Montag, 24. Mai 2021

Johannes Schweikle: Grobe Nähte

Johannes Schweikles Buch "Grobe Nähte" ist der "Roman einer deutschen Stadt". Am Beispiel von München erzählt er von Menschen, die aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten oder Kulturkreisen kommen. Diese Menschen haben außer ihrer Spezies sowie ihrem derzeitigen Lebensraum keinerlei Gemeinsamkeiten. Sie sind sich fremd, werden sich - wenn überhaupt, dann eher zufällig begegnen. Der Roman beschreibt ihren Alltag über einen Zeitraum von mehreren Monaten. 

"Warum singst ausgerechnet du das hohe Lied der Integration? Wie willst du mit Menschen aus fremden Ländern zusammenleben, wenn du einem Münchner Radfahrer nicht mal deinen Windschatten abgibst? ... Moral macht Spaß, wenn sie nichts kostet. Aber wehe, einer fragt, wie Multikulti funktionieren soll - dann sagst du, das sei Hass. Hängst du deine Gesinnung so weit raus, weil du ein schlechtes Gewissen hast, dass es dir unverschämt gut geht?"

Quelle: Kröner Verlag
Um diese Menschen geht es:

Familie Moser: Vater Korbinian - stellvertretender Redakteur einer namhaften Münchner Tagesszeitung, Karrieretyp, beruflich erfolgreich; Mutter Eva - war mal beruflich erfolgreich, jetzt widmet sie sich in Vollzeit der Aufzucht ihrer beiden Kinder, unterbrochen von Gelegenheitsjobs in ihrem "alten" Beruf als Foto-Journalistin.  Familie Moser ist wohlhabend, hip und stylish sowie in jeder Hinsicht politisch korrekt, umwelt- und ernährungsbewusst. 

Musikstudent Benedikt Scholl, der sich mit seiner Tuba mehr schlecht als recht durchs Leben bläst. Seine wenigen Engagements erlauben ihm keine großen Sprünge. Also lebt er in einer WG, lässt sich von seinem Bonanzarad durch München tragen und lebt in den Tag hinein.

Der afrikanische Profi-Fußballer Victor Akbunike, Starstürmer bei Münchens Starverein Bavaria München. Der weltberühmte Fußballverein bildet mit seinem Stadion und Vereinsgelände einen Kleinstaat in Bayerns Metropole. Victor ist der Vorzeige-Schwarze im Staat Bavaria. Seine Anhänger liegen ihm zu Füßen, und er darf sich alles erlauben, solange er sich an den Verhaltenskodex des Vereins hält und seine Torbilanz stimmt. Seinem Starimage entsprechend fährt er dicke Autos und lebt in einer schicken Villa.

Victor lebt noch nicht lange in München. Er ist frisch aus Nigeria eingetroffen, wo er von einem Talentscout entdeckt wurde. Aus armen Verhältnissen ins Paradies Bavaria München - Victor hat es also geschafft.

Andere Menschen, die in München ebenfalls frisch eingetroffen sind, aber es noch lange nicht geschafft haben, sind syrische Flüchtlinge. Denn der Roman spielt in der heutigen Zeit. Die Flüchtlingssituation bildet den groben Rahmen für das Geschehen in  diesem Roman, die Flüchtlinge selbst nehmen dabei jedoch keinen Anteil an der Handlung. Dennoch bestimmt ihre Gegenwart das Geschehen in diesem Roman. Denn der bloße Gedanke an die Anwesenheit der geflohenen Menschen reicht aus, , um den Frieden in Münchens Gesellschaft zu stören.

"In München sind wir konsequent. Wir schauen genau, was wo hingehört. Den Fußball verlegen wir dorthin, wo's genug Parkplätze gibt. Auch das Rotlicht kommt nach draußen, in den Sperrbezirk, die Innenstadt bleibt sauber. Es ist eine hiesige Spezialität, ordentliche Nähte zu ziehen." 

Johannes Schweikle hat mit "Grobe Nähte" einen bitterbösen satirischen Roman geschrieben. Ziel seines Spottangriffs ist unsere Gesellschaft, denn die hat es nötig, dass man ihr den Spiegel vor das selbstgefällige Gesicht hält. Herr Schweikle siedelt seinen Roman zwar in München an, doch steht die bayrische Hauptstadt stellvertretend für jede andere Groß- und Kleinstadt in Deutschland. Nun gut, nicht jede Stadt hat einen Fußballverein in der Größenordnung eines Bavaria Münchens, der in "Grobe Nähte" mit seinem Vereinsgelände und Stadion vatikan-gleich in München residiert. Dennoch sind die gesellschaftlichen Strömungen, die in Johannes Schweikles Roman zu finden sind, an jedem anderen Ort  unserer Republik anzutreffen. 

