Freitag, 22. Juni 2018

Donal Ryan: Die Lieben der Melody Shee

Quelle: Pixabay/rmac8oppo

Ich habe einen neuen Lieblingsschriftsteller: den Iren Donal Ryan, von dem ich seinen, vor Kurzem im Diogenes Verlag erschienenen Roman "Die Lieben der Melody Shee" (im Original "All we shall know" (2016)) verschlungen habe.
Der Autor präsentiert in diesem Roman eine vielschichtige Story, eine Protagonistin, die es dem Leser nicht leicht macht und einen ausdrucksstarken Sprachstil. Alles Dinge, die einen Roman für mich lesenswert machen. Kaum zu glauben, dass Ryans erste Romane insgesamt 47mal abgelehnt worden sind. Doch Qualität setzt sich zum Glück immer durch.

Die Story
Zunächst geht es in der Geschichte um Schuld und Sühne - wie passend für einen Roman, der in einer erzkatholischen Umgebung spielt.
Melody Shee lebt mit ihren 33 Jahren in einem irischen Dorf, in der Nähe von Limerick. Sie ist verheiratet und schwanger, jedoch nicht von ihrem Mann, sondern von ihrem 17-jährigen Nachhilfeschüler Martin. Martin ist ein Traveller (das irische Pendant zu unserem landläufigen Ausdruck "Zigeuner"). Pat, Melodys Mann verlässt sie natürlich - vielleicht schmeißt sie ihn auch raus. Sie zieht die Schwangerschaft durch, spielt jedoch mit dem Gedanken, sich umzubringen. Zu groß ist der Druck, dem sie ausgesetzt ist. Der Leser begleitet sie dabei von Schwangerschaftswoche zu Schwangerschaftswoche und nimmt teil an ihren Gedanken. Denn Melody erzählt ihre Geschichte aus der Ich-Perspektive.

Quelle: Diogenes
"Pat hatte Sex mit Prostituierten: Das ist Fakt. Ich hatte Sex mit einem Jugendlichen, einem Schutzbefohlenen: Auch das ist Fakt. Welche Worte hätten etwas an der Tatsache ändern sollen, dass wir zu solchen Dingen fähig waren? Menschen tun einander Schlimmeres an, aber viel schlimmer wird es nicht. Wir haben Greueltaten begangen. In unserem Einfamilienhaus hat ein Holocaust stattgefunden, eine Auslöschung der Liebe."
Da Melody in einer erzkatholischen Kleinstadt lebt, bleibt der Skandal nicht lange verborgen. Es wird nicht nur hinter Melodys Rücken getratscht. Sie wird auch öffentlich angefeindet. Die junge Frau durchlebt einen Zwiespalt. Sie fühlt sich hin- und hergerissen zwischen den Gedanken, sich umzubringen, das Baby zu bekommen, sich wieder mit ihrem Mann zu versöhnen. Auslöser für diesen Zwiespalt ist nicht ihre Schwangerschaft, sondern ihr bisheriges Leben. Als junge Frau hat man es nicht leicht in diesem Umfeld. Das Sagen haben die Männer und deren Mütter. Denn Wert und Ansehen einer Frau steigen mit ihrer Mutterschaft. Melody ist schon immer angeeckt, weil sie sich mit der Einflussnahme der Gesellschaft auf ihr Leben nicht abfinden wollte. Genauso wenig wie sie sich mit dem ihr vorbestimmten Leben als Mutter und Ehefrau nicht abfinden will.
Der junge Traveller ist mittlerweile weitergezogen. Melody lernt ein junges Mädchen aus seinem Clan kennen - Mary -, die einen ähnlichen schweren Stand in ihrer Gemeinschaft hat wie Melody in ihrer Kleinstadt. Melody nimmt sich ihrer an. Die beiden Frauen geben sich gegenseitig Kraft, eine Freundschaft entwickelt sich.
So ganz nebenbei erhält die Geschichte dadurch neue Impulse. Denn der Autor intensiviert seine Darstellung der Gemeinschaft der Traveller. Und plötzlich befindet man sich mitten in einem Streit zwischen Traveller-Clans, die ihre Konflikte nach ihren eigenen Gesetzen lösen. Und Melody und Mary befinden sich mittendrin.

Die Protagonistin
Melody ist nicht nur die junge Frau, die gegen Sitte, Moral und Anstand verstößt. Nein, ihre Erinnerungen, mit denen sie den Leser konfrontiert, zeigen, dass sie in ihrer Jugend Schuld auf sich geladen hat. In einem Moment der Schwäche hat sie einen Verrat begangen, der entsetzliche Folgen hatte. Mit dieser Schuld muss Melody nun leben. Wer sich schuldig fühlt und ertappt wird, neigt dazu in Abwehrhaltung zu gehen. Melodys darauf folgendes Leben ist eine einzige Abwehrhaltung. Sie setzt sich gegen alles zur Wehr: ihre Umgebung, das für sie vorbestimmte Leben, ihren Ehemann Pat. Trotz einer Heirat aus Liebe wird der Ehealltag zum Kriegsgebiet. Sie ist kein einfacher Mensch, ihre Gefühlsausbrüche sind zum Fürchten. Pat kann ihr nichts Recht machen, auch wenn er es unbedingt möchte - was Melody noch mehr antreibt, ihn ihren Frust über ihr Leben spüren zu lassen.
Melody ist auch keine einfache Protagonistin. Sie gehört sicher nicht zu denen, die man vor lauter Sympathie ins Herz schließen wird. Bestenfalls entwickelt man Mitleid aufgrund des Drucks, den sie durch ihre Umgebung erfährt. Doch man kommt ihr langsam näher. Denn je tiefer man in ihre Gedanken eintaucht, umso mehr wird man sie verstehen.
"Ich zischte meine Antwort durch zusammengebissene Zähne. Ja, Pat, bist du. Du bist absolut ekelhaft. Und da war es, ausgesprochen und gehört, gemeint und geglaubt, und es würde nie wieder erschütternd sein, und ab diesem Punkt hinderte uns nichts mehr daran, uns jeder Gemeinheit, jeder Schlechtigkeit hinzugeben; unsere Sprache verkam. Wir suhlten uns darin. Wir ließen unsere Wut zu einem wahnsinnigen lebendigen Biest werden. Sie wurde unser Kind, unser fleischgewordener Schmerz."
Die Sprache
Donal Ryan hat einen sehr plakativen und kraftvollen Sprachstil. Er lässt Bilder im Kopf entstehen, die bedrückend, sogar schwermütig sein können. Dies gelingt ihm, indem er seine Sprache mit Vergleichen und opulenten Beschreibungen arbeiten lässt, die einen starken Kontrast zu dem Geschehen bilden. Es entsteht ein bildgewaltiges Kopfkino, dessen Stimmungen sich auf den Leser übertragen. Mich hat seine Sprache fasziniert, und ich hoffe, diesen Stil auch in weiteren seiner Romane zu finden.

Fazit:

Eine unglaubliche Geschichte, erzählt in einer unglaublichen Sprache. Unbedingt lesen!

© Renie





Über den Autor:
Donal Ryan, geboren 1976 in Nenagh, Tipperary, studierte Bauingenieurwesen und Jura; er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Castletroy, Limerick. Für ›Die Gesichter der Wahrheit‹ wurde Ryan mit dem Irish Book Award, mit dem Guardian First Book Award und dem European Union Prize for Literature ausgezeichnet. (Quelle: Diogenes)