Sonntag, 20. August 2023

R. C. Sherriff: Zwei Wochen am Meer

Quelle: Unionsverlag
Unaufgeregt, unspektakulär, einfach nur schön! Vor etwa 100 Jahren hat der britische Autor R. C. Sherriff einen zeitlosen Wohlfühlroman geschrieben, der mit seinem Titel kurz und knackig beschreibt, worum es darin geht - um „Zwei Wochen am Meer“.

Eben diese zwei Wochen verbringt die Familie Stevens im englischen Seebad Bognor Regis, übrigens schon seit 20 Jahren, und immer im September, immer in der Pension „Sea View“ und immer in denselben Zimmern. Dieser Urlaub stellt für die Stevens, die aus Dulwich, einem Londoner Vorort, kommen, das Highlight eines jeden Jahres dar. Vater Edward ist Büroangestellter in einer Londoner Firma, Mutter Flossie kümmert sich um den Haushalt und die Kinder, Mary und Dick, die beiden älteren Kinder sind bereits berufstätig und tragen zum bescheidenen Wohlstand der Familie bei, Nesthäkchen Ernie geht noch zur Schule. Einmal im Jahr gönnt sich die Familie diesen Urlaub, der eine Auszeit von den großen und kleinen Sorgen des Alltags bedeutet. Die Zeit in Bongor ist von Routinen geprägt. Spaziergänge, Strandbesuche, Baden im Meer, Konzertbesuche … same procedure as every year. Den größten Teil ihrer Zeit verbringt die Familie gemeinsam, mit wenigen Ausnahmen. Selbst die Wanderung, die Familienoberhaupt Edward jedes Jahr in Bongor allein unternimmt, gehört zu der Urlaubsroutine dazu.

Es mag sich heutzutage befremdlich anhören, dass dieser Urlaub kaum Spielraum zulässt, um den individuellen Bedürfnissen und Vorlieben der einzelnen Familienmitglieder gerecht zu werden. Doch die Stevens freuen sich darauf und genießen die Zeit, gehen sie doch als Familie gestärkt aus diesen zwei Wochen hervor. Denn der Zusammenhalt der Familie bildet für sie eine Bastion, die Schutz und Geborgenheit gegen den Alltag bietet. 

In dem Roman „Zwei Wochen am Meer“ passiert also nicht viel an Handlung. Dennoch ist dieser Roman auf eine wohltuende Weise fesselnd und berührend, da Autor Sherriff aus diesem Familienverbund einzelne Charaktere herauspickt und sich auf deren Sorgen und Gedanken konzentriert.

Einen starken Auftritt hat Familienoberhaupt Edward. Der Roman setzt am Vorabend des Anreisetages ein. Wir begleiten die Familie in ihren letzten Vorbereitungen in ihrem Häuschen im heimischen Dulwich. Familienoberhaupt Edward präsentiert sich als pedantischer Patriarch, der bei der Planung des Urlaubs nichts dem Zufall überlassen wird, genau wie in jedem Jahr zuvor. Diese Pedanterie lässt ihn tyrannisch wirken, doch tatsächlich treibt ihn die Verantwortung für das Wohl seiner Familie an. Die kommenden zwei Wochen sollen wie immer perfekt werden, nichts darf die Urlaubsfreuden seiner Familie stören. Der Druck, der auf ihm lastet und den er sich selbst macht, ist groß. Die kommenden zwei Wochen rücken Edward für den Leser in ein schmeichelhafteres Licht. Wir haben es mit einem liebenden Familienvater zu tun, dem es gut geht, wenn es seinen Lieben gut geht. R.C. Sherriff geht auf die Lebensgeschichte von Edward ein: ein Mann aus einfachen Verhältnissen, der es bis zum Büroangestellten geschafft hat, aber beruflich nicht weiterkommt. Er wäre gern ein anderer – wohlhabender, angesehener in der Gesellschaft. Aber er würde nie seine moralischen Werte aufgeben. Anstand, Loyalität, Bescheidenheit und Rücksichtnahme sind ihm wichtiger als jeder Reichtum. Und diese Einstellung versucht er auch seinen Kindern mit auf den Lebensweg zu geben.

