Donnerstag, 13. Juni 2019

Jocelyne Saucier: Niemals ohne sie

Quelle: Pixabay/Antranias
Eine Familie mit mindestens 3 Kindern ist eine Mehrkindfamilie. Ab dem 4. Kind spricht man gern von einer kinderreichen Familie.
Die amerikanische Fernsehfamilie Walton hatte 7 Kinder - eine Großfamilie. Bei den Waltons stand trotz eines einfachen und schweren Lebens zur Zeit der Weltwirtschaftskrise der Familienzusammenhalt an oberster Stelle. Und dem Zuschauer wurde eine gehörige Portion Familienidylle vermittelt. ("Gute Nacht, John Boy").

Die Familie Cardinal in Jocelyne Sauciers Roman „Niemals ohne sie“ hat 21 Kinder und liegt somit fernab jeglicher Definition. Auch in dieser Familie steht der Familienzusammenhalt an oberster Stelle. Nur mit der Familienidylle ist es nicht weit bestellt.
Die Cardinals leben irgendwo in Kanada in einem kleinen Städtchen, das vom Zinkabbau lebt. Noch geht es den Einwohnern der Stadt gut, was nicht zuletzt Vater Cardinal zu verdanken ist, hat er doch vor einiger Zeit das Zink entdeckt und die Abbaurechte an eine Bergbaugesellschaft abgetreten. Vater Cardinal ist ein stiller und heimlicher Gesteinsexperte, den jedoch sein Talent nicht zum erhofften Wohlstand gebracht hat. So verbringt er den Großteil seiner Zeit damit, Gesteinsadern in der Gegend zu suchen und Gesteinsproben zu untersuchen. Einige Auserwählte seiner 21 Kinder haben die Ehre, ihn bei seinen Unternehmungen zu begleiten.

Quelle: Insel Verlag
Die Kinder erziehen sich selbst. Bei 21 Kindern ist es nur natürlich, dass sich Hierarchien herausbilden. Die Großen kümmern sich um die Kleinen, die in der Rangordnung noch ganz weit unten stehen. 
Eine Mutter gibt es auch. Doch die hat ihre eigenen Probleme. Sie ist psychisch labil, vergräbt sich den lieben langen Tag in der Küche, wo sie die Familie bekocht. Die Verantwortung für die Kinder überlässt sie lieber ihrer ältesten Tochter. 
"Sie liebte uns. Man brauchte nur die zärtlichen Blicke zu sehen, mit denen sie ihre Babys bedachte, bevor sie sie mir anvertraute. Doch ihre Liebe kam nicht gegen die Hektik an, mit der sie in die Küche stürzte. Sie vergaß das Baby, vergaß uns alle, einen nach dem anderen, jeden Einzelnen von uns, wegen der kopflosen Liebe, die sie für uns alle empfand, für die Gesamtheit ihrer Kinder, und wenn einer von uns in ihren Gedanken auftauchte, allein und als Individuum in dem Durcheinander aus Kindergesichtern, befiel sie eine panische Angst, weil ihr plötzlich bewusst wurde, dass sie ihn oder sie vergessen hatte."
Soweit zur Vorgeschichte. Denn der Roman beginnt viel später, in einer Zeit, in der die Kinder längst erwachsen sind und selbst Nachwuchs haben (könnten). Mittlerweile sind die Kinder in alle vier Winde verstreut. Anlässlich einer Ehrung ihres Vaters, der mittlerweile 85 Jahre alt ist, kommt es zu einer Familienzusammenkunft, die bei den Kindern nur bedingt mit Wiedersehensfreude verbunden ist. Was ist also geschehen?
Der Familie ist ein Unglück widerfahren. Und was genau passiert ist, kristallisiert sich von Seite zu Seite mehr heraus. Die Autorin lässt die Kinder zu Wort kommen – nicht alle 21, sondern die Key Player in der Familie bzw. diejenigen, die mehr oder weniger an dem Unglück beteiligt waren.
In Rückblenden erinnern sie sich an die tragischen Vorkommnisse in der Zeit ihrer Kindheit. Dabei zeichnen sich 2 Dinge ab. Zum Einen, welchen Einfluss das damalige Geschehen auf die Entwicklung der einzelnen Charaktere genommen hat. Zum Anderen, welche Unbarmherzigkeit das Leben in der Cardinal Familie mit sich brachte. Die Cardinal Kinder bildeten eine Front nach Außen. Die Familie war in der Gegend gefürchtet. Immer galt es, die Familie zu schützen. Da auf die Befindlichkeiten des einzelnen Cardinals keine Rücksicht genommen wurde, und jeder seine Bedürfnisse dem Wohl der Familie untergeordnet hat, ist der eine oder andere unvermeidlich auf der Strecke geblieben. Erstaunlicherweise ist dieser ganz besondere Familiensinn nur von den Kindern gelebt worden und nicht von den Eltern. So war das bei den Cardinals.
"'In dieser Familie ging es nie darum, glücklich zu sein. Also kann man sich auch nicht beschweren, dass wir es nicht geschafft haben.'"
Wir haben es also mit einem ganz besonderen Familienroman zu tun. Die Familie ist besonders, ihr Schicksal ist besonders und die Art und Weise, in der die Autorin deren Geschichte erzählt, ist ebenfalls besonders - nämlich besonders berührend.
Mit ihrem Erstlingswerk "Ein Leben mehr" hat mich Jocelyne Saucier vor 2 Jahren bereits gekriegt. Voller Ungeduld habe ich ihren nächsten Roman erwartet, der mit "Niemals ohne sie" nun erschienen ist. Meine Erwartungshaltung lag zwischen Bangen und Hoffen. Denn es sind schon viele Autoren an der Messlatte gescheitert, die sie mit einem ersten Erfolgsroman gelegt haben. Nicht so Jocelyne Saucier. Die beiden Romane sind von der Thematik her nicht vergleichbar. Aber, was für ein Glück, auch in "Niemals ohne sie" findet sich ihr schriftstellerisches Talent wieder. Sehr behutsam nähert sie sich den Charakteren an. Nach Außen erscheint die Familie als eine Einheit. Doch der Autorin gelingt es, die Eigenheiten jedes Charakters herauszuarbeiten und somit seine Einzigartigkeit innerhalb des Familienclans zu betonen. Dabei umschmeichelt die Handlung eine Melancholie, die diesen Roman zu einem wundervollen Entschleunigungsbuch macht - trotz aller Tragik, die sich in dieser Geschichte am Ende verbirgt.

Leseempfehlung!

© Renie