Johannes, Protagonist des Romans "Andershimmel" von Peter Blickle, hat seine Kindheit und Jugend in einem schwäbischen Dorf mit dem klangvollen Namen Himmelreich verbracht
Mit 17 haute er ab und ließ seine Zwillingsschwester Miriam zurück. Er ging nach Amerika, baute sich hier sein Leben auf und kehrt erst Jahre später nach Himmelreich zurück. Und der Himmel ist anders geworden, als derjenige, den er vor 30 Jahren verlassen hat.
„Andershimmel“ - ein Roman von Peter Blickle, der von den Menschen in eben diesem Himmelreich erzählt.
Die Bewohner des Dorfes Himmelreich gehören einer christlichen Gemeinschaft an. Das Leben verläuft in streng geordneten Bahnen nach Gottes Geboten und in Demut vor dem Herrn. Die Gemeinschaft unterliegt dem Patriarch. Männer sind die Bewahrer des Glaubens und Seiner Gebote. Frauen spielen eine untergeordnete Rolle. Und Kinder werden als Geschenk Gottes angesehen und geliebt. Denn Himmelreich ist ein Ort der Liebe.
"Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten." (Quelle: Lutherbibel 2017, Sprüche13,24)
Solange diese Kinder klein sind, ist für sie das Leben in einem Dorf wie Himmelreich eine Normalität, die von ihnen nicht in Frage gestellt wird. Doch spätestens mit der Pubertät kommen Zweifel auf, und die Jugendlichen geraten an einen Scheideweg: ein Leben führen wie die Eltern? Himmelreich für ein eigenes Leben verlassen? Die Entscheidung fällt den Jungen leichter als den Mädchen. Denn Mädchen werden in Himmelreich zur Demut, Keuschheit und Gehorsam erzogen, nicht nur vor den Eltern, sondern auch vor Gott.
Quelle: Alfred Kröner Verlag |
"Er war das Dürfen. Sie war das Sollen. Sie war das Gute, Züchtige, Fleißige, Ordentliche, Saubere und Treue. Er war das Gehen, das Sehen, das Neugierige.Sie war, wie sie war. GOtt wollte, dass sie so war."
Von den Zwillingsgeschwistern dieses Romans wird daher Miriam ihr Leben in Himmelreich weiterleben, Ehefrau und Mutter werden sowie dem Herrn dienen. Johannes wird mit 17 nach Amerika gehen, hier ein eigenes Leben aufbauen und seine Vergangenheit hinter sich lassen. So denkt er.
Der Roman setzt 30 Jahre später ein, aus Johannes ist ein anerkannter Wissenschaftler geworden. Eines Morgens erhält er einen Anruf aus der alten Heimat: Miriam hat sich in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen und braucht nun ihren Bruder.
Erinnerungen, die Johannes bis dato verdrängt hat, werden wieder erschreckend präsent. Und Johannes erinnert sich an seine Vergangenheit in Himmelreich, so dass sich nach und nach ein Bild aufbaut, das das Leben in dem Dorf in aller Klarheit beschreibt.
Etwa zur Hälfte des Romans werden die Erinnerungen von der Gegenwart abgelöst. Denn Johannes folgt dem Hilferuf seiner Schwester und reist nach Deutschland, um ihr in der schweren Zeit beizustehen. Doch Miriam, die ihm in der Kindheit eine Seelenverwandte war, ist ihm mittlerweile fremd geworden. Erst nach und nach kommt es wieder zu der Nähe und Vertrautheit, die die beiden Zwillinge in ihrer Kindheit und Jugend erlebt haben.
Johannes muss feststellen, dass auch das Himmelreich nicht vor Veränderungen gefeit ist. Im Dorf hat über die Jahre ein langsamer Wandel stattgefunden. Zum Dorfbild gehören plötzlich Menschen anderer Hautfarben und Religionen. Die Gemeinde hat syrische Flüchtlingsfamilien aufgenommen und unterstützt sie bei den Bemühungen, sich ein neues Leben in Deutschland aufzubauen.