Eine weitere interessante Figur ist Flossie Stevens. Insbesondere zu Beginn des Romans präsentiert sie sich als ängstliches unsicheres Frauchen, das kaum dem Druck, für das Wohl ihrer Familie zu sorgen, gewachsen ist und das seine eigenen Bedürfnisse vollständig hintenanstellt. Sie ist mehr Haushälterin als Ehefrau und Mutter, eine Rolle, in der sie auch der Rest der Familie unbewusst sieht. Man vermisst häufig den Respekt, der ihr zusteht, der ihr jedoch nicht entgegengebracht wird. Auch dafür ist dieser Urlaub gut. Denn im Verlauf des Urlaubs rückt die Familie näher zusammen. Ein Familienmitglied wie Flossie findet plötzlich mehr Beachtung und ihre Lieben gehen bewusster mit ihr um. Plötzlich ist es wieder wichtig, wie es ihr geht, was sie denkt und fühlt. Der Urlaub wird zwar nichts an ihrer Rolle im Alltag ändern, doch man wird das Gefühl nicht los, dass sie sich mit ihrem Leben als Vorstadt-Mutter arrangiert hat. Die Figur Flossie mag nicht dem (Wunsch-)Bild einer modernen Ehefrau und Mutter unserer heutigen Zeit entsprechen. Doch gibt R. C. Sherriff das gängige Frauenbild aus der Entstehungszeit seines Romans wieder.

Auch die erwachsenen Kinder Dick und Mary reisen, belastet mit den Sorgen des Alltags in Bognor an. Dick ähnelt seinem Vater, erhofft sich ein anderes Leben als das, was ihm vorbestimmt ist, angefangen bei der Wahl des Berufes. Auch er geht aus dem Urlaub gestärkt und voller Vorsätze, was seine berufliche Zukunft betrifft, hervor und blickt verhalten optimistisch in die Zukunft.

Mary träumt von dem, was sich junge Frauen der damaligen Zeit erträumten: Sich Verlieben, verloben, verheiraten. In den zwei Wochen kommt sie für einen kurzen Moment in die Nähe der Erfüllung ihrer romantischen Wunschvorstellung, was sich zumindest gut auf ihr Selbstbewusstsein auswirkt. 

R.C. Sherriff beschreibt die Familie Stevens mit einer wohltuenden Empathie, die man als Leser gern annimmt. Man blickt sehr wohlwollend und mitfühlend auf die Figuren dieses Romans und verzeiht ihnen ihre Eigenheiten und kleinen Fehler, da sie zum Menschsein dazugehören.

Der Sprachstil hat einen sehr großen Anteil an dem Wohlfühlfaktor dieses Romans. R.C. Sherriff war zu seinerzeit eher als Drehbuchautor, denn als Romancier bekannt. Diese Fähigkeit, Situationen in Szene zu setzen, merkt man diesem Roman an. Der Autor überlässt nichts der Vorstellungskraft der Leser, sondern beschreibt Handlungen bis ins klitzekleinste Detail und auf eine unglaublich bildhafte Weise. Sherriff hat die Eigenart, Requisiten Leben einzuhauchen, indem er sie personifiziert und sie zum Bestandteil der Handlung werden lässt. Diese Personifizierung macht sich auch in unzähligen Metaphern bemerkbar. Die Szenerie dieses Romans ist unfassbar lebendig und intensiv, so dass man sich selbst hineinversetzt fühlt und die Stimmungen mit allen Sinnen wahrnimmt.

Fazit

Zwei Wochen am Meer – ein Roman in dem nicht viel passiert: ein ganz normaler Urlaub und ein ganz normales Familienleben seiner Zeit. Doch der wunderschöne Sprachstil sowie die empathische Darstellung der Charaktere machen aus „Zwei Wochen am Meer“ eine literarische Perle, die bei mir bleibenden Eindruck hinterlässt. Leseempfehlung!


