Sonntag, 7. Februar 2021

Tea Ranno: Agata und ihr fabelhaftes Dorf

Honoré Daumier: Crispin et Scapin
Trivialliteratur und ich ... das geht selten gut. Der Titel des Romans "Agata und ihr fabelhaftes Dorf" der Italienerin Tea Ranno sowie dessen Covergestaltung verleiten zwar dazu, an Friede-Freude-Eierkuchen in ländlich-mediterraner Idylle zu denken. Doch ich habe mich darauf verlassen, dass ein Verlag wie Nagel & Kimche, den ich in den letzten Jahren als Herausgeber anspruchsvoller Literatur schätzen gelernt habe, sich etwas bei soviel Kreativität gedacht hat. 
Was hat es also mit dem scheinbar trivialen Roman auf sich?
Man ist schnell dahinter gestiegen, was einen inhaltlich in diesem Roman erwartet: Agata ist die frisch verwitwete Tabacchera eines sizilianischen Dorfes unserer Zeit und die Verkörperung des Feindbildes von Bürgermeister Pallante. Dieser herrscht in diesem Dorf wie ein Souverän. Die Dorfgemeinschaft ist in zwei Lager gespalten: diejenigen, die sich Pallante unterworfen haben und seine majestätischen Allüren sowie seine korrupten Machenschaften hinnehmen, nicht zuletzt, weil sie selbst davon profitieren. Und diejenigen, die gegen Pallante sind - allen voran Agata, deren Ehemann vor Kurzem verstarb. Seine Gesundheit hat bei den ewigen Auseinandersetzungen und Kämpfen, die er mit Pallante austragen musste, schlapp gemacht. 
Quelle: Nagel und Kimche
Dieser Roman erzählt nun die Geschichte der Kämpfe, die in diesem Dorf ausgefochten werden. Gut kämpft gegen Böse, die Lager werden gewechselt, der Souverän verliert an Einfluss und Macht. Über allem schwebt der Geist der Mafia sowie der heilige Geist. Denn was wäre ein sizilianischer Roman ohne Mafia und Kirche? Und am Ende siegt das Gute.
Das hört sich jetzt irritierend einfach an. Und ich gebe zu, dass ich eine Weile gebraucht habe, bis ich hinter das Rätsel dieses Romans gestiegen bin.
"Die Frauen sahen sich einen Augenblick verwirrt an, während der Hund nun den Pulcinella gab und sich quasi nach links und rechts verbeugte. Zwangsläufig musste man lachen."
Viele Dinge kamen mir bekannt vor, allen voran die Charaktere. Wir haben die schöne und kluge Agata sowie den bösen Bürgermeister. Wir haben jemanden, der sich alles herausnehmen darf, weil er geisterhaft an dem Geschehen teilnimmt. Wir haben Tollpatsche und Feiglinge, die immer die "Prügel kassieren", egal, ob sie Schuld haben oder nicht. Wir haben einen resoluten Pfarrer und wir haben einen Polizisten. Die Männer sind Machos und glauben, sie hätten zuhause das Sagen. Die Frauen wissen ihre weiblichen Reize den Männern gegenüber überzeugend einzusetzen und sind in Wirklichkeit diejenigen, die zuhause das Sagen haben. 
Und in diesem Dorf wird getratscht, was das Zeug hält. Es gibt nichts, was der Dorfgemeinschaft verborgen bleibt. Und wenn doch, wird wild spekuliert und "alternative Fakten" werden geschaffen. Die Gerüchteküche brodelt, was für irritierende Überraschungen sorgen kann. 
Die Menschen sind leidenschaftlich und temperamentvoll. Es wird geflucht, gelacht, geweint, geliebt. 

Dieses Temperament findet sich auch in dem Erzählstil dieses Romans wieder. Tea Rannos Sprache ist lebhaft und quirlig. So wenig wie ihre Charaktere ein Blatt vor den Mund nehmen, so wenig macht es Tea Ranno. Es kann daher auch schon mal derbe und frivol werden.
"Er weinte. Nicht männlich und nicht hochmütig, wie man es von einem Mann erwartet, der sich die Schwäche einiger verdrückter Tränchen zugesteht, nein: Wie ein Idiot heulte er, wie einer, der gerade noch gedacht hatte, die Welt gehöre ihm und alles würde nach seiner Pfeife tanzen, aber stattdessen muss er feststellen, dass er die Marionette in den Händen eines unheilvollen Puppenspielers ist."
Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht eines auktorialen Erzählers. Dadurch entsteht Distanz zu dem Geschehen in diesem Roman. Man blickt von Außen auf das Zusammenspiel der Charaktere. Das Dorf wird somit zur Bühne, der Leser wird zum Zuschauer.
Und damit wären wir beim casus knacksus dieses Romans. Tea Ranno hat mit "Agata und ihr fabelhaftes Dorf" einen Roman im Geiste der traditionellen italienischen Volkskomödie "Commedia dell'arte" geschrieben. Diese Kunstform hatte zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert ihre Blütezeit. Tea Ranno hat sie nun auf die Gegenwart adaptiert und ihr somit einen modernen Anstrich verpasst. Typisch für die Commedia dell'arte sind die immergleichen Charaktere, egal in welchem Stück wir uns befinden. So finden sich auch bspw. eine Colombina, ein Arlecchino und ein Brighella in Tea Rannos Roman - nur unter anderem Namen.

Die Stücke der Commedia dell'arte sind lustig, haben einen derben Humor und sind oftmals frivol. Die Geschichten sind einfach strukturiert, die Handlung ist vorhersehbar. Und am Ende siegt das Gute über das Böse. Streng genommen, haben wir es also bei der Commedia dell'arte mit trivialer Unterhaltung zu tun. Und ja, der Roman "Agata und ihr fabelhaftes Geheimnis" ist genauso trivial wie die Commedia dell'arte. Und indem die Autorin Tea Ranno einen offensichtlichen Bezug zu dieser Kunstform des traditionellen Theaters herstellt, wird dieser Roman zu etwas Besonderem - Trivialität hin oder her.
"Agata und ihr fabelhaftes Dorf" ist daher ein ungewöhnlicher Roman, der völlig anders ist, als es auf den ersten Blick erscheint: eine Commedia dell'arte in literarischer Form.

© Renie