Unaufgeregt, unspektakulär, einfach nur schön! Vor etwa 100 Jahren hat der britische Autor R. C. Sherriff einen zeitlosen Wohlfühlroman geschrieben, der mit seinem Titel kurz und knackig beschreibt, worum es darin geht - um „Zwei Wochen am Meer“.Quelle: Unionsverlag
Eben diese zwei Wochen verbringt die Familie Stevens im englischen Seebad Bognor Regis, übrigens schon seit 20 Jahren, und immer im September, immer in der Pension „Sea View“ und immer in denselben Zimmern. Dieser Urlaub stellt für die Stevens, die aus Dulwich, einem Londoner Vorort, kommen, das Highlight eines jeden Jahres dar. Vater Edward ist Büroangestellter in einer Londoner Firma, Mutter Flossie kümmert sich um den Haushalt und die Kinder, Mary und Dick, die beiden älteren Kinder sind bereits berufstätig und tragen zum bescheidenen Wohlstand der Familie bei, Nesthäkchen Ernie geht noch zur Schule. Einmal im Jahr gönnt sich die Familie diesen Urlaub, der eine Auszeit von den großen und kleinen Sorgen des Alltags bedeutet. Die Zeit in Bongor ist von Routinen geprägt. Spaziergänge, Strandbesuche, Baden im Meer, Konzertbesuche … same procedure as every year. Den größten Teil ihrer Zeit verbringt die Familie gemeinsam, mit wenigen Ausnahmen. Selbst die Wanderung, die Familienoberhaupt Edward jedes Jahr in Bongor allein unternimmt, gehört zu der Urlaubsroutine dazu.
Es mag sich heutzutage befremdlich anhören, dass dieser Urlaub kaum Spielraum zulässt, um den individuellen Bedürfnissen und Vorlieben der einzelnen Familienmitglieder gerecht zu werden. Doch die Stevens freuen sich darauf und genießen die Zeit, gehen sie doch als Familie gestärkt aus diesen zwei Wochen hervor. Denn der Zusammenhalt der Familie bildet für sie eine Bastion, die Schutz und Geborgenheit gegen den Alltag bietet.
In dem Roman „Zwei Wochen am Meer“ passiert also nicht viel an Handlung. Dennoch ist dieser Roman auf eine wohltuende Weise fesselnd und berührend, da Autor Sherriff aus diesem Familienverbund einzelne Charaktere herauspickt und sich auf deren Sorgen und Gedanken konzentriert.
Einen starken Auftritt hat Familienoberhaupt Edward. Der Roman setzt am Vorabend des Anreisetages ein. Wir begleiten die Familie in ihren letzten Vorbereitungen in ihrem Häuschen im heimischen Dulwich. Familienoberhaupt Edward präsentiert sich als pedantischer Patriarch, der bei der Planung des Urlaubs nichts dem Zufall überlassen wird, genau wie in jedem Jahr zuvor. Diese Pedanterie lässt ihn tyrannisch wirken, doch tatsächlich treibt ihn die Verantwortung für das Wohl seiner Familie an. Die kommenden zwei Wochen sollen wie immer perfekt werden, nichts darf die Urlaubsfreuden seiner Familie stören. Der Druck, der auf ihm lastet und den er sich selbst macht, ist groß. Die kommenden zwei Wochen rücken Edward für den Leser in ein schmeichelhafteres Licht. Wir haben es mit einem liebenden Familienvater zu tun, dem es gut geht, wenn es seinen Lieben gut geht. R.C. Sherriff geht auf die Lebensgeschichte von Edward ein: ein Mann aus einfachen Verhältnissen, der es bis zum Büroangestellten geschafft hat, aber beruflich nicht weiterkommt. Er wäre gern ein anderer – wohlhabender, angesehener in der Gesellschaft. Aber er würde nie seine moralischen Werte aufgeben. Anstand, Loyalität, Bescheidenheit und Rücksichtnahme sind ihm wichtiger als jeder Reichtum. Und diese Einstellung versucht er auch seinen Kindern mit auf den Lebensweg zu geben.