"Zwei Wochen am Meer" von R. C. Sherriff (Unionsverlag, ET Juni 2023)

Donnerstag, 17. August 2023

Tess Gunty: Der Kaninchenstall

Quelle: Kiepenheuer & Witsch

Die Gestaltung des Buchumschlags hätte mich vorbereiten müssen:
Diese Kombination aus niedlich-harmlosem Titel "Der Kaninchenstall" und psychedelisch-greller und farbenfroher Abbildung einer Wohnhausfront deutet auf einen Roman hin, der einiges an Überraschungen bereithalten könnte. Doch mit dem, was mir dann vor die Lesebrille kam, habe ich nicht gerechnet.

Tess Gunty erzählt in ihrem Debütroman „Der Kaninchenstall", für den sie prompt im Jahr seines Erscheinens (2022) den National Book Award erhielt, die Geschichte der Bewohner eines Hauses in Vacca Vale, einem fiktiven Ort inmitten der größten und ältesten Industrieregion Amerikas, dem sogenannten Rust Belt.
Dieses Haus ist nicht umsonst als „Der Kaninchenstall" bekannt. Denn die Bewohner leben hier eng an eng in ihren kleinen Appartements wie Kaninchen in ihren Verschlägen. Ab und zu läuft man sich im Kaninchenstall über den Weg. Aber im Großen und Ganzen lebt man isoliert.

Einer dieser Bewohner ist die 19-jährige Blandine, welche die Hauptfigur in diesem Buch ist und eine starke Affinität zu den Mystikerinnen der Geschichte hat. Ihr großes Vorbild ist Hildegard von Bingen. Gleich zu Beginn lesen wir, dass es ein blutiges Ende für Blandine nehmen wird. Was bis dahin in der Vergangenheit und insbesondere in den zwei Tagen vor dem blutigen Ereignis geschehen ist, erfahren wir durch weitere Charaktere, die entweder selbst im Kaninchenstall wohnen oder irgendeine Verbindung zu dessen Bewohnern haben. Zu behaupten, dass es sich bei diesen Charakteren um Menschen mit Ecken und Kanten handelt, wäre eine Untertreibung.

Denn die Figuren in diesem Roman haben psychische Probleme in unterschiedlichen Ausprägungen, die sie zu eigenwilligen Verhaltensweisen bringen, so dass man das Personal dieses Romans nicht anders als schräg bezeichnen kann. Blandine ist nur ein Beispiel für diese illustre Gesellschaft. Weitere Beispiele wären der 53-jährige Sohn einer Amerika weit bekannten und beliebten Schauspielerin, der seinen Mitmenschen auf – vorsichtig formuliert und spoilerfrei - kuriose und spektakuläre Weise begegnet und somit bei ihnen bleibenden Eindruck hinterlässt. Oder eine Mrs. Kowalski, die sich allein schon durch ihre Erwerbstätigkeit dem Leser ins Gedächtnis brennen wird: Sie arbeitet bei RESTINPEACE.com, einer Internet-Plattform für Nachrufe und Beileidsbekundungen. Hier prüft sie „Kommentare zu Nachrufen auf Kraftausdrücke, Urheberrechtsverletzungen und üble Nachrede, die die Toten verunglimpft.“ Man wäre überrascht, „…wie gemein manche Leute zu den Toten sind.“

Die Geschichte um den Kaninchenstall präsentiert sich von Anfang an als eine psychedelische Gemengelage aus schrägen Charakteren und einer verrückten Handlung, die unvorhersehbare Wendungen nimmt. Ähnlich turbulent ist auch der Aufbau dieses Romans sowie die wechselhafte Erzählweise: auktoriale und personale Erzähler, Rückblicke, Social Media Posts, Illustrationen anstelle von Text. Und immer wieder mehr oder minder versteckte Verbindungen zu Themen, welche eine Gesellschaft – in diesem Fall die amerikanische – in der heutigen Zeit auf Trab halten. Doch dieses Chaos ist gewollt, so dass es in diesem Roman definitiv nicht langweilig wird. Zudem beherrscht Tess Gunty dieses Chaos. Denn trotz des Durcheinanders lässt sich der rote Erzählfaden in diesem Roman bis zum Schluss erkennen und wird auch nicht lockergelassen.

