Samstag, 7. November 2020

Kerstin Hensel: Regenbeins Farben

Quelle: Pixabay/capri23auto
Eine Geschichte, deren Handlung hauptsächlich auf dem Friedhof stattfindet, ist entweder todtraurig, gruselig spannend oder übersinnlich. Die Eigenschaften "lustig" und "komisch" verbindet man eher selten damit. Doch Kerstin Hensel hat mich mit ihrer Novelle "Regenbeins Farben" eines Besseren belehrt. 

Schauplatz ist ein Friedhof, der in der Einflugschneise eines Flughafens liegt. Von morgens bis abends donnern Flugzeuge mit einem Höllenlärm über diesen Friedhof hinweg. Die Toten stört es nicht, und die Trauernden haben sich daran gewöhnt. So auch unsere 4 Protagonisten:
Karline Regenbein - bisher unentdeckte Malerin, schüchtern und unscheinbar, Witwe eines Fotografen, der sich in der Ehe als eifersüchtiger Kontrollfreak erwies.
Lore Müller-Kilian - verwitwete Industriellengattin, die sich schon immer ihre langweilige Existenz durch die schönen und luxuriösen Dinge des Lebens, versüßt hat. Lore besitzt eine Kunstsammlung.
Ziva Schlott - 80-jährige Kunstprofessorin und kettenrauchende Zynikerin. Sie war mit einem Kollegen verheiratet, der jedoch keine maßgebliche Rolle in ihrem Leben gespielt hat.
Eduard Wettengel - junggebliebener Galerist, den die Trauer über den Verlust eines Ehepartners von allen Protagonisten am meisten zu treffen scheint.
Quelle: Luchterhand
Jeden Tag kommen diese vier Personen zum Friedhof, um nach den Gräbern ihrer Liebsten zu sehen und zu trauern - jeder auf seine Weise.
"'Heul nicht', befiehlt Ziva. 'Trauer muss man treten. Das ist nur gerecht! Am Anfang hätschelst du sie wie einen Welpen, das ist bereits der erste Fehler. Sie macht mit dir, was sie will, weil du denkst, sie liebt dich. Aber sie will nur fressen, wachsen und den, der sie füttert, beherrschen. Wenn du sie nach ein paar Monaten nicht gelehrt hast, dir zu gehorchen, wird sie dich irgendwann reißen.'"
Im Verlauf der Friedhofsgeschichte zeichnet sich ab, dass sich die Vier nicht erst hier kennengelernt haben. Durch ihre Verbindung zur Kunst kennen sich die Protagonisten bereits seit vielen Jahren.

Die Buchbeschreibung zu dieser Novelle verleitet dazu, eine Komödie über 3 lustige Witwen zu erwarten, die auf der Suche nach einem Mann sind. Keine Frage, selbstverständlich buhlen die Damen um Eduards Gunst - sonst wäre es ja nicht lustig. Doch tatsächlich bildet dieser Aspekt nur einen Bruchteil dessen, was einen in dieser Geschichte erwartet.

Ich habe diese Novelle auch als Entwicklungsgeschichte gesehen, die verdeutlicht, dass Trauer als Chance betrachtet werden kann. Insbesondere die Namensgeberin der Novelle, Karline Regenbein, deren Ego während ihrer Ehe unter der kranken Dominanz ihres Gatten leiden musste, lernt langsam, aber stetig, ihr Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen und sich auf ihre eigenen Bedürfnisse zu konzentrieren. Dieses neue Ich findet Ausdruck in ihren Bildern, die wiederum ihren Weg in die Öffentlichkeit finden - natürlich mit Unterstützung der anderen beiden Witwen sowie dem Galeristen. 
Darüberhinaus ist "Regenbeins Farben" ein Satire, in der die Scheinwelt der Kunstszene genussvoll abgewatscht wird. Die Autorin läuft dabei zur Höchstform auf. 
"Auf dem Hausvorplatz versammeln sich Leute, einander in ihrer Kunstsinnigkeit übertrumpfend. Damen tragen, mit akrobatischem Ehrgeiz, hohe Schuhe aus Lackleder. Auch Herren sind der Kothurnmode erlegen und üben auf Plateausohlen Standfestigkeit. Anzüge, Kleider, Hüte werden in einer Show exquisiter Labels vorgeführt. Man setzt auf Naturstoffe und Einzeldesign. Die Frisuren der Galeriebesucher zeigen ebenfalls Ergebnisse kreativer Farb- und Formgestaltung."
Durch den eigenwilligen Sprachstil der Autorin, die eine Meisterin der Ironie ist, wird der Leser durch die Handlung gewirbelt. Denn Kerstin Hensel hat Spaß an anspruchsvollen Wortspielereien, von denen ich in diesem Buch nicht genug kriegen konnte.

Fazit:
Ein gelungenes literarisches Paket aus Komödie, Entwicklungsgeschichte und Satire, das durch die anspruchsvollen Wortspielereien von Kerstin Hensel zu einem großen Lesevergnügen wird. 

Leseempfehlung!

© Renie