Eine weitere interessante Figur ist Flossie Stevens. Insbesondere zu Beginn des Romans präsentiert sie sich als ängstliches unsicheres Frauchen, das kaum dem Druck, für das Wohl ihrer Familie zu sorgen, gewachsen ist und das seine eigenen Bedürfnisse vollständig hintenanstellt. Sie ist mehr Haushälterin als Ehefrau und Mutter, eine Rolle, in der sie auch der Rest der Familie unbewusst sieht. Man vermisst häufig den Respekt, der ihr zusteht, der ihr jedoch nicht entgegengebracht wird. Auch dafür ist dieser Urlaub gut. Denn im Verlauf des Urlaubs rückt die Familie näher zusammen. Ein Familienmitglied wie Flossie findet plötzlich mehr Beachtung und ihre Lieben gehen bewusster mit ihr um. Plötzlich ist es wieder wichtig, wie es ihr geht, was sie denkt und fühlt. Der Urlaub wird zwar nichts an ihrer Rolle im Alltag ändern, doch man wird das Gefühl nicht los, dass sie sich mit ihrem Leben als Vorstadt-Mutter arrangiert hat. Die Figur Flossie mag nicht dem (Wunsch-)Bild einer modernen Ehefrau und Mutter unserer heutigen Zeit entsprechen. Doch gibt R. C. Sherriff das gängige Frauenbild aus der Entstehungszeit seines Romans wieder.
Auch die erwachsenen Kinder Dick und Mary reisen, belastet mit den Sorgen des Alltags in Bognor an. Dick ähnelt seinem Vater, erhofft sich ein anderes Leben als das, was ihm vorbestimmt ist, angefangen bei der Wahl des Berufes. Auch er geht aus dem Urlaub gestärkt und voller Vorsätze, was seine berufliche Zukunft betrifft, hervor und blickt verhalten optimistisch in die Zukunft.
Mary träumt von dem, was sich junge Frauen der damaligen Zeit erträumten: Sich Verlieben, verloben, verheiraten. In den zwei Wochen kommt sie für einen kurzen Moment in die Nähe der Erfüllung ihrer romantischen Wunschvorstellung, was sich zumindest gut auf ihr Selbstbewusstsein auswirkt.
R.C. Sherriff beschreibt die Familie Stevens mit einer wohltuenden Empathie, die man als Leser gern annimmt. Man blickt sehr wohlwollend und mitfühlend auf die Figuren dieses Romans und verzeiht ihnen ihre Eigenheiten und kleinen Fehler, da sie zum Menschsein dazugehören.
Der Sprachstil hat einen sehr großen Anteil an dem Wohlfühlfaktor dieses Romans. R.C. Sherriff war zu seinerzeit eher als Drehbuchautor, denn als Romancier bekannt. Diese Fähigkeit, Situationen in Szene zu setzen, merkt man diesem Roman an. Der Autor überlässt nichts der Vorstellungskraft der Leser, sondern beschreibt Handlungen bis ins klitzekleinste Detail und auf eine unglaublich bildhafte Weise. Sherriff hat die Eigenart, Requisiten Leben einzuhauchen, indem er sie personifiziert und sie zum Bestandteil der Handlung werden lässt. Diese Personifizierung macht sich auch in unzähligen Metaphern bemerkbar. Die Szenerie dieses Romans ist unfassbar lebendig und intensiv, so dass man sich selbst hineinversetzt fühlt und die Stimmungen mit allen Sinnen wahrnimmt.
Fazit
Zwei Wochen am Meer – ein Roman in dem nicht viel passiert: ein ganz normaler Urlaub und ein ganz normales Familienleben seiner Zeit. Doch der wunderschöne Sprachstil sowie die empathische Darstellung der Charaktere machen aus „Zwei Wochen am Meer“ eine literarische Perle, die bei mir bleibenden Eindruck hinterlässt. Leseempfehlung!
"Zwei Wochen am Meer" von R. C. Sherriff (Unionsverlag, ET Juni 2023)