Sollte man Tess Gunty eines ankreiden, dann ihre Ambition, Themen, die eine moderne Gesellschaft beschäftigen, nahezu lückenlos in ihrem Roman ansprechen zu wollen. Dies ist eine Eigenart, die sich gern bei zeitgenössischen amerikanischen Autoren finden lässt. Diese Kritikansammlung erinnert an das Abarbeiten einer Liste und erscheint mir zu oberflächlich. Ich würde mir hier eine Konzentration auf einzelne Themen wünschen und damit die Möglichkeit zu einer intensiveren Auseinandersetzung. Da jedoch „Der Kaninchenstall" an Originalität und schriftstellerischer Experimentierfreude nicht zu überbieten ist, lässt sich dieser, „All-you-can-criticize"- Ehrgeiz von Tess Gunty leicht verschmerzen.

Leseempfehlung!

Montag, 27. Juni 2022

Michael Basse: Yank Zone

In "Yank Zone", dem Roman des Münchner Autoren Michael Basse liegt Amerika inmitten von Baden-Württemberg, im beschaulichen Maulbronn.
Hier treffen wir erstmalig im Jahr 1972 auf Lt. Colonel Hartman und seinen Sohn Jack sowie Mani – Quasi-Adoptivsohn von Hartman Senior und bester Freund des Juniors.

Mani besucht ein Kloster-Internat und verbringt seine freie Zeit in dem Hard Man’s Guest House, wie das Hartmansche Heim scherzhaft genannt wird. Doch der Name ist Programm. Lt. Colonel Ross Raymond Hartman ist ein dekorierter Kriegsveteran, der im Vietnamkrieg zu Ruhm und Ehre gekommen ist. Er ist die Verkörperung eines amerikanischen Kriegshelden. Ein ganzer Kerl! Ein echter Hardman!
Buchseite und Rezensionen zu 'Yank Zone: Roman (Edition Klöpfer)' von Michael Basse
Quelle: Alfred Kröner Verlag

Colonel Hartman gehört zu denen, die mit Ende des zweiten Weltkrieges Deutschland vom Faschismus befreit haben. Seitdem lebt er hier, in Maulbronn. Gleich zu Beginn seiner Dienstzeit heiratete er eine Deutsche, eines von den damaligen Frolleins. Jack war der einzige Sohn dieser deutsch-amerikanischen Verbindung. Mrs. Hartman verstarb bereits in jungen Jahren, zu diesem Zeitpunkt war Jack war gerade mal sieben Jahre alt.
Das Verhältnis von Vater und Sohn war selten einfach. Denn als Sohn eines Helden, für den Schwäche ein Fremdwort ist, konnte Jack, der von Kindheit an gestottert hat, kaum bestehen.
Der selbstbewusste und energische Mani ist da ein anderes Kaliber. Es bleibt nicht aus, dass die Freunde Jack und Mani um die Gunst von Vater Hartman buhlen, was ihre Freundschaft natürlich in ein merkwürdiges Licht rückt.

Über die Jahre werden sich die Verbindungen im Hard Man’s Guest House auseinanderdividieren. Die Jungs werden erwachsen und werden ihre eigenen Wege gehen. Mit zunehmendem Alter werden die Jungs erkennen, dass ein Held auch nur ein Mensch ist.
Der Colonel wird wieder heiraten: Maggie, eine Freundin aus Frollein-Zeiten der verstorbenen Mrs. Hartman; und Jack wird sich in die Bulgarin Lydia verlieben.

Der deutsche Autor Michael Basse erzählt die Geschichte dieser Menschen über einen Zeitraum von 30 Jahren. Jack, Mani, Maggie und später auch Lydia sind die Ich-Erzähler dieses Romans und lassen somit unterschiedliche Perspektiven auf die Geschichte zu. Den Rahmen bildet dabei die Nachkriegsgeschichte Deutschlands bis zur Jahrtausendwende sowie die Geschichte Bulgariens in der postsowjetischen Zeit.
Diese Verbindung zu Bulgarien mag zunächst verblüffen, doch wirft sie einen interessanten Blick auf die Nachwirkungen des Krieges, der in den Köpfen von Menschen wie Colonel Hartman Fortbestand hat. Es ist für ihn nicht leicht zu verdauen, dass sich Sohn Jack mit dem Feind verbündet, als er mit Lydia, einer Frau aus dem kommunistischen Ostblock, eine Beziehung eingeht.