Diese Veränderungen im Alltag des Himmelreichs bewirken, dass der Begriff "Heimat" für Johannes langsam seinen Schrecken verliert. Und wie schon vor 30 Jahren steht er wieder vor einer Entscheidung, welche sein weiteres Leben betreffen wird.
"Durchgefallen war sie. Bei der Führerscheinprüfung. Dabei habe sie alles richtig gemacht. ... Nur eine Sache hatte sie nicht ganz richtig gemacht. ... Beim Paralleleinparken war sie durchgefallen. ... Drei Jahre Fahrpraxis in Kriegsgebieten und auf Wüstenstraßen, Bombenkrater ausgewichen und einen Ziegenbock in der Nacht getötet - all das zählte nicht, wenn man in Deutschland nicht parallel parken konnte."
Peter Blickle beschreibt das Leben in einer religiösen Gemeinschaft, die den Glauben an Gott auf extreme Weise praktiziert. Seine Kritik an dieser Religionsauslegung erfährt man durch Zweideutigkeiten und dem Lesen zwischen den Zeilen. Textpassagen, welche sich auf den religiösen Aspekt seiner Geschichte konzentrieren, werden von Bibelversen und Frömmigkeit durchtränkt. Sobald sich der Text auf Gott und dessen Gebote konzentriert, wählt der Autor eine eigene Schreibweise, in dem er das Wort "Gott" sowie dessen Synonymen, Pronomen u. ä. mit zwei Großbuchstaben beginnen lässt:
"Sie lebten in diesem Dorf auf IHn zu. In IHm. Durch IHn. Mit IHm. Gelobt sei DEr, DEr da kommt. Der EInzige. Der EWige. Der HÖchste. Der GEbieter über Himmel und Erde."
Durch diese stilistische Übertreibung wird eine fast schon atemlose Ehrfürchtigkeit und Demut demonstriert, die man einfach nicht ernst nehmen möchte.
Dies ist nicht die einzige Eigenwilligkeit, die sich in Peter Blickles Sprachstil finden lässt. Die Handlung wird bis kurz vor dem Ende des Romans aus der Sicht von Johannes geschildert. Dabei tauchen wir in seine Gedankenwelt ein, die sehr analytisch ist. Jede Überlegung, jeder Gedanke wird von ihm nahezu seziert. Er durchspielt dabei unterschiedliche Sichtweisen, in dem er versucht, sich in die Denkweise anderer hineinzuversetzen. Das Resultat ist dabei ein Gedankenchaos, das sich glaubhaft in einer stakkatoartigen und bruchstückhaften Sprache ergießt.
Die offensichtliche Meinung des Autors zu der Religionsauslegung in Himmelreich legt natürlich nahe, dass er beim Leser dieselbe Ablehnung hervorrufen möchte. Ich habe generell ein gestörtes Verhältnis zu Romanen, die den Gutmenschen im Leser ansprechen, in dem sie mit einer Geschichte plumpe Empörung hervorrufen wollen. Diese Effekthascherei ist in "Andershimmel" in keinster Weise zu finden. Ganz im Gegenteil. Auf sehr subtile Art liefert Peter Blickle viele unterschiedliche Denkansätze, die eine eigene Meinungsbildung des Lesers zulassen.
Der Roman "Himmelreich" zeichnet sich durch seine Vielschichtigkeit aus. Man beginnt dieses Buch als eine Geschichte, die die religiöse Weltanschauung einer christlichen Gemeinschaft auf den Prüfstand stellt. Doch im Verlauf der Geschichte zeichnen sich weitere Aspekte ab, die dieses Thema ergänzen: Geschlechterrollen, Integration und Identitätsfindung.
Am Ende wird man feststellen, dass es in diesem Buch nicht so sehr um Religion geht, sondern eher um die Frage, welchen Anteil Religion und Weltanschauung sowie Geschlecht und Nationalität an der Identität eines Menschen haben. Eine schwierige Frage, die sich nicht einfach beantworten lässt. Daher ist "Andershimmel" kein Buch für zwischendurch, sondern ein Roman, der den Leser fordert - während der Lektüre und noch lange danach.
Leseempfehlung!
© Renie