Freitag, 26. März 2021

Isabela Figueiredo: Die Dicke

Quelle: Unsplash/Michael Dziedzic
Wenn es einen Satz in dem autobiografischen Roman "Die Dicke" von Isabela Figueiredo gibt, der dessen Inhalt treffend beschreibt, dann ist es dieser:
"Ich öffne und schließe immer wieder die Türen zu der Vergangenheit, in der mich dieses unauflösliche, beengende und fesselnde Eisenband mit den Eltern verbindet, und ich weiß, ein ganzes Leben reicht noch immer nicht aus für die Liebe."
Es geht um Isabela Figueiredos Leben, es geht um ihre Vergangenheit, es geht um ihre Eltern, es geht um die Liebe...., und es geht um Türen - doch dazu später mehr. 

In 2019 erschien im Weidle Verlag das Buch "Roter Staub. Mosambik am Ende der Kolonialzeit". Die portugiesische Autorin Isabela Figueiredo erinnert sich darin an ihre Kindheit in Mosambik. Ich habe diese außergewöhnliche Geschichte über eine Kindheit unter dem Einfluss des Kolonialismus verschlungen und war so gespannt auf weitere Bücher der Autorin. Nun endlich ist es soweit. Isabela Figueiredo erzählt in ihrem autobiografischen Roman "Die Dicke" ihre Lebensgeschichte weiter. So vermute ich zumindest. Denn
"Alle in diesem Buch beschriebenen Figuren, Orte und Situationen sind reine Fiktion und pure Realität".
Die Protagonistin des Romans trägt den Namen Maria Luísa. Die Tochter portugiesischer Kolonialisten hat einen großen Teil ihrer Kindheit in Mosambik verbracht. Nach einem Militärputsch 1974 (Nelkenrevolution) ist das Leben in dem afrikanischen Land nicht mehr sicher ist. Daher wird Maria Luísa im Alter von 10 Jahren von ihren Eltern nach Portugal geschickt, wo sie die nächsten Jahre bei Verwandten leben wird. Erst 10 Jahre später folgen die Eltern der einzigen Tochter. Maria Luísa ist mittlerweile eine junge Frau geworden, die unter starkem Übergewicht leidet. Ihre Gewichtsprobleme nahmen in der Pubertät ihre Anfänge, so dass sie sich über die Jahre zu einem - wie sie es nennt - "Monster" entwickelt hat. Durch die damit verbundenen seelischen und körperlichen Belastungen entschließt sie sich eines Tages zu einer Magenverkleinerung, die bewirkt, dass sie innerhalb kurzer Zeit 40 Kilo ihres Körpergewichts verlieren wird. 
Quelle: Weidle Verlag
Und mit diesem Hinweis auf das, für Maria Luísa einschneidende Ereignis beginnt der autobiografische Roman "Die Dicke".
"Uns trennt ein großer Graben voller Unbekanntem. Uns fehlen zehn Jahre Wissen, diese zehn Jahre die wir getrennt waren. Wie haben wir uns in dieser Zeit der Abwesenheit entwickelt? Was für Menschen sind wir geworden?"
Nachdem Maria Luísas Eltern im Jahr 1985 ebenfalls nach Portugal zurückkehren und sich in einem Vorort Lissabons eine Wohnung kaufen, zieht die junge Frau wieder zu ihren Eltern, die sie 10 Jahre lang nicht gesehen hat. Maria Luísa wird bis zu ihrem 38. Lebensjahr mit ihren Eltern zusammen wohnen (der Vater verstirbt in 2001, die Mutter in 2013). 
Mit dieser Wohnung sind also viele Erinnerungen verknüpft, die in diesem Roman bewahrt werden.
Die Aufteilung der Wohnung bildet dabei das Gerüst für diesen Roman. Denn jedes Kapitel ist mit der Bezeichnung eines Raums betitelt. Durch diesen Aufbau entsteht der Eindruck, dass Maria Luísa durch die Wohnung streift und sich dabei in ihren Erinnerungen verliert. ("Ich öffne und schließe immer wieder die Türen zu der Vergangenheit, ...") Dieses Abschweifen in Erinnerungen stellt den Leser vor die Herausforderung, Ordnung in eine Gedankenvielfalt zu bringen, die ohne jegliche Chronologie erzählt wird. Es lohnt sich jedoch, diese Herausforderung anzunehmen.
Denn die Protagonistin zeigt sich als verletzliche Frau mit einem überaus starken Willen, die sich mit einer ungeheuren Kraft durch das Leben bewegt und eine Vielzahl an Tiefschlägen wegzustecken weiß. 
Sie erzählt uns von Menschen, die ihr wichtig waren und sie erzählt von großen Enttäuschungen, die sie erlitten hat. 

Die Beziehung zu ihren Eltern nimmt dabei einen großen Part in diesem Buch ein. Maria Luísa begegnet ihren Eltern auf unterschiedliche Weise. Das Verhältnis zu ihrem Vater zeichnet sich durch Herzlichkeit und Unbeschwertheit aus. Wohingegen das Verhältnis zu ihrer Mutter eher distanziert wirkt. 
"Ich werfe ein funkelndes Feuerwerk auf die Vielfalt und Reichhaltigkeit des Lebens, das Papa geführt hat. Mit ihm habe ich das Staunen der Sinne erfahren. Von Mama habe ich gelernt, dass wir alle Exzesse kontrollieren und nach Möglichkeit vermeiden, ihnen schweren Herzens und siegreich widerstehen müssen. Wenn es gut schmeckt, ist es ein Laster, das es auszulöschen gilt. Der Unterschied zwischen Papa und Mama war: mach, mach es nicht, iß, iß es nicht, geh, geh nicht. Papa lebte und Mama hielt das Boot über Wasser, deshalb soll ein zweites Feuerwerk speziell für Mama erstrahlen."
Durch den Titel entsteht der Eindruck, dass im Mittelpunkt des Romans das massive Übergewicht von Maria Luísa steht. Ich hatte geahnt, dass dies nicht der Fall sein wird. Denn Isabela Figueiredo schreibt viel zu tiefgründig, als dass sie ihre Protagonistin auf ihre Fettleibigkeit reduziert. Maria Luísas Übergewicht und dessen Auswirkung auf ihre Psyche bilden nur eine Facette ihrer Persönlichkeit, neben vielen vielen anderen. Die Autorin hat es tatsächlich geschafft, dass ich die Statur ihrer Protagonistin zwischenzeitlich völlig aus den Augen verloren habe und Maria Luísa als eine junge Frau, wie viele andere, wahrgenommen habe. 

Isabela Figueiredo hat eine besondere Gabe, mit Worten umzugehen. Ihre Sprache ist geistreich. Immer wieder laden lebenskluge Sätze zum gedanklichen Verweilen ein, die nur Kommentare wie "Stimmt!" oder "Wie wahr" zulassen. Die Autorin spricht mir mit ihren Betrachtungen, was das Leben betrifft, aus der Seele. Das habe ich schon in ihrem ersten Buch so empfunden und werde es vermutlich auch in ihren nächsten Romanen so empfinden. Ich bin daher neugierig, welche Geschichten Sie uns noch erzählen wird. 

Leseempfehlung!

© Renie