Der Roman spiegelt den Zeitgeist der unterschiedlichen Dekaden wieder und macht einfach nur Spaß. Jede der vier Erzählperspektiven hat einen eigenen Erzählsound, der für Abwechslung sorgt und die Frage nach der jeweiligen Figur, die gerade den Erzählpart übernommen hat, schnell beantwortet. Man sollte jedoch der englischen Sprache mächtig sein, denn viele Textpassagen sind in Englisch gehalten. Es wäre schade und würde diesem Roman viel nehmen, wenn man verständnislos einfach darüber hinweglesen würde.
"In jedem stecke ein Amerikaner, der rauswolle. Raus solle. Koste es, was es wolle. Auch wenn er es manchmal selbst noch nicht wisse und man ein bisschen nachhelfen müsse. Das Wesen des Amerikaners sei sein unbändiger Freiheitswille. Gleichheit, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit seien zwar auch Werte, aber nachrangig. Zuviel davon verheiße Schwäche, Unfreiheit, Ohnmacht. Freiheit sei Stärke…. Ein Amerikaner kapituliert nicht. Niemals. Nur so funktioniert Abschreckung. Anders ist sie nunmal nicht glaubhaft. Deshalb gibt es am Ende auch nur zwei Arten von Menschen: Amerikaner und solche, die es werden wollen – und die Feinde Amerikas."
Anhand der Geschichte der Protagonisten wird die deutsch-amerikanische Beziehung aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchtet und nimmt daher einen großen Raum in diesem Buch ein. Doch Autor Michael Basse richtet das Augenmerk auch auf andere „Kriegsschauplätze“, wie z. B. das besondere Vater-Sohn-Verhältnis von Hartman Senior und Junior, die Rolle Amerikas im Vietnamkrieg oder die Geschichte der deutschen Frolleins.

Fazit:
Michael Basse erzählt einen Teil der Geschichte Nachkriegsdeutschland auf sehr ausgefallene und einzigartige Weise. Ein ungewöhnlicher Roman, der mich immer wieder durch neue Denkanstöße und unterschiedliche Blickwinkel auf das, was Deutschland und Amerika verbindet, überraschen konnte.
Leseempfehlung!

© Renie

Sonntag, 19. Juni 2022

Louise de Vilmorin: Belles Amours

Die adelige Louise de Vilmorin war eine französische Schriftstellerin, deren Leben heutzutage genügend Stoff für einschlägige Klatschblätter, die sich mit den Promis dieser Welt befassen, liefern würde. Louise war mal mit Antoine de St.Exupéry verlobt, geheiratet hat sie jedoch einen US-amerikanischen Millionär (Ehe 1) und später einen österreichisch-ungarischen Playboy (Ehe 2). Man munkelt, dass sie daraufhin diverse Affären mit den unterschiedlichsten Männern des öffentlichen Lebens hatte, u.a. Charles de Gaulle. Auf ihrem Familienschloss ging die Elite der französischen Künstler ein und aus. Und dass Louise ihren Roman „Belles Amours“ niemand geringerem als Orson Welles gewidmet hat, kommt sicherlich auch nicht von ungefähr. 

Wie in fast all ihren Romanen erzählt Louise de Vilmorin in „Belles Amours“ eine Geschichte aus der Welt der französischen Reichen und Schönen der 50er Jahre. 

 

Diesmal geht es um eine junge Frau, die zum Objekt der Begierde für gleich zwei Männer wird. Begehrt wird sie zunächst von Louis Duville, um die 30 Jahre alt, Spross einer reichen Familie und Schürzenjäger. Die Jagd nach Schürzen findet zunächst ein jähes Ende, als sich Louis Hals über Kopf in eben jene Madame verliebt. In Rekordzeit wird sich verlobt, der Termin der Hochzeit steht bereits fest, doch in der Nacht vor dem glücklichen Ereignis, macht sich die Braut davon. Ein alter Freund der Familie Duville und Hochzeitsgast ist Louis in die Quere gekommen. Mit der Liebe scheint es also bei Madame nicht weit hergeholt zu sein, denn diese erliegt in kurzen Momenten des Kennenlernens dem Charme des über 20 Jahre älteren Argentinier M. Zaguirre. Die Dame wird zu Mme. Zaguirre und lebt von da an in der Abgeschiedenheit des argentischen Anwesens ihres Mannes. Innerhalb kurzer Zeit kommt  Langeweile auf. Und wie es sich für reiche Jetsetter gehört, wird schon bald wieder nach Europa gereist.

