Sonntag, 13. Dezember 2020

Florian L. Arnold: Die Zeit so still

Quelle: Pixabay/harutmovsisyan
Eine Stimmung wie bei Edgar Allan Poe, Lebensumstände wie bei George Orwells "1984", dazu eine Seuche, die an was wohl? erinnert. Mit anderen Worten: schaurig-schön und düster, bedrückend und realistisch ... das ist die Novelle "Die Zeit so still" von Florian L. Arnold.

Die Geschichte, welche der Autor erzählt, könnte in Kürze Wirklichkeit werden. Darum geht es:
Eines Nachts begegnen sich zwei Fremde in einer Straßenbahn. Der Eine ist der Fahrer der Bahn, der Andere ein Fahrgast - überhaupt der erste seit sehr langer Zeit. Denn in der Stadt, in der wir uns befinden, ist das öffentliche Leben zum Erliegen gekommen. Es herrschen Ausgangssperren. Die Menschen in dieser Stadt dürfen ihre Wohnungen nicht verlassen, denn eine tödliche Seuche wütet seit geraumer Zeit in dieser Gegend. Die Oberen dieser Stadt sahen sich gezwungen, einen Lockdown über die Stadt zu verhängen, der jenen, den wir selbst momentan in Corona-Zeiten erleben, als einen Wellness-Aufenthalt zuhause erscheinen lässt. In dieser Stadt werden die Menschen überwacht. Wer sich nicht an die Regeln hält, wird streng bestraft. 
Quelle: Mirabilis
"Anfangs war ja nicht alles von Grund auf anders geworden.
Das hätte ihm damals mal jemand sagen sollen:
daß das alles von Grund auf anders sein wird und daß es weichen wird, dieses anfängliche Amüsement in ihm über den so aufgeregten Tonfall allerorten und den Zorn der Befürworter harter Maßnahmen und den Zorn derer, die diese Maßnahmen ablehnten ..."
Wir wissen nicht, seit wann die Menschen in der Isolation leben müssen. Vermutlich sind es bereits Jahre. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Einer, der sich über die Ausgangssperre hinwegsetzt, ist der einsame Fahrgast der Straßenbahn. Das Aufeinandertreffen der beiden Protagonisten ist zunächst von Misstrauen geprägt. Zu groß ist die Furcht vor Denunziantentum. Doch im Verlauf der Nacht, in der die beiden Männer diese Stadt durchqueren, entwickelt sich das Misstrauen zu Nähe. Die Beiden beichten sich in dieser Nacht ihre persönlichen Geschichten.

Das Szenario, das wir hier erleben dürfen, erscheint surreal. Zwei Männer, die in einer beleuchteten Straßenbahn durch die stockdunkle Nacht fahren. In der Straßenbahn, auf engstem Raum, findet die Handlung in Form eines Gespräches statt. Außerhalb dieses erleuchteten Kokons herrscht Düsternis, die Stadt ist wie ausgestorben, als ob es hier kein menschliches Leben mehr gäbe. Das ist so schaurig, dass allein bei der Vorstellung dieses Szenarios der Adrenalinspiegel steigt. Und immer wieder ertappt man sich dabei, Parallelen zu unserer heutigen Zeit zu suchen.

Aber diese Novelle würde auch ohne den Bezug auf die realen Corona-Gegebenheiten funktionieren. Nicht umsonst habe ich zu Beginn meiner Besprechung den Vergleich zu Edgar Allan Poe herangezogen. Denn Stimmung und Szenerie haben große Ähnlichkeiten mit den Kurzgeschichten des Großmeisters der Schauerliteratur. Der Autor Florian L. Arnold erzeugt mit einer unglaublichen Sprachgewalt eine Stimmung, die einerseits beklemmend ist, aber dennoch durch die Bilder, die in der Phantasie entstehen, fasziniert.

Wenn man die erste Seite des Textes aufschlägt, wird man an ein sehr reduziertes Gedicht erinnert:
Im weiteren Verlauf finden sich kurze Textabschnitte, die sich jedoch mit der Zeit verdichten und kompakter werden. Diese Gestaltung ist geschickt gewählt, lassen sich doch hier Parallelen zu der Handlung sehen: aus der anfänglichen Isolation, die von Leere, Langeweile und Untätigkeit bestimmt ist - also einer erzwungenen reduzierten Lebensweise - wählt einer der Protagonisten (der spätere Fahrgast) einen Weg, der deutlich mehr zu bieten hat. Die Ereignisse, an denen er während seines Weges beteiligt ist, sind keineswegs besonders. Doch sie sind immer noch mehr als das Nichts, das er allein in seiner Wohnung hatte. Unser Protagonist kehrt also ins Leben zurück. Und gleichzeitig werden auch die einzelnen Textabschnitte dieser Novelle großzügiger. Dieses stilistische Mittel habe ich als ungewöhnlich empfunden. Und dafür hat es mich umso mehr begeistert.

Es gibt noch eine weitere Besonderheit in der Gestaltung des Textes: Die Novelle hat unzählige Randbemerkungen. Dies sind Textbruchstücke unterschiedlicher Quellen und können z. B. allgemeine Parolen der Behörden dieser Stadt sein, die im Zusammenhang mit der Seuche stehen, aber auch Funkmitschnitte, welche die Aktivitäten des Überwachungen dokumentieren oder einfach nur Gedanken, die unseren Protagonisten für einen kurzen Moment durch den Kopf schießen. Das ist einerseits originell und hat andererseits den Effekt, dass man sich intensiver mit der Geschichte auseinandersetzt, da man die einzelnen Randbemerkungen mit dem jeweiligen Handlungsstatus in Einklang bringen möchte.

Diese Ausgabe von "Die Zeit so still" ist von dem Autor Florian L. Arnold gestaltet worden. Sowohl die Illustration des Umschlags als auch die vorhandenen Schwarz-Weiß-Grafiken in diesem Buch stammen von ihm. Die Grafiken unterstreichen dabei perfekt die beklemmende Stimmung in diesem Buch genauso wie das Überwachungsszenario. Jede Grafik hat ein kreisrundes Format, das mich doch sehr an den überwachenden Blick durch ein Teleobjektiv erinnert hat

Fazit:
Die Novelle "Die Zeit so still" erzählt eine schaurig-schöne Geschichte, die dystopisch und unglaublich realistisch ist. Bemerkenswert ist dabei die Sprachgewalt des Autors genauso wie die ungewöhnliche Gestaltung dieses Buches. Es fällt mir schwer, mit meiner Rezension diesem Buch nur ansatzweise gerecht zu werden. Wer diese Geschichte nicht liest, dem entgeht etwas.

© Renie