Schon mal darüber nachgedacht, was mit Büchern geschieht, die nicht verkauft werden? Ein Großteil dieser Bücher erwartet ein grausames Schicksal: sie werden recycelt. Nun sollte man meinen, dass Recycling etwas Positives ist, von wegen Material, das wiederverwertet wird. Jedoch nicht für den Bibliophilen! ;-)
Für einen Bibliophilen ist der Vorgang des Recyclings von Büchern grausam. Man stelle sich all die Bücher vor, die LKW-weise in eine gigantische Maschine gekippt werden und dort mit einem Höllenlärm zerfleddert, zerhächselt, zermatscht werden. Mich schüttelt’s bei dieser Vorstellung.
Leider gibt es Menschen, die den lieben langen Tag nichts anderes machen, als Bücher zu zerstören- ganz einfach, weil es deren Beruf ist. Guylain Vignolles ist einer davon… und er hasst seinen Beruf.
„Fett und bedrohlich thronte die Bestie mitten in der Werkhalle. Ja, ‚die Bestie‘: Über fünfzehn Jahre arbeitete Guylain nun schon in der Fabrik, aber bis heute weigerte er sich, ihren richtigen Namen laut auszusprechen, denn irgendwie glaubte er, dass er damit ihre Gräueltaten gutheißen würde, und das wollte er wirklich unter keinen Umständen. Sie nicht bei ihrem wahren Namen zu nennen war für ihn eine Art Schutzwall, der ihn davor bewahrte, ihr auch noch seine Seele zu verkaufen. Nein, das durfte nie geschehen: Die Bestie musst sich mit der Arbeit seiner Hände begnügen.“ (S. 22)
Guylain Vignolles liebt Bücher. Unglücklicherweise arbeitet er in einer Papierverwertungsfabrik. Leider kann man sich nicht immer aussuchen, wie man seinen Lebensunterhalt verdient. Guylain ist ein schüchterner und unscheinbarer Typ. Doch er hat ein Geheimnis. Jeden Tag gelingt es ihm, dieser grausamen Maschine, die seine Lieblinge zerstört, heimlich ein paar Blätter zu entreißen. Und jeden Morgen im Regionalzug auf dem Weg zur Arbeit liest er seinen Mitreisenden aus diesen Seiten vor. Egal, worum es in diesen Texten geht – Roman, Kochbuch, Reiseführer – seine Mitreisenden lieben ihn dafür.
Guylain sitzt immer auf dem gleichen Platz in dem Zug. Eines Tages findet er vor seinem Sitz einen USB-Stick, den er an sich nimmt. Und mit dem Inhalt dieses Sticks ändert sich sein Leben von Grund auf.
„Als der Zug in den Bahnhof einfuhr und die Leute ausstiegen, wäre einem aufmerksamen Beobachter sicher nicht entgangen, dass Guylains Zuhörer an diesem Montagmorgen eindeutig aus der Masse herausstachen. Ihre Mienen waren nicht undurchdringlich oder missmutig wie die der anderen Pendler, nein, sie alle wirkten wie frisch gestillte Säuglinge: satt, glücklich und rundherum zufrieden.“ (S. 179)
Dieses Buch erinnert mich an ein modernes Märchen. Es gibt ein "Monster", es gibt "Schurken" und es gibt die "Guten". Und gerade die Guten haben es mir angetan. Sie haben eines gemeinsam. Zunächst wirken sie sehr unscheinbar und bescheiden. Sie kommen aus einfachen Verhältnissen und lieben es nicht, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Sie sind sehr schüchtern und sind es nicht gewohnt, Beachtung zu finden. Den lieben langen Tag sind sie der Willkür der Schurken ausgesetzt und müssen sich mit ihnen auseinandersetzen. Doch irgendwann schaffen sie es, sich über die Schurken hinwegzusetzen. Denn jeder hat etwas Besonderes an sich. Irgendwann im Verlauf der Handlung tritt diese Besonderheit zutage. Bei dem Einen ist es die Fähigkeit vorzulesen, bei einem Anderen ist es das Dichten oder das Schreiben von Geschichten. Egal, womit, aber sie schaffen es, ihre Mitmenschen und den Leser dieses Buches zu berühren. Und das macht sie zu etwas Besonderem.
„Vor ein paar Tagen habe ich entdeckt, dass es auf dieser Welt jemanden gibt, der eine erstaunliche Wirkung auf mich hat. Dieser Jemand lässt alle Farben heller leuchten, nimmt meinem Alltag seine Schwere, wärmt mich von innen, macht das Unerträgliche erträglicher, das Hässliche nicht ganz so hässlich und das Schöne noch viel schöner. Kurzum, dieser Mensch macht mein Leben lebenswert.“ (S. 219 f.)
Durch den interessanten Plot ist man von Anfang von diesem Roman gefangen. Aber nach der Hälfte fragte ich mich, worauf die Geschichte noch hinauslaufen kann. Ich hatte ein bisschen die Befürchtung, dass der Autor „sein Pulver bereits verschossen hat“. Aber dieses Buch steckt voller Überraschungen. Man ist verblüfft, auf welche Ideen der Autor noch kommt. Zum Ende entwickelt sich dieser Roman zu einem „Wohlfühlbuch“ – im positiven Sinne. Der angenehme Lesefluss trägt einen durch die Geschichte und ehe man es sich versieht, ist das Ende erreicht. Und mit dem Ende stellt man fest, dass man ein Lächeln im Gesicht hat und dieses Buch nichts anderes ist als märchenhafter Balsam für die Seele.
© Renie
Die Sehnsucht des Vorlesers
Autor: Jean-Paul Didierlaurent
Verlag: dtv
ISBN 978-3-423-26078-7
Jean-Paul Didierlaurent, 1962 in La Bresse/Elsass geboren, lebt nach Jahren in Paris nun wieder in seinem Heimatort und arbeitet im Kundencenter eines Telekommunikationsunternehmens.
1997 hat er zum ersten Mal zwei Erzählungen in getrennten Umschlägen bei einem Schreibwettbewerb eingereicht und gleich beide wurden prämiert. Nach etlichen preisgekrönten Kurzgeschichten hat er mit seinem Romandebüt nicht nur seine französische Verlegerin verzaubert, sondern gleich die gesamte internationale Verlagswelt:
›Die Sehnsucht des Vorlesers‹ ist innerhalb von vier Wochen in 26 Länder verkauft worden, und einer der größten französischen Kinoproduzenten hat sich zudem die Filmrechte gesichert.