Schon beginnen die Irrungen und Wirrungen einer vermeintlich glücklichen Ehe und einer Frau, die nicht weiß, was sie will. Doch dafür wissen die Kreise der gehobenen Gesellschaft, in der man sich bewegt, umso besser, was eine Frau des Standes einer Mme. Zaguirre will. Während ihres Aufenthaltes in Europa wird Mme. Zaguirre auch wieder dem einst verschmähten Louis begegnen. Nur so viel: er kommt nicht von ihr los – vielleicht ist es auch Rache an dem „guten Freund“ der Familie. Und sie weiß immer noch nicht, was gut für sie ist.

 

Es geht in diesem Roman um Liebe bzw. das, wofür sie gehalten wird. Die Frau, die im Mittelpunkt der Handlung steht, ist ein Objekt der Begierde, das es zu besitzen gilt. Das Objekt lässt sich auf dieses Spiel ein. Denn stellvertretend für die Frauen ihrer Zeit und ihrer gesellschaftlichen Kreise steht für sie der Versorgungsgedanke im Vordergrund und die damit verbundene Angst, plötzlich ohne die nötigen Mittel dazustehen, um ihren luxuriösen Lifestyle aufrecht zu erhalten. Von dem Ruf einer Dame mal abgesehen.

Man kann Louise de Vilmorin eine scharfe Beobachtungsgabe attestieren. Schließlich war sie in eben diesen gesellschaftlichen Kreisen zuhause und wusste daher, wie das menschliche Miteinander in der High Society ihrer Zeit funktionierte.

Dabei erzählt sie diese Geschichte mit großer Leichtigkeit, viel Esprit und Amüsement. Sie schien zumindest über den Dingen zu stehen und behielt die Oberhand im Spiel zwischen Mann und Frau – glaubt man ihrer Biografie. 

 

Ich habe diesen Roman mit großem Vergnügen gelesen. Die Seiten flogen nur so dahin und ich fühlte mich in einen Hollywood-Film der 50er Jahre hineinversetzt, Cary Grant und Grace Kelly lassen grüßen.  

Leseempfehlung!


© Renie


Louise de Vilmorin: Belles Amours (Dörlemann Verlag)

Donnerstag, 5. Mai 2022

Djaïli Amadou Amal: Die ungeduldigen Frauen

Munyal – Geduld!
Mit diesem Ausspruch beginnt der Roman „Die ungeduldigen Frauen“ von Djaïli Amadou Amal. Diese Worte werden dem Leser in diesem Buch noch häufiger begegnen. Und mit Fortschreiten der Handlung wird man immer wütender darauf reagieren.

Denn das, was die muslimische Autorin aus Kamerun zu erzählen hat, kann nur fassungslos und wütend machen: es geht um Zwangsheirat, Polygamie und Gewalt gegen Mädchen und Frauen.

Erzählt wird die Geschichte von drei Frauen in der Sahelzone Kameruns.

Teil 1: Ramla
Das 17-jährige Mädchen steht kurz vor ihrem Schulabschluss und träumt davon, Apothekerin zu werden. Sie verliebt sich in einen Freund ihres Bruders, beide möchten heiraten. Doch Ramlas Vater entscheidet anders. Sie wird einen deutlich älteren Mann heiraten und als eine von mehreren Ehefrauen dieses Mannes ihre Träume von einer Liebesheirat und einem Beruf als Apothekerin begraben.

Teil 2: Hindou
Sie ist die gleichaltrige Schwester von Ramla, wenn auch nicht die Tochter derselben Mutter. Denn auch der Vater der beiden Schwestern lebt in einer Polygamie. Am Tag von Ramlas Hochzeit wird auch Hindou heiraten. Sie wird einem ihrer Cousins zur Frau gegeben, dessen Brutalität, Alkoholismus und Drogenkonsum von der Familie geduldet wird. Hindou wird zum Spielball seiner gewalttätigen Fantasien.

