Freitag, 12. April 2019

Manichi Yoshimura: Kein schönerer Ort

Quelle: Pixabay/werner22brigitte
"Das Haus hatte einen kleinen Garten."
Dies ist der erste Satz der Erzählung "Kein schönerer Ort" des japanischen Autors Manichi Yoshimura. Und dieser hübsche Satz führt den Leser aufs Glatteis. Wenn eine Geschichte mit solch einem "Wohlfühl"-Satz beginnt, erwartet man eine schöne Geschichte, durchtränkt von Harmonie und Idylle. Wenn die Ich-Erzählerin  dann auch noch ein  entzückend naives 11-jähriges Mädchen ist, möchte man mit viel Wohlbehagen in diese Geschichte eintauchen.
Doch Manichi Yoshimura lässt seine Protagonistin alles andere als eine niedliche Kindergeschichte erzählen. Es braucht allerdings einige Seiten, bis man begreift, dass hier etwas nicht stimmt. Zunächst tauchen kleine Ungereimtheiten auf, man beginnt gewisse Dinge zu hinterfragen, man fühlt sich an manchen Textstellen unbehaglich. Und auf einmal wird aus der Wohlfühl-Geschichte eine Geschichte, die betroffen macht und man fragt sich, ob das, was hier geschildert wird, wirklich so passiert ist oder passieren könnte.

Doch worum geht es in dieser Erzählung?
Die 11-jährige Kyoko lebt allein mit ihrer Mutter in einer Wohnung in Umizuka. Kyoko ist ein sehr fantasievolles Kind, scheint aber in der Schule eine Außenseiterin zu sein. Die Mutter versucht, sich und ihre Tochter mit mehreren Jobs durchzubringen. Den größten Teil des Tages arbeitet sie, daher ist Kyoko oft allein. Die Mutter ist merkwürdig. Sie ist streng, kritisiert und beobachtet ihre Tochter ständig. Sie scheint einen Putzfimmel zu haben. Dazu ist sie stark übergewichtig, was wohl an der schlechten Ernährung liegt, die sie sich und ihrer Tochter zumutet.
"Mutter aß auch das Fleisch und das Gemüse, das sie im Supermarkt kaufte nicht. Sie sagte immer, sie würde es 'der Einrichtung' spenden, aber zu dem Zeitpunkt wusste ich schon, dass sie es wegwarf. Im Supermarkt fühlte sie sich beobachtet und kaufte deshalb wohl oder übel diese Sachen, warf die Frisch- und Freilandprodukte hinterher aber alle weg. Und das, obwohl wir so arm waren! Ich wusste, dass sie ihre Gründe dafür hatte, fand es aber auch übertrieben." 
In Umizuka muss vor einiger Zeit ein Unglück geschehen sein, das die Einwohner jedoch eng zusammengeschweißt hat. Denn in Umizuka wird der Gemeinschaftssinn gepflegt. Die Bewohner sind stolz auf ihre Stadt und stolz darauf, dazugehören zu dürfen. Doch wird man den Eindruck nicht los, dass diese Einstellung von den örtlichen Behörden und Organisationen forciert wird. Fast schon gehirnwäschegleich werden die Menschen in jeder Lebenslage mit dem Wohlfühl-Spirit Umizukas berieselt.

Innerhalb dieses Szenarios begleiten wir Kyoko über einen kurzen Zeitraum, vielleicht von ein paar Wochen, in dem sie mit Freuden dazugehören möchte, in dem sie feststellt, dass ihre Mutter nur notgedrungen an dem Gemeinschaftsleben Umizukas teilnimmt und in dem viele Menschen erkranken bzw. sterben.

Das Leben in Umizuka scheint also sehr speziell zu sein, und nicht ganz ungefährlich. Und das, aus der naiven Sichtweise einer Schülerin erzählt, gibt dem Ganzen noch einen besonderen Kick, der das Unbehagen beim Lesen steigert. Denn Kyoko nennt die Dinge nicht beim Namen. Sie deutet in ihrer kindlichen Art an, so dass man zwischen den Zeilen liest und vieles dazu dichtet.

Und wenn man dann noch im Klappentext liest, dass der Autor diese Erzählung aus Anlass der Reaktorkatastrophe in Fukushima (11.03.2011) geschrieben hat, wird einem so einiges klar. Und die Geschichte nimmt auf einmal erschreckend reale Züge an. Und das gilt es erst einmal zu verdauen.

Leseempfehlung!

© Renie