantisch. Keine Gleichberechtigung, keine politische Mitbestimmung, kein Recht auf Bildung, auf Arbeit oder eigenen Besitz. Stattdessen war Frau jedoch der Besitz des eigenen Ehemannes. Und ein Ehemann musste her, denn ohne diesen konnte Frau kaum überleben. Häufig musste Frau den Mann nehmen, der zu kriegen war. Und das war nicht immer ein Glücksgriff.
Quelle: Nagel und Kimche
"Überrascht war ich über das Ausmaß meines Zorns. Zorn auf Mr. Macarthur natürlich, aber auch auf die grausame Maschinerie aus generationenalten Gesetzen, Glaubenslehren und Gepflogenheiten, die eine Frau der Möglichkeiten raubte, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen."
Pech hatte auch Elizabeth, die ihren John, der sich in dieser Geschichte als skrupelloses und selbstherrliches Ekelpaket erweist, sicherlich nicht aus Liebe geheiratet hat, sich von ihm nach Australien verfrachten lassen musste und verpflichtet war, für Johns Wohlergehen zu sorgen - in jeder Hinsicht. Als Gattin eines britischen Offiziers sorgte sie dafür, dass das gepflegte gesellschaftliche Leben Fortbestand hatte - was merkwürdig erschien, denn der Versorgungsnachschub aus der britischen Heimat war mehr als dürftig und ein 5-o'clock-Tea inmitten der Wildnis erschien eher deplatziert. Da jedoch von einer Mrs. John Macarthur die Einhaltung der englischen Etikette erwartet wurde, hat sie diesen Anspruch auch erfüllt. Sie hatte ja sonst nichts zu tun, anfangs zumindest. Später widmete sie sich der Schafzucht, die eigentlich die Aufgabe ihres Mannes gewesen wäre. Aber das musste in der Öffentlichkeit ja keiner wissen.

Kate Grenvilles Geschichte über Elizabeth Macarthur ist unglaublich spannend und ereignisreich. Als Leser wird man vom Schicksal dieser Frau vereinnahmt. Rückblickend war es für sie sicherlich kein schlechtes Leben, denn mit den Jahren gelang es ihr, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren und das Beste für sich herauszuholen. Dennoch sind die Bedingungen, unter denen sie ihr Leben geführt hat, unvorstellbar. Das Festhalten an gesellschaftlichen Traditionen und Etikette mutete fast schon absurd an. Das Leben an der Seite eines skrupellosen Soziopathen schien aussichtslos.
Wie wohltuend ist da die Entwicklung des Charakters Elizabeth, die lernt, mit den Befindlichkeiten ihres Mannes umzugehen. Genauso wie sie lernt, das Land zu lieben, dem sie anfangs mit soviel Widerwillen und Ablehnung begegnet ist. Australien wird ihre Heimat.
"Ich will mich in diesem Bericht nicht besser machen, als ich es war. Ich musste mich mit diesem Ehemann abfinden und war feige genug, die Früchte seiner Schurkerei zu genießen."
Ich möchte gern glauben, dass die Geschichte der Elizabeth Macarthur tatsächlich so passiert ist. 

Doch genau das ist der springende Punkt in diesem Buch. Man glaubt, was man glauben will bzw. das, was Elizabeth, als Erzählerin dieser Geschichte, den Leser glauben machen will. In diesem Fall hat Kate Grenville mit "Ein Raum aus Blättern" einen "spielerischen Tanz der Möglichkeiten zwischen dem Realen und Erfundenen" aufgeführt. Mit Hilfe von Informationen, die sie den Biografien über die Macarthurs sowie Schriftstücken von damaligen Zeitzeugen entnommen hat, schreibt sie eine eigene Geschichte über Elizabeth, die so lebensecht wirkt, dass der Leser darin die Biografie einer heroischen Frau sehen will, die sich gegen die "Knechtschaft" ihres Mannes so gut es ging zur Wehr setzte und ihren eigenen Weg gegangen ist. Der Leser glaubt, was er glauben will, ungeachtet der Möglichkeit, dass Elizabeth in Wirklichkeit ein anderer Mensch hätte sein können.

Mein Fazit:
Ein außergewöhnlicher Roman, der mit dem Leser spielt. Das, was sich Kate Grenville vorgenommen hat, nämlich einen Roman zu schreiben, der die "Macht der Geschichte" demonstriert, hat sie großartig umgesetzt. Ich bin ihr auf den Leim gegangen, habe die Protagonistin zunächst gesehen, wie ich sie sehen sollte bzw. wollte. Der Ausspruch von Elizabeth Macarthur, der den Roman eröffnet und in einer Anmerkung der Autorin beendet
"Glaubt nicht zu geschwind!"
sagt alles aus.

Leseempfehlung!

© Renie