Quelle: Orlanda
Teil 3: Safira
Sie ist die Erstfrau von Ramlas Ehemann und fühlt sich durch die neue und deutlich jüngere Ramla in ihrer führenden Rolle innerhalb des Haushaltes bedroht. Sie tut alles, um ihren Platz zu behaupten.

Diese Frauen leiden. Und die einzige Unterstützung und Hilfestellung, die sie in ihrem Leben als zwangsverheiratete Frau erhalten, ist ein Ratschlag: Munyal – Geduld!
Geduld ist ein Begriff, mit dem man Positives assoziiert: Beherrschung, Ausdauer, Rücksichtnahme, Gelassenheit, Durchhaltevermögen, Duldsamkeit. Doch Frauen, wie die drei Protagonistinnen dieses Romans, werden dem Rat „Geduld!“ wenig abgewinnen können, bedeutet er doch für sie ein Leben in Angst und ohne Hoffnung.
Was daher bleibt, ist die Ungeduld! So versucht jede Frau sich auf eine eigene und subtile Art gegen das, was ihr widerfährt zur Wehr zu setzen. 

„Die ungeduldigen Frauen“ ist eine Anklageschrift gegen die Unterdrückung von Frauen.
Dajïli Amadou Amal ist selbst eine der ungeduldigen Frauen, denn auch sie wurde mit 17 Jahren zwangsverheiratet. Ihre Ungeduld hat dazu beigetragen, dass sie heute als Frauenrechtsaktivistin für die Rechte der Frauen ihres Landes eintritt. Es bleibt zu hoffen, dass ihre Ungeduld bei den Frauen Kameruns Schule machen wird!

Der Roman ist im Jahre 2020 mit dem Prix Goncourt des Lycéens ausgezeichnet worden, einem Ableger des französischen Literaturpreises. Zuletzt wurde Dajïli Amadou Amal von der französischen Fachzeitschrift der Buchbranche Livres Hebdo als erste Frau des afrikanischen Kontinents zur „Autorin des Jahres 2021“ gekürt. Zu Recht! Denn sowohl Roman als auch Autorin haben ganz viel Aufmerksamkeit verdient.

Leseempfehlung!

© Renie


Sonntag, 3. April 2022

Franck Bouysse: Rauer Himmel

Quelle: Polar Verlag
Eine trostlose und düstere Landschaft, eigenbrötlerische und verschlossene Charaktere, Familiengeheimisse und Tod. Die Geschichte „Rauer Himmel“ von Franck Bouysse ist ein Kriminalroman der Extraklasse, der nicht nur durch seine literarische Sprache besticht. 

Schauplatz ist ein fiktiver Ort in den französischen Cévennen im Winter: Les Doges - ein einsamer Ort, der aus zwei Höfen besteht, die von den beiden Protagonisten Gus und Abel bewohnt werden, die ich mir in keinem anderen Szenario als in dieser Trostlosigkeit vorstellen kann. Die beiden Männer sind eigenbrötlerisch, ihr Leben richtet sich nach der Natur und den Jahreszeiten, sie vermeiden den Kontakt zu anderen Menschen.
Gus und Abel gehen sich zur Hand, wenn Arbeiten auf den Höfen anfallen, die allein nicht zu bewältigen sind, verbunden mit einem anschließenden Gespräch bei einem Gläschen Wein. Ansonsten geht man sich aus dem Weg. Denn jeder ist sich selbst genug. Leben und leben lassen.
Eines Tages wird Gus durch einen Schuss und Schreie aus der Richtung des Hofes von Abel aufgeschreckt. Dieser Vorfall ist der Anfang einer Kette von Ereignissen, die die Beziehung der beiden Männer in den darauffolgenden Wochen verändern wird. Das Miteinander der Männer wird mit einem Mal von Misstrauen geprägt sein, sie werden sich belauern, in der Überzeugung, dass der andere etwas zu verbergen hat. Welche Geheimnisse im Verborgenen liegen, zeigt sich erst zum Ende des Romans, so dass der Leser ausreichend Gelegenheit haben wird, sich in eigenen Spekulationen zu versuchen.
"Den Toten vergibt man viele Dinge, auch Dinge, die wir nicht vergeben sollten."
„Rauer Himmel“ ist ein unglaublich spannender Roman. Der trostlose Schauplatz legt dabei gleich zu Anfang den Grundstein für den Aufbau einer unheimlichen Stimmung. Wo nicht, wenn an einem Ort, der dermaßen abgeschieden und trostlos düster ist, passieren schreckliche Dinge? Diese gruselige Atmosphäre begleitet den Leser bis zum Schluss. Bemerkenswert ist dabei die hohe Sprachqualität dieses Romans. Sätze und Formulierungen scheinen mit Bedacht gewählt zu sein und verbergen eine tiefere Bedeutung. Wenn man sich Zeit nimmt und sich auf diese Bedachtsamkeit einlässt, wird man von der Atmosphäre dieses Buches komplett vereinnahmt.
Das lässt ein Ende dieses Romans, das ein paar Fragen zu der Handlung und seinen Charakteren leider nicht beantwortet, leicht verschmerzen.
„Rauer Himmel“ ist daher für mich ein unglaublich fesselnder Kriminalroman und in seiner Gesamtheit ein literarisches Kunstwerk, das mich begeistert hat.

© Renie





Mittwoch, 16. Februar 2022

Stefanie vor Schulte: Junge mit schwarzem Hahn

Der Debütroman "Junge mit schwarzem Hahn" von Stefanie vor Schulte ist ein düsteres Märchen, in dem die Autorin ein Szenario kreiert, das eine gehörige Portion Grusel mitbringt.

Der Inhalt der Geschichte ist in einem Satz zusammengefasst: Es werden Kinder entführt und ein Held, der keiner ist, macht sich auf den Weg, diese Kinder zu befreien.
Der Schauplatz erinnert dabei an einen Sündenpfuhl biblischen Ausmaßes und lässt sich nur in etwa lokalisieren: deutschsprachiger Raum, ländliche Gegend. Die Zeit der Handlung könnte im düsteren Mittelalter spielen, technische Errungenschaften existieren nicht. Keine Elektrizität, man ist zu Fuß oder zu Pferd unterwegs. Seuchen und Kriege überziehen das Land. 
Quelle: Diogenes
Dummheit, Hass und Niedertracht regieren diese Welt. Der größte Teil der erwachsenen Charaktere dieses Romans verkörpert dabei das Böse. In all dieser apokalyptischen Düsterkeit gibt es eine Lichtgestalt: Martin, ein 11-Jähriger und Verkörperung des Guten. Das Kind Martin hat ein reines Herz. Die Menschen misstrauen Martin. Denn Martin trägt den "Teufel" mit sich herum: einen schwarzen Hahn. Dieser ist sein einziger Freund. Nur wenige Menschen, denen Martin begegnet, zeigen Menschlichkeit und sind es wert, seine Zuneigung zu gewinnen.

Der Sprachstil der Autorin ist anfangs nicht leicht zu lesen: sehr kurze, abgehackte Sätze, und eine stellenweise archaische Ausdrucksweise. Doch nach ein paar Seiten ist man in der Welt, die Stefanie vor Schulte in ihrem Roman heraufbeschwört, angekommen. 
Martin ist der Sympathieträger in diesem Roman, keiner ist wie er. In seiner Kindlichkeit und naiven Aufrichtigkeit hat man ihn schnell ins Herz geschlossen. Demgegenüber stehen die dummen Erwachsenen, die in ihrer Schlechtigkeit und Idiotie häufig für Entsetzen, aber auch für Schadenfreude sorgen. 

Bei solch einem ungewöhnlichen Roman liegt die Frage nach der Symbolik und den Parallelen zur heutigen Zeit nahe. Man könnte sich daher in Interpretationsversuchen verlieren, was sicherlich zu Verknotungen in den Hirnwindungen führen würde. Daher sollte man diesen Roman einfach als das nehmen, was er auf den ersten Blick ist: eine märchenhafte Geschichte über das Gute und das Böse, mit einem Helden, den man einfach mögen muss. 

Leseempfehlung!

© Renie