Wir Deutschen sind ein Land voller Egoisten und Gutmenschen geworden, neuerdings vegan, aber immer politisch korrekt.  Es ist verdammt einfach, den Menschenfreund zu spielen, solange das eigene egoistische Wohlbefinden nicht beeinträchtigt wird. München rühmt sich für seine Gastlichkeit. In "Grobe Nähte" werden die Flüchtlinge bei ihrer Ankunft mit offenen Armen empfangen. Doch schnell zeichnet sich ab, dass diese Gastfreundschaft nur bis an die Schwelle der Komfortzone der Münchner Gesellschaft reicht.

Ich merke, dass ich mich gerade in Rage schreibe. Denn Johannes Schweikle hat mit seinem Roman "Grobe Nähte" einen wunden Punkt bei mir getroffen. Bis vor etwa einem Jahr war in Deutschland noch von der sogenannten Flüchtlingskrise die Rede, die ausreichend Material lieferte, dass sich der Egoismus in unserer Gesellschaft selbst bloßgestellt hat. Dieses Thema ist in den Hintergrund gedrängt worden, seitdem die Corona-Epidemie einen neue Bühne für die Zurschaustellung unserer Selbstsucht liefert. (Ich will jetzt nicht über diejenigen Menschen reden, die sich in ihren Grundrechten eingeschränkt fühlen, weil sie beim Einkaufen einen Mundschutz tragen müssen - das ist Schnee von gestern!)

Ein Paradebeispiel für den Egoismus in unserer Gesellschaft ist für mich die Impfkampagne, die vor etwa einem halben Jahr begonnen hat. Denn mittlerweile ist aus der Covid-19-Epidemie ein Impffieber geworden. Menschen, die nach sozialer Gerechtigkeit und Einhaltung der Impfpriorisierung geschrien haben - schließlich müssen die Schwachen und Gefährdetsten in unserer Gesellschaft geschützt werden - sind bereits geimpft. Und das nicht erst seit gestern, sondern bereits in einem frühen Stadium der Impfkampagne. (Es geht doch nichts über Beziehungen und einer großzügigen Interpretation des Begriffs "Systemrelevanz".) Der deutsche Gutmensch fragt sich scheinbar: "Was interessiert mich mein Schrei nach Gerechtigkeit, wenn ich mir selbst am Nächsten sein kann?" 

"Es ist dunkel geworden. Von seinem Balkon kann Korbinian Moser den Efeu im Innenhof nicht mehr erkennen. Wohlig sitzt er in der Wärme, die jetzt genau richtig ist, er braucht keine Jacke. Nimmt noch einen Schluck Gin Tonic. Saugt am Trinkhalm, es gibt ein schlürfendes Geräusch im Glas. Er sitzt links neben Eva und legt seine Hand auf ihre rechte Schulter, Versucht, sie im Sitzen zu umarmen, und sagt überwältigt: Wir sind Weltmeister in Humanität!"

Herr Schweikle, es tut mir leid, dass meine Besprechung zu "Grobe Nähte" ein wenig aus dem Ruder gelaufen ist. Nein, eigentlich tut's mir nicht leid, denn ich bin wütend über die Entwicklung unserer Gesellschaft. Mit ihrem "Roman einer deutschen Stadt" sprechen sie mir aus der Seele, und ich kann mir meine Gedanken einfach nicht verkneifen. 

Mein Fazit zu diesem Roman:

"Grobe Nähte" ist eine Gesellschaftssatire, die ungeheuer komische Momente hat, weil die überzogene Darstellung der Charaktere und ihres Lebens in der Wohlfühlstadt München einem Déja-Vu gleicht. Die Personen dieses Romans begegnen uns tagtäglich, und es werden leider immer mehr. Da hilft es uns nur, den Spiegel vor unser gesellschaftliches Antlitz zu halten, und hoffen, dass wir erkennen, was wir sehen. "Grobe Nähte" ist solch ein Spiegel.

Daher: Leseempfehlung, unbedingt!!!!

© Renie


"Grobe Nähte" von Johannes Schweikle (Kröner Verlag, Edition Klöpfer)