Samstag, 22. Februar 2020

Alex North: Der Kinderflüsterer

Quelle: Pixabay

"Wenn die Tür halb offen steht, ein Flüstern zu dir rüberweht.
Spielst du draußen ganz allein, findest du bald nicht mehr heim. 
Bleibt dein Fenster unverschlossen, hörst du ihn gleich daran klopfen. 
Denn jedes Kind, das einsam ist, holt der Flüsterer gewiss."
Das beschauliche englische Örtchen Featherbanks wird die neue Heimat von Schriftsteller Tom Kennedy und seinem Sohn Jake (6). Jakes Mutter Rebecca ist im Jahr zuvor gestorben. Tom ist mit der alleinigen Erziehung seines Sohnes überfordert. In Featherbanks wollen Vater und Sohn neu anfangen und ins Leben zurückfinden.
Auch Featherbanks blickt auf eine traurige Vergangenheit zurück:
Vor etwa 20 Jahren ging hier der Kinderflüsterer um: ein sadistischer Serienmörder tötete mehrere kleine Jungs. Der Polizeibeamten Pete Willis konnte den Kinderflüsterer damals zur Strecke bringen. Der Mörder wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.
Kurz bevor Tom und Jake nach Featherbanks ziehen, verschwindet wieder ein kleiner Junge, Neil. Es gibt eine Gemeinsamkeit zum damaligen Fall: das Flüstern. Wochen vor seinem Verschwinden erzählte Neil, dass nachts vor seinem Fenster ein Monster war, das ihm durch die Dinge, die er ihm zugeflüstert hat, schreckliche Angst gemacht hat. Was als Albtraum eines Kindes abgetan wurde, scheint nun Wirklichkeit zu werden.
Auch diesmal wird Pete Willis in den Fall eingebunden. Die Ähnlichkeiten zu dem damaligen Fall des Kinderflüsterers sind einfach zu groß.
Quelle: blanvalet
"Es war unbeschreiblich. Er hatte eine Tür aufgeschoben, die er nie mehr würde schließen können, und eine Erfahrung gemacht, die nur wenige andere auf diesem Planeten je machten. Auf diese Reise konnte man sich weder vorbereiten, noch gab einem jemand praktische Tipps - es gab keine Landkarte, die einen hier hindurchmanövrierte. Die konkrete Tötungshandlung hatte ihn hinaus in ein unkartiertes Meer aus Emotionen katapultiert, in dem er jetzt dahintrieb."
In der Handlung findet ein ständiger Wechsel in der Erzählperspektive statt: Witwer Tom, Söhnchen Jake und der Polizeibeamte Pete Willis führen uns durch die Geschichte. Aber auch der anonyme Mörder gewährt dem Leser einen Einblick in seine dunkle Seele, was an diesen Stellen natürlich besonders unheimlich ist.
Nervenkitzel ist in diesem Thriller daher garantiert.

Neben dem Thrill steht auch die Vater-Sohn-Beziehung von Tom und Jake im Fokus. Tom muss trotz seiner Trauer als Vater funktionieren. Plötzlich muss er lernen, Jakes Alltag allein zu organisieren. Er ist überfordert mit dieser Aufgabe. Leider macht Jake es ihm nicht leicht. Der Kleine ist verschlossen, zeigt Verhaltensweisen, die Tom irritieren und mit denen er nur sehr schlecht umgehen kann. Jake hat eine Fantasiefreundin. Ein kleines Mädchen, das scheinbar nur in seinem Kopf existiert, ist seine enge Vertraute. Jake tut sich schwer damit, Kontakt zu anderen Kindern zu knüpfen. Sei es aus Trauer oder aus anderen Gründen. Nichtsdestotrotz versuchen Vater und Sohn zusammenzuhalten. Denn egal wie irritierend Jakes Verhalten manchmal für Tom ist, die beiden lieben sich abgöttisch.

Durch die Perspektive des Polizeibeamten Pete Willis blicken wir in die Vergangenheit und auf den damaligen Fall des Kinderflüsterers. Pete ist ein disziplinierter Mensch, dessen Leben von Routinen bestimmt ist. Er steht kurz vor der Pensionierung und ist trockener Alkoholiker. Er hat mit Ereignissen aus seiner Vergangenheit zu kämpfen, die ihm Albträume bescheren und sein Leben immer noch beeinflussen. Der damalige Fall des Kinderflüsterers lässt ihn nicht los. 
"Jake und ich liefen durch das Haus, rissen Türen und Schränke auf, schalteten Lampen an und wieder aus, zogen Vorhänge auf und zu. Unsere Schritte hallten von den Wänden wider; davon abgesehen herrschte immer noch Stille. Noch während wir uns von Zimmer zu Zimmer vorarbeiteten, wurde ich das Gefühl nicht los, als wären wir nicht allein. Als würde irgendwer um einen Türrahmen spähen, wenn ich mich nur im richtigen Moment umdrehte. Es war ein blödsinniges, irrationales Gefühl, aber es war nun mal da."
Alex North beherrscht das Thriller-Handwerk par excellence. Denn die Handlung dieses Romans wird von Anfang bis zum Ende von einem unterschwelligen Grusel begleitet. Es gibt diese großartigen Thriller-Momente, die andeuten, dass schreckliche Dinge passieren werden und mich beim Lesen in eine angespannte Lauerstellung versetzten. Das ist genau das, was ich von einem guten Thriller erwarte.

Was ich bei einem guten Thriller nicht benötige, sind blutrote plakative Gewaltorgien. Die findet man hier auch nicht. Bevor ich mich für diesen Roman entschieden habe, war ich mir nicht sicher, ob ich mit Morden und Gewalt an Kindern umgehen kann. Darin geht es schließlich in diesem Roman. Doch Alex North verzichtet auf die Beschreibung der Todesumstände der Kinder. Das hat er nicht nötig. Er deutet nur dezent an, der Rest spielt sich im Kopf des Lesers ab. Daher bleibt jedem selbst überlassen, wieviel Raum er seinen Fantasien geben möchte.

Fazit:
Unglaublich spannend, das Kopfkino läuft auf Hochtouren. Leseempfehlung!

© Renie