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„Ich, der Jude, sie, die Christen ..."
Howard Jacobson thematisiert in seinem Roman "Shylock" das Miteinander von Juden und Christen. Dabei bedient er sich vieler Klischees und überschreitet auch mal die Grenze zum Antisemitismus. Doch Jacobson darf das. Als Autor jüdischer Abstammung darf er auch politisch unkorrekte Dinge beim Namen nennen.
Der Titel des Romanes deutet darauf hin: Jacobson hat bei seinem Schriftstellerkollegen Shakespeare nachgeschlagen, dessen „Der Kaufmann von Venedig“ Namensgeber des Romanes von Jacobson ist. Denn Shylock ist besagter Kaufmann, Jude und Geldverleiher, der im Venedig des 15. Jahrhunderts einem Christen Geld leiht. Da dieser seine Schulden nicht begleichen kann, muss ein Bürge herhalten. Shylock, der unter dem Spott und der Ablehnung seiner christlichen Mitbürger zu leiden hat, nutzt die Gelegenheit, um Rache an den Christen zu üben. Der Darlehensvertrag beinhaltet eine ungewöhnliche Klausel: Die Schuld ist mit einem Pfund Fleisch zu begleichen, herausgeschnitten aus dem Körper des Bürgen. Nur leider hat der jüdische Kaufmann nicht mit der Cleverness der venezianischen Christen gerechnet. Im Rahmen einer Gerichtsverhandlung wird er ausgetrickst. Am Ende fließt kein Blut, nur Shylocks Reichtümer. Und der dumme Jude steht am Ende mittellos dar, und die Christen sind schadenfroh.
(Das war die Kurzzusammenfassung von Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig".)
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Mit "Shylock" hat Howard Jacobson eine moderne Nacherzählung zu Shakespeares Kaufmann geschrieben. Dabei hat er sich nur in Ansätzen an die Handlung gehalten. Er konzentriert sich auf das Thema des Antisemitismus, das auch im Original zu finden ist, sowie das Miteinander von Juden und Christen in der heutigen Zeit.
"'Ob es eine Schwäche oder eine Strategie ist, kann ich nicht sagen. Sie rücken sich ins Zentrum jedweden Dramas, menschlicher wie theologischer Natur. Immer schon tun sie das. Ich sehe es als eine politische Traurigkeit. Der Kleister des Selbstmitleids ist stark. Wie emotionale Erpressung.'" (S. 36)
Zum Inhalt von "Shylock":
Irgendwo im England des 20. Jahrhunderts lebt Strulovitch, reicher jüdischer Kunsthändler und leidgeprüfter Vater einer 16-jährigen Tochter. Er ist ein gemäßigter Jude, der die Gesetze seiner Religion sehr großzügig auslegt. Er möchte nicht, dass das Jüdischsein sein Leben bestimmt. Ganz anders Shylock, eine Zufallsbekanntschaft von Strulovitch und streng gläubiger Jude, der mit seinen Ansichten wie ein Mensch aus einer anderen Zeit wirkt. Er quartiert sich bei Strulovitch ein. Die beiden führen Grundsatzdiskussionen zu der Frage „Was bedeutet es, ein Jude zu sein?“. Beide haben konträre Ansichten. Strulovitch wird jedoch eines Besseren belehrt, als Tochter Beatrice sich Gratan, Christ und Profi-Fußballer, an den Hals wirft, und er tatsächlich feststellen muss, dass er ein Problem mit der Glaubensrichtung des Auserwählten hat. Ganz abgesehen davon, dass der Profi-Fußballer mehr durch Skandale als durch sportliche Leistungen berühmt geworden ist. Der Freund der Tochter ist also alles andere als ein Traum-Schwiegersohn. Strulovitch fühlt sich seiner Tochter beraubt und sinnt genau wie Shakespeares Kaufmann auf blutige Rache, wobei ihm in seinem Fall ein bis zwei Gramm Fleisch genügen würden. Man ahnt, dass Strulovitchs Rachegelüste nicht in dem Maße befriedigt werden, wie er sich das vorstellt.
"Mit Nicht-Juden an sich hatte Strulovitch keine Probleme, wenn es allerdings darum ging, wen seine Tochter heiraten würde (und mit wem vielleicht schlafen), hatte er seine Vorbehalte. Wenn Strulovitch an den ehelichen Bund dachte, wurde der Christ zu einem Höhlenbewohner." (S. 89)
Howard Jacobsons Roman ist im Rahmen des Hogarth Shakespeare Projektes entstanden. Hier sind namhafte Autoren aufgefordert, ein Werk Shakespeares in ihrer eigenen Version nachzuerzählen. Mit diesem Wissen neigt man als Leser dazu, enge Parallelen zu dem Ursprungswerk zu suchen. In einer andere Nacherzählung, die ich bereits aus diesem Projekt gelesen habe, hat das wunderbar funktioniert. Bei Shylock tut man sich aber keinen Gefallen, wenn man nach diesen Parallelen sucht. Denn Jacobson hat sich einige schriftstellerische Freiheiten genommen, was die Auslegung des Originals angeht. Hauptsächlich konzentriert er sich auf die Frage: Was bedeutet es, ein Jude zu sein?
Shylock und Strulovitch - der Hardliner und der gemäßigte Jude - treten in diesem Roman zur Beantwortung dieser Frage gegeneinander an. Die beiden führen dabei innige Gespräche, die mit viel Ironie und Sarkasmus gewürzt und allein deshalb schon sehr unterhaltsam sind. Die Gespräche machen nachdenklich, sind vollgestopft mit Stereotypen, Vorurteilen, aber auch existenziellen Fragen zum Judentum. Soviel geballte Argumentation kann jedoch ermüden. Doch Howard Jacobson bietet dem Leser Verschnaufpausen. So wechselt Tiefsinn mit Slapstick. Strulovitchs christlicher Gegner ist D'Anton, Mitglied der B-Promi-Szene, zu der auch Strulovitchs Töcherterchen dank des Promi-Fußballers Gratan, in den sie sich verguckt hat, Zugang hat. Diese B-Promi-Szene ist ein Fegefeuer der Eitelkeiten und Dümmlichkeiten, das genügend Potenzial für humoristische Einlagen bietet, die Jacobson genüsslich ausschlachtet.
"Gratan war grundsätzlich kein Rassist (wann hatte man schon gesehen, dass er einen schwarzen oder asiatischen Spieler verhöhnt hätte?) und konnte klar belegen, dass er kein Antisemit war. Nennen Sie eine einzige Gelegenheit, bei der ich einen jüdischen Spieler gefoult hätte. Und mindestens eine seiner Frauen (er war so aus dem Stand nicht sicher, welche) war ein bisschen jüdisch gewesen." (S. 52)
Fazit:
Die Frage, was es bedeutet, heutzutage Jude zu sein, lässt sich auch nach der Lektüre dieses Romanes nicht beantworten. Ich war nur erstaunt, welche existenziellen Gedanken einem Juden zu schaffen machen. Viele dieser Gedanken habe ich ungläubig in Frage gestellt. Vielleicht ließen sich diese Überlegungen einer anderen Zeit als der heutigen zuschreiben? Sicher bin ich nicht. Auf jeden Fall hat mich der Roman für Vorurteile zwischen Juden und Christen sensibilisiert. Diese Vorurteile sind seit Jahrhunderten präsent, wenn auch heute wahrscheinlich in subtilerer Form.
In Anbetracht der Tatsache, dass "Shylock" dem Hogwarth Shakespeare Projekt zuzuordnen ist, ist das bisschen "Shakespeare", das sich in diesem Roman finden lässt, mit Sicherheit für den Shakespeare-affinen Leser nicht genug. Ich konnte mit diesem Aspekt gut leben. Denn am Ende hat mir der Roman aufgrund seiner Thematik und der scharfsinnigen Dialoge zwischen Shylock und Strulovitch gefallen.
© Renie
Über den Autor:
Howard Jacobson, 1942 in Manchester geboren, lebt in London. Er hat bisher dreizehn Romane und vier Sachbücher vorgelegt und zählt zu den renommiertesten Autoren Großbritanniens. Seine Romane erscheinen in zwanzig Ländern und wurden schon vielfach ausgezeichnet, u.a. erhielt er für „Die Finkler-Frage“ 2010 den Booker-Preis, den wichtigsten Literaturpreis der englischsprachigen Welt. Nach „Liebesdienst“ (2012) und „Im Zoo“ (2014), für den er den Bollinger Everyman Wodehouse Prize for Comic Fiction erhalten hat, ist "J" Jacobsons neuester Roman. Er stand 2014 auf der Shortlist des Booker-Preises. (Quelle: Randomhouse/Knaus)