Donnerstag, 6. Oktober 2016

Wilson Collison: Die Nacht mit Nancy

Wenn irgendein Cover den Namen "Eyecatcher" verdient, dann ist es dasjenige des Romanes "Die Nacht mit Nancy" von Wilson Collison. Auf dem Cover prangt dem Leser ein Prachtweib aus den 30er Jahren entgegen. Kein Zweifel, das ist Nancy!

Klappentext:
Die Ostküsten-USA Anfang der 1930er Jahre. Eine Hausparty in einem großbürgerlichen Landhaus. Ein lauter Schrei lässt die Bewohner mitten in der Nacht aufschrecken. Die sittenstrenge Gastgeberin Mrs. Hanley eilt heran und traut ihren Augen kaum.: In einem der Gästezimmer trifft sie nicht nur auf die junge, attraktive und nur mit einem Negligé bekleidete Witwe Nancy, sondern auch auf drei Männer in Pyjamas. Empört lässt sie alle Gäste und Bedienstete herbeirufen und fordert den jungen Anwalt Jimmie Landon auf, ein Kreuzverhör durchzuführen, um diese pikante Angelegenheit aufzuklären ....

Kann man aus solch einem Szenario einen guten Roman machen? Und wie man das kann! 
An sich ist die beschriebene Situation völlig banal: Frau wird wach, erschrickt sich, schreit, beruhigt sich wieder, schlecht geträumt? und schläft schließlich weiter. Na gut, einen Unbekannten im Schlafzimmer zu haben, ist nicht das, was man möchte - wobei es natürlich auf den Unbekannten ankommt. Aber diesen Vorfall dermaßen aufzublähen und daraus eine private nächtliche Gerichtsverhandlung zu machen, steht doch in keiner Relation.
Und trotzdem schafft es Wilson Collison aus diesem Szenario einen Roman zu machen, der fast schon kriminalistische Züge annimmt und 100-%ig von der ersten bis zur letzten Seite durch seinen Witz und Humor überzeugen kann.
"' ... Es ist wirklich ganz erstaunlich. Aus einem trivialen Schlafzimmer-Vorfall habe ich genügend Indizien, Nebenhandlungen, Verdachtsmomente, Andeutungen und Möglichkeiten herausgeholt, um ein Dutzend Romane zu schreiben.'" (S. 137)
Nancy ist eine Frau, die Männerherzen höher schlagen und andere Frauen neben sich unscheinbar erscheinen lässt. Erst recht, wenn diese Frauen mitten in der Nacht ungeschminkt und im Nachthemd - in manchen Kreisen nennt man es auch "nicht gesellschaftsfähig" oder "derangiert" - in ein Zimmer gescheucht werden, um der unangenehmen Befragung zur Aufklärung einer delikaten Angelegenheit beizuwohnen. Ein Unbekannter hat Nancy in ihrem Schlaf aufgeschreckt. Der Täterkreis lässt sich schnell eingrenzen. Im Grunde genommen kann es jeder der anwesenden Herren und Ehemänner gewesen sein. Was auch irgendwie nachvollziehbar ist, denn welcher Mann wäre nicht gerne in Nancys Schlafzimmer? Doch die anwesenden Ehefrauen zeigen leider kein Verständnis für die Situation. Ganz im Gegenteil, der Edelmut, Nancy zu Hilfe eilen zu wollen, wird leider nicht belohnt. Stattdessen reagieren die Damen mit Eifersucht und Nancys Ruf und Moralvorstellungen stehen auf einmal auf dem Prüfstand.

Aber wie heißt es so schön? "Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen."

Denn tatsächlich wendet sich das Blatt. Die Befragung der Anwesenden entwickelt sich in eine Richtung, die mehr als unangenehm für jeden Einzelnen von ihnen ist. Und plötzlich treten Geheimnisse zu Tage, die die nächtliche Ruhestörung in den Hintergrund rücken lassen. Wahre unmoralische Abgründe tun sich auf. Die Fassade von Sitte und Anstand, hinter der sich nahezu jeder der Gäste versteckt, beginnt zu bröckeln.
Eigentlich hätte Nancy jetzt allen Grund zur Schadenfreude. Aber sie steht darüber und nimmt die Entwicklung mit großer Gelassenheit hin.
"' Unter normalen Umständen ... hätte man die Sache auf sich beruhen lassen. Aber Mrs. Hanley hatte das Gefühl, dass die Sittlichkeit ihrer Logiergäste etwas sei, das man untersuchen, befragen und kritisch überprüfen müsse. Schließlich ist es ihr Haus, und die sittliche Verbesserung der Nation muss vor der eigenen Haustür beginnen. ..'" (S. 147)
Wilson Collison macht sich über seine Protagonisten lustig. Ich glaube, dass der Autor einen riesigen Spaß hatte, als er diesen Roman geschrieben hat. Sein Humor ist gnadenlos. Er zieht seine Protagonisten durch den Kakao: die ach so tugendhaften Ehefrauen sowie die etwas trotteligen Männer, die unter der Fuchtel ihrer Frauen stehen .... und alle haben etwas zu verbergen, das sie auf einmal gar nicht mehr so tugendhaft dastehen lässt. Nur Nancy kommt gut weg. Denn sie scheint die einzig Aufrichtige zu sein, die nicht viel auf die Meinung der anderen gibt.
"Es schien ihm, als hätten Männer generell Angst vor ihren Ehefrauen. Da war Foster, der einen beunnruhigten und gejagten Ausdruck in den Augen hatte, wenn er zu seiner Helen herübersah; und Bob Martin, der einen Ausweg aus einer Situation zu suchen schien, die ihn mit Sorge erfüllte und ihm peinlich war." (S. 14)
Dieser Roman ist großartige und intelligente Unterhaltung mit fast schon satirischen Ausmaß. Er spielt in einer Zeit, in der es noch andere Moralvorstellungen als heute gab. Wilson Collison stellt diese Moral und Tugendhaftigkeit in Frage und lässt die Hüter von Sitte und Anstand als falsche Moralapostel dastehen. So schmunzelt man sich durch diesen Roman und lacht sich lauthals eins ins Fäustchen, wenn diese Moralapostel abgewatscht werden. Der fast altmodische Sprachstil von Wilson Collison übt dabei einen unvergleichlichen Charme aus. Da trifft man auf Begriffe wie "pikante Angelegenheit", da "wird nach Atem gerrungen" oder es gibt "Missstimmungen, die einen auf verbotene Pfade der Liebe und Leidenschaft treiben". Eine herrliche Wortwahl, die diesen Roman zu einem echten Genuss machen. Klare Leseempfehlung!

© Renie

Die Nacht mit Nancy von Wilson Collison, erschienen im Louisoder Verlag
Erscheinungstermin: 24. August 2016
ISBN: 978-3-944153-32-2


Über Wilson Collison:
Wilson Collisons Ruhm begann mit dem Broadway-Hit Up in Mable’s Room. Stücke wie Red Dust oder Mogambo wurden mit Clark Gable zu Kino-Hits, der Roman The Red-Haired Alibi der erste abendfüllende Film mit Shirley Temple. Collison, in Ohio geboren und in Beverly Hills, Kalifornien gestorben, veröffentlichte neben Das Haus am Kongo zahlreiche Romane mit unkonventionellen jungen Frauen als Heldin.




Von Wilson Collison habe ich auch "Das Haus am Kongo" gelesen, von dem ich ebenfalls begeistert war. Wer einen Blick auf meine Buchbesprechung werfen möchte ...