Montag, 26. November 2018

Eckhart Nickel: Hysteria

Quelle: Pixabay/pixel2013
"Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht."
Dies ist der erste Satz aus Eckhart Nickels Roman "Hysteria".
Nun ja, wenn's nur die Himbeeren wären. Aber mit der ganzen Geschichte stimmt etwas nicht.
Dieser Roman ist eine Dystopie, ist aber ganz dicht an unserer Gegenwart dran.

Worum geht es in diesem sehr speziellen Roman?
Die Künstlichkeit hält Einzug in unser Leben. Was heutzutage z. B. die Tomaten sind, die nicht mehr nach Tomaten schmecken, aber dafür wie gemalt aussehen, ist in diesem Roman das kleinste Übel. Denn hier wird die "Verbesserung" von Lebensmitteln fast schon als Kunstform betrieben und beeinflusst unser Leben. Das vorrangige Ziel dieser "Verbesserung" ist die Wahrung unserer Natur. Die Natur und deren Produkte werden künstlich nachempfunden, um so nicht auf die natürlichen und begrenzten Ressourcen zurückgreifen zu müssen. Aber wenn dies so einfach wäre. Natürlich gibt es durchaus vernünftige Ansätze. Aber vieles, was entwickelt wird, weist mehr oder weniger offensichtliche Mängel auf. Da ist der wässrige Geschmack der Tomate durchaus noch zu tolerieren. 
Quelle: Piper
"'... Eine hochmoderne Arche Noah, ein multidimensionales Terrarium mit allen Tier- und Pflanzenarten der lebendigen Welt. Jede Spezies hat ihre Nische, ihren Raum, ihr ureigenes Biotop. .. Und wie schön unsere Kreaturen sind! Sie werden sprachlos sein, weil Sie ihresgleichen nicht einmal in alten Büchern oder Filmen jemals so gesehen haben. Und alles ist wirklich und lebendig.... das Beste beider Welten. Absolute Vollkommenheit und absolute Natürlichkeit friedlich vereint. Ein Meisterwerk, fraglos.'"
Es gibt da dieses "Kulinarische Institut", das federführend in der Disziplin der "Künstlichkeit" ist. Zum Einen hat es sich auf die Fahne geschrieben, Perfektion bei der Nachbildung zu erlangen. Zum Anderen sieht es sich auch als Bewahrer der Natur. 
Und in diesem Institut passieren scheinbar mysteriöse Dinge.

Das zum Rahmen der Handlung. Der Roman beginnt mit Himbeeren und Bergmann. Bergmann ist der Ich-Erzähler dieses Romans, der auch den Zustand der Beeren in Frage stellt. Er ist hypersensibel, d. h. seine Sinneswahrnehmungen sind stärker ausgeprägt als bei anderen Menschen. Dadurch nimmt er Reize und Veränderungen in sehr extremer Weise auf.
So, wie Bergheim die Geschichte schildert, kommt er fast schon autistisch rüber, was das Lesen nicht einfach macht. Er ist dermaßen auf die Reize seiner Umwelt konzentriert, dass er diese auch in den kleinsten Details schildert.
Bergmann landet nun in diesem Institut. Aber warum er dort landet, ist mir nicht klargeworden. Hat es an den Himbeeren gelegen? Keine Ahnung. Er ist auf jeden Fall irgendetwas auf der Spur. Was er jetzt sucht, wird bis zum Ende des Romans nicht deutlich. Was den Eindruck der autistischen Schilderungen angeht, haben diese im weiteren Verlauf des Romans keinen Bestand, genausowenig, wie Bergmanns Hypersensibilität. Die tritt tatsächlich in den Hintergrund. Einerseits wurde das Lesen dadurch leichter, andererseits fand ich es schade, dass dieser wichtige Aspekt des Protagonisten vernachlässigt wurde. 
"Bergheim fiel wieder einmal auf, wie gut sauber gehaltenen Tiefgaragen rochen. Der Geruch von Waschmittel verband sich mit Benzin, einer Note von Wandfarbe und frisch verputztem Zement. Hier war auch noch Magnesium im Spiel. Falls ihn jemand fragen sollte, wie seine Wohnung im Idealfall zu riechen habe, dann so reinlich wie hier."
Wer allerdings glaubt, dass die Handlung sich von jetzt an auf die Aufdeckung des Geheimnisses um das Institut konzentriert, liegt falsch. Denn tatsächlich besteht der größte Teil des Romans aus Erinnerungen des Protagonisten Bergmann an seine Studentenzeit. Und, oh Wunder, in dem Institut läuft er seiner Studentenliebe und einem Freund aus dieser Zeit über den Weg. Die beiden sind in irgendeiner Form in die geheimnisvollen Geschehnisse in dem Institut involviert. Die Welt ist klein. 

Im letzten Viertel des Romans geht es dann endlich zur Sache. Hier kommt dann auch Spannung auf, und es gibt so etwas wie einen Showdown. Das Geheimnis wird gelüftet, hat aber vermutlich wenig damit zutun, dass Bergheim in dieses Institut gegangen ist. 

Insgesamt lässt sich sagen: Eine gute Idee, die vom Autor schlecht umgesetzt wurde. "Der geheime Einzug der Künstlichkeit in unsere Welt" ist ein sehr interessantes Thema, finden sich doch bereits viele offensichtliche Ansätze in unserer heutigen Welt. So geheim ist dieser Einzug daher eigentlich nicht. Aber, egal. Leider legt der Autor den Fokus auf Bergheim und seine Erinnerungen. Der dystopische Gedanke liefert dabei lediglich den Rahmen. Bergmann ist für mich jedoch nicht greifbar. Anfangs der Eindruck des autistischen Verhaltens, zwischendurch ein Mensch, der sich mit seinen Erinnerungen beschäftigt, die zwar künstlich, durch irgendein Zauber-Gadget hervorgerufen werden, aber dadurch immer noch ein lang andauernder Rückblick auf die Vergangenheit bleiben. Und zum Ende entwickelt Bergmann heldenhafte Anwandlungen. Das ist mir zu diffus. Dieser Roman hat für mich zuviele Ansätze, die nicht konsequent weiterverfolgt werden. 

Dieser Roman hat es zwar auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2018 geschafft.  Dennoch konnte er mich nicht überzeugen. Schade!

© Renie



Über den Autor:
Eckhart Nickel, geboren 1966 in Frankfurt/M., studierte Kunstgeschichte und Literatur in Heidelberg und New York. Er gehörte zum popliterarischen Quintett »Tristesse Royale« (1999) und debütierte 2000 mit dem Erzählband »Was ich davon halte«. Nickel leitete mit Christian Kracht die Literaturzeitschrift Der Freund in Kathmandu. Heute schreibt er vorwiegend für die FAS, die FAZ und ihr Magazin. Bei Piper erschien u.a. die »Gebrauchsanweisung für Portugal«. Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2017 wurde er für den Beginn von »Hysteria« mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet und war auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2018. (Quelle: Piper)