Donnerstag, 11. Mai 2017

Junichiro Tanizaki: Der Schlüssel

Er will, aber er kann nicht immer, meistens dann nicht, wenn sie will. Sie will immer, aber nie so, wie er will. Das Sexualleben von Ehepaaren kann kompliziert sein. Insbesondere, wenn man die Dinge nicht beim Namen nennt. So geschehen in dem Tagebuch-Roman "Der Schlüssel" von Junichiro Tanizaki, indem ein Ehepaar im Japan der 50er Jahre versucht, seine sexuellen Vorlieben in Einklang zu bringen.
Dieser Roman hat seinerzeit für Furore gesorgt, zumal Herr Tanizaki die Dinge beim Namen genannt hat, was so manchem Zeitgenossen die Schamröte ins Gesicht getrieben hat. Dies hatte zur Folge, dass in Japan ein Verbot dieses Romanes angestrebt wurde.

Auch wenn dieser Roman einem Leser heutzutage mit Sicherheit keine Schamröte ins Gesicht treiben wird, ist er doch prickelnd unterhaltsam und sehr besonders. Was sich anfangs als ein Konflikt zwischen zwei Eheleuten darstellt, entwickelt zum Ende fast schon kriminalistische Züge.

Zwei Eheleute - "der Professor" und seine Frau Ikuko - schreiben Tagebuch. Da sie nicht miteinander reden können, nutzen sie die Tagebücher als Mittel zum Zweck. In der Hoffnung, dass der Partner heimlich das Tagebuch des anderen liest, vertrauen sie ihrem Tagebuch ihre Wünsche und Gedanken an. Großes Thema der Tagebücher ist das Sexualleben der beiden Eheleute. Er und sie gehen unterschiedlich mit diesem Thema um. Sie ist die Schamhafte, geprägt von der Erziehung durch ein traditionsbewusstes Elternhaus. Ihre Scham verbietet ihr, über dieses Thema zu sprechen. Er respektiert zähneknirschend ihre Zurückhaltung und versucht, ihr in seinem Tagebuch seine erotischen Wünsche und Träume zu vermitteln. Das Tagebuch wird somit zum probaten Mittel der Erotik-Kommunikation.
"OBWOHL WIR SEIT ÜBER ZWANZIG JAHREN VERHEIRATET SIND UND EINE TOCHTER HABEN, DIE IM HEIRATSFÄHIGEN ALTER IST, IST MEINE FRAU IM BETT IMMER NOCH STUMM WIE EIN FISCH, WECHSELT NICHT DAS KLEINSTE WORT MIT MIR. IST DAS EIN EHEPAAR? ICH SCHREIBE DAS, WEIL ICH DIE FRUSTRATION DARÜBER, DASS MIR JEDE GELEGENHEIT VERWEHRT WIRD, MIT IHR DIREKT ÜBER SCHLAFZIMMERDINGE ZU SPRECHEN, MICHT MEHR ERTRAGEN KANN." (S. 10)
Sie spricht zwar nicht über Sex, doch ihr Liebeshunger ist fast unstillbar. Sie fordert ihren Mann, wann immer er kann. Doch mit den Jahren kann er nicht immer. Das Schritthalten mit seiner Frau fällt ihm schwer, zumal seiner Standfestigkeit auch die nötigen Anreize fehlen.

Mit dem Äußern seiner Vorlieben im Tagebuch erhofft er sich, dass seine Frau auf ihn eingeht. Nur blöd, wenn sie ihm einen Strich durch die Rechnung macht, indem sie zwar von seinem Tagebuch magisch angezogen wird, jedoch ihre Neugier im Griff hat.
"Halb hasse ich meinen Mann, halb liebe ich ihn. Eigentlich passen wir nicht zusammen, aber deshalb suche ich mir nicht einfach einen anderen. Der Grundsatz der ehrsamen Ehefrau ist so tief in mir verankert, dass ich mich nicht darüber hinwegsetzen kann." (S. 24)
So wird spekuliert. Hat sie oder hat sie nicht in seinem Tagebuch gelesen? Genauso wenig wie sich sagen lässt, ob er in ihrem Tagebuch liest. Die beiden scheinen sich im Kreis zu drehen. Anstatt miteinander zu sprechen, machen sie die Kommunikationsprobleme mit sich selber aus. Beliebte Fragen sind dabei: Was meint er/sie jetzt mit dem, was sie sagt? Ist seine/ihre Aussage ernst gemeint? Er /sie muss doch etwas anderes mit seinem/ihrem Verhalten bezwecken? Nur was?
Das Miteinander der beiden basiert sozusagen auf wackeligen Spekulationen.

Ein wesentlicher Ansporn für die Standfestigkeit des Professors ist seine Eifersucht. Da kommt ihm der gut aussehende Verlobte der gemeinsamen Tochter gerade recht. Er treibt seine Frau in die Arme des Schwiegersohns in spe und befeuert seine Libido mit seiner Eifersucht.

So wird die Handlung ein flottes Hin und Her der Spekulationen zwischen den einzelnen Charakteren: wer mit wem, und ob überhaupt. Durch die Tagebucheinträge des Ehepaares, kommt der Leser in den Genuss, die Handlung aus zwei Sichtweisen mitzuerleben. Diese Sichtweisen stimmen jedoch nur in den wenigsten Punkten überein. Die Eheleute sind sich einfach mit den Jahren fremd geworden und tun sich schwer damit, sich in den anderen hineinzuversetzen.
"ALLERDINGS WIRD SIE, JE MEHR ICH BETONE NICHTS GELESEN ZU HABEN, NUR DENKEN, ICH HÄTTE DOCH GELESEN. SO IST SIE. UND DA SIE DOCH NUR GLAUBT, ICH HÄTTE IHR TAGEBUCH GELESEN, OBWOHL DEM NICHT SO IST, KÖNNTE ICH ES EBENSOGUT TATSÄCHLICH LESEN, DOCH DAS TUE ICH AUF KEINEN FALL." (S. 68)
Im Verlauf der Handlung macht jeder der Charaktere eine interessante Entwicklung durch.

Der Professor, mit dem man anfangs Mitleid haben kann, verliert an Sympathiepunkten, da er scheinbar nur noch hormongesteuert handelt und sich in seinem Eifersuchtswahn verliert.

Ikuko tut die Verbindung zu dem Schwiegersohn gut. Sie scheint selbstbewusster zu werden und sich von den, durch ihre Erziehung auferlegten Moralvorstellungen zu lösen, was sich auch an Äußerlichkeiten bemerkbar macht. Ihr Kimono wird durch ein schickes Kostüm abgelöst.

Der Schwiegersohn entwickelt sich vom gutaussehenden Frauentraum zu einem Liebhaber, der Sehnsucht nach seiner Liebsten hat, aber den das schlechte Gewissen gegenüber ihrem Ehemann plagt. Stellt sich nur die Frage, warum er kein schlechtes Gewissen gegenüber seiner Verlobten hat.

Seine Verlobte , also die Tochter von Ikuko und ihrem Gatten, war für mich von Anfang bis zum Ende des Romanes ein einziges Rätsel. Sie macht bei dem Verwirrsspiel mit und hält quasi die Hand über dem Techtelmechtel ihrer Mutter und ihrem Verlobten. Einerseits scheint sie dieses Possenspiel ihrer Liebsten abzuschrecken, andererseits mischt sie jedoch fleißig mit. Ein Verhalten, das für mich nicht nachvollziehbar ist. 

Die vorliegende Ausgabe des cass verlags ist im Doppelpack übersetzt worden, was für mich sehr gelungen ist. Jürgen Stalph gibt die Einträge des Ehemannes wieder, von Katja Cassing stammt die Übersetzung von Ikukos Einträgen. So verleiht jeder der beiden Übersetzer seinem Part einen persönlichen Stil, was die Tagebucheinträge sehr authentisch macht. Es fällt leicht, sich innerhalb der Einträge zu orientieren, da auch die Schrift des Buches einen Unterschied zwischen Mann und Frau macht.

Fazit:
Ein ungewöhnliches Buch, insbesondere in Anbetracht der Zeit zu der es erstmalig veröffentlicht wurde. Was in den 50er Jahren die Gemüter erhitzt hat, trägt heutzutage eher zur Belustigung bei. Sehr unterhaltsam sind die Spekulationen, denen sich die Charaktere hingeben. Dadurch wir dieser Roman zu einem echten Verwirrspiel, das sich erst zum Ende hin aufklären wird. Leseempfehlung!

© Renie






Über den Autor:
Junichiro Tanizaki (1886–1965) war Mitglied der Japanischen Akademie der Künste, Träger des Kaiserlichen Preises für Dichtung und lange Jahre Nobelpreiskandidat. 1956, im Jahr seines Erscheinens, löste Kagi (»Der Schlüssel«) in Japan eine Pornographiedebatte aus. Tanizaki war damals siebzig. Zu dem vielfach geforderten Verbot des Romans kam es aber nicht. In den Folgejahren wurde das Werk in alle Kultursprachen der Welt übersetzt, auch mehrfach verfilmt. (Quelle: